Skip to main content
Erschienen in:
Buchtitelbild

Open Access 2023 | OriginalPaper | Buchkapitel

9. Wandel von Bürgerschaft? Ein Fazit zur Online- und Offline-Protestpartizipation

Aktivieren Sie unsere intelligente Suche, um passende Fachinhalte oder Patente zu finden.

search-config
download
DOWNLOAD
print
DRUCKEN
insite
SUCHEN
loading …

Zusammenfassung

Ziel dieser Arbeit war es, Folgen der Digitalisierung für die politische Protestpartizipation am Beispiel der Umweltschutz-Bewegung zu diskutieren und individuelle Voraussetzungen und Motive von Bürger*innen für eine Partizipation herauszuarbeiten. Dabei lag der Fokus insb. auf Ressourcen, Emotionen und Affekten, den konkreten Online- und Offline-Praktiken und den persönlichen Einstellungen der Individuen zu Straßenprotest, Online-Aktivismus und der Kritik des Clicktivism, sowie zum Verständnis von Bürgerschaft. Durch die Zusammensetzung des Samples mit älteren und jüngeren Interview-Partner*innen konnte untersucht werden, wie sich einerseits die konkreten Protestpraktiken einzelner Bürger*innen über die Jahrzehnte verändert haben, die früher nur Offline-Möglichkeiten zur Verfügung hatten und nun sowohl online als auch offline agieren können, und andererseits Digital Natives auf die Möglichkeit reagieren, sich sowohl im Netz als auch auf der Straße bzw. in Organisationen einbringen zu können. Die Erkenntnisse aus der Analyse des Interviewmaterials decken sich mit vielen in der bisherigen Literatur beschriebenen Forschungsergebnissen. Die vorliegende Arbeit kann jedoch auch relevante und notwendige Ergänzungen zum Thema beitragen und schlägt Überarbeitungen früherer Konzepte mit Blick auf die Auswirkungen der Digitalisierung vor. In der bisherigen Forschung nicht ausreichend berücksichtigt wurde z. B. das Thema Frustrationstoleranz.
Ziel dieser Arbeit war es, Folgen der Digitalisierung für die politische Protestpartizipation am Beispiel der Umweltschutz-Bewegung zu diskutieren und individuelle Voraussetzungen und Motive von Bürger*innen für eine Partizipation herauszuarbeiten. Dabei lag der Fokus insb. auf Ressourcen, Emotionen und Affekten, den konkreten Online- und Offline-Praktiken und den persönlichen Einstellungen der Individuen zu Straßenprotest, Online-Aktivismus und der Kritik des Clicktivism, sowie zum Verständnis von Bürgerschaft.
Bei der Betrachtung verschiedener Motive und Voraussetzungen für Partizipation auf der Individualebene spielten u. a. folgende Forschungsfragen eine wichtige Rolle: Warum engagieren sich einige Personen in Verbänden und Organisationen wie dem BUND, bei Straßenaktionen und lokalen, kleineren Projekten? Warum engagieren sich andere zusätzlich oder stattdessen lieber im Netz wie bspw. bei Online-Petitionen? Welche Ressourcen müssen vorhanden sein, damit sich Bürger*innen einbringen und wie hat das Internet den Zugang zu verschiedenen Ressourcen evtl. verändert? Welche Schlüsselmomente und Erfahrungen haben die Engagementbereitschaft gefördert und welche Motive befeuern gegenwärtiges Engagement? Welche konkreten Praktiken resultieren aus oben genannten Faktoren und welche Rolle spielt dabei die Einschätzung der jeweiligen Wirksamkeit einzelner Protestpraktiken online und offline?
Um den Wandel von Protestpartizipation im Zuge der Digitalisierung untersuchen zu können, wurde die Umweltschutz-Bewegung als Forschungsgegenstand gewählt, da es sich hierbei um eine seit Jahrzehnten bestehende Soziale Bewegung handelt, die traditionell auf Straßendemonstrationen und anderen Offline-Aktionen basiert. Durch die Zusammensetzung des Samples mit älteren und jüngeren Interview-Partner*innen konnte untersucht werden, wie sich einerseits die konkreten Protestpraktiken einzelner Bürger*innen über die Jahrzehnte verändert haben, die früher nur Offline-Möglichkeiten zur Verfügung hatten und nun sowohl online als auch offline agieren können, und andererseits Digital Natives auf die Möglichkeit reagieren, sich sowohl im Netz als auch auf der Straße bzw. in Organisationen einbringen zu können.
Die Erkenntnisse aus der Analyse des Interviewmaterials decken sich mit vielen in der bisherigen Literatur beschriebenen Forschungsergebnissen. Die vorliegende Arbeit kann jedoch auch relevante und notwendige Ergänzungen zum Thema beitragen und schlägt Überarbeitungen früherer Konzepte mit Blick auf die Auswirkungen der Digitalisierung vor. In der bisherigen Forschung nicht ausreichend berücksichtigt wurde z. B. das Thema Frustrationstoleranz. Die nun folgende Zusammenfassung und Diskussion der Ergebnisse orientiert sich an den Analyse-Kategorien Ressourcen, Bürgerschaftsverständnis, Ursprung von Engagementbereitschaft, Motive für gegenwärtige Partizipation, Emotionen und Affekte, Kollektive Identität, Mitgliedschaft und Einstellungen (zu verschiedenen Engagementformen).

9.1 Zusammenfassung und Diskussion der Forschungsergebnisse

Ressourcen
Übereinstimmend mit zahlreichen Forschungen aus den letzten Jahrzehnten nennen auch die Interview-Partner*innen dieser Untersuchung die Ressourcen Zeit und Geld als ausschlaggebende Faktoren für ihr zivilgesellschaftliches Engagement. Neben Organisations- und Kommunikationsfähigkeiten beschreiben sie jedoch auch PC-, Technik- und Internetkenntnisse als wichtige Voraussetzung für die Teilnahme an verschiedenen Protestpraktiken. Hier zeigt sich, dass ältere Ressourcenmodelle der Partizipationsforschung eine Überarbeitung hinsichtlich der Digitalisierung von Protestpartizipation benötigen. Während einige Interview-Partner*innen – und nicht nur Digital Natives – über solche Fähigkeiten verfügen, wissen andere, wie sie sich Unterstützung holen oder diese Technik umgehen können. Sie sind entweder nicht in der Lage, sich technische Fähigkeiten anzueignen oder tun dies bewusst nicht, weil sie kein Interesse daran haben oder keinen Nutzen darin sehen.
Auch der Zugang zu Information wird als wichtige Grundlage von Partizipation verstanden. Hier zeigt sich ebenfalls ein Wandel von Protestpartizipation im Zuge der Digitalisierung, denn Konzepte wie das Civic Voluntarism Model (Verba/Schlozman/Brady 1995) berücksichtigen Newsletter, online verfügbare Studien und Webseiten mit komprimiert zusammengefassten und aufbereiteten Informationen bisher nicht. Diese Kanäle ermöglichen Bürger*innen jedoch einen erleichterten Zugang zu und die Aneignung von Wissen und werden uneingeschränkt von allen Interview-Partner*innen genutzt.
Neben den schon genannten Ressourcen spielt auch ein aktives Netzwerk von Freund*innen, Kolleg*innen und Bekannten eine wichtige Rolle. Diese dienen den Interview-Partner*innen mit Expertenwissen als Vernetzungsmöglichkeit und mit einer Stärkung des Gruppengefühls als wertvolle Unterstützung für ihr Engagement. Auch ein Ortsbezug ist für viele Bürger*innen von Relevanz. Sich vor Ort einbringen zu können, bedeutet weniger Zeit und Geld (bspw. in eine lange Anreise) investieren zu müssen. Vor Ort haben sich viele ein aktives Netzwerk von Ansprechpartner*innen aufgebaut und können ihre Anliegen so direkter einbringen. Kontakte aus dem beruflichen Umfeld können ebenfalls eine wichtige Ressource darstellen. Dies stimmt mit der Annahme von Verba/Schlozman/Brady (ebd.) überein, dass manche Menschen nur inaktiv sind, weil sie niemand direkt gefragt hat, ob sie sich beteiligen möchten. Hier zeigt sich, dass persönliche (analoge) Netzwerke – häufig mit starkem Ortsbezug – trotz Digitalisierung immer noch eine wichtige Ressource für Engagement sind. Viele Bürger*innen beschreiben Kontakte aus der (früheren) Berufswelt, der Lokalpolitik oder zu Personen eines Ortsverbandes als wichtigen Einflussfaktor für ihre Partizipation. Digitale Medien spielen jedoch bei der Aufrechterhaltung dieser Kontakte eine Rolle.
Bürgerschaftsverständnis
Die meisten Interview-Partner*innen vertreten ein deliberatives Demokratieverständnis und die These, dass sich eine ‚gute‘ Demokratie dadurch auszeichne, dass möglichst alle Bürger*innen die Möglichkeit haben, sich in Debatten und Kommunikation auf Augenhöhe einzubringen. Einige kritisieren dabei jedoch auch, dass Politik ein zu komplexes Phänomen sei, als dass Bürger*innen in der Lage wären, hier autonome und gut informierte Entscheidungen treffen zu können. Gleichzeitig fordern manche mehr direktdemokratische Elemente oder ein ganz neues Wirtschaftssystem, welches Ehrenamt neben Arbeit und Freizeit als drittes und gleichwertiges Element anerkennt.
Etwa die Hälfte der Interview-Partner*innen versteht es als Pflicht, sich zivilgesellschaftlich zu engagieren. Einige vertreten zusätzlich dazu die Meinung, dass man immer bei sich selbst anfangen müsse und dass der Beitrag eines jeden Einzelnen zähle. Anders als im Konzept einer „dutiful citizenship“ (Bennett 2008) beziehen die Bürger*innen diese Pflicht jedoch nicht nur auf die Teilnahme an Wahlen, sondern auch auf zivilgesellschaftliche Partizipation. Dies ist ein wichtiges Ergebnis der vorliegenden Arbeit. Viele halten es nicht für ausreichend, alle vier Jahre ihre Stimme abzugeben, sondern möchten täglich an der Gestaltung von Gesellschaft mitwirken. Während einige der Interview-Partner*innen dabei neue, kreative Engagementformen wählen – dies betrifft insb. diejenigen, die besonders technik- und internetaffin sind, Mitgliedschaften grundsätzlich ablehnen, Engagement ganzheitlich verstehen oder Wert auf einen starken Alltagsbezug von Engagement legen – bleibt auch die klassische Mitgliedschaft bei Umweltorganisationen wie dem BUND für viele attraktiv.
Ein junger Interview-Partner beobachtet in seinem Freundeskreis, dass viele nicht wählen gehen und hofft, über neue Wege mehr Interesse an Partizipation wecken zu können. Er vermutet, dass über kreative und digitale Informations- und Partizipationsangebote („engaged citizenship“, Bennett 2008) junge Leute langfristig wieder einen Zugang zur Stimmabgabe bei Wahlen („citizen duty“, ebd.) finden. Alle 18 Interview-Partner*innen zeichnen sich durch unterschiedlich stark ausgeprägte Tendenzen einer „actualizing citizenship“ (ebd.) aus. Viele von ihnen verstehen Engagement als ganzheitliches Konzept, welches alltäglich gelebt und auf verschiedenste Situationen übertragen werden muss und welches über Wahlbeteiligung hinausgeht. In zwei Fällen basiert dieses Verständnis u. a. auf einem geringen Vertrauen in Politiker*innen und deren Entscheidungen. Mehrere Interview-Partner*innen sorgen sich um den großen Einfluss von Lobbygruppen und vermuten, dass Politiker*innen nach rein ökonomischen Interessen agieren.
Etwa die Hälfte beschreibt das motivierende Gefühl, direkt und sichtbar Einfluss nehmen zu können, meinungsbildend zu sein und positive Veränderung zu bewirken. Andere Bürger*innen nennen z. B. das Gärtnern als direkte Sichtbarmachung von Engagement. Solche Aussagen veranschaulichen Bürgerschaftsverständnisse einer „actualizing citizenship“ (Bennett 2008) oder Deweys (1988) Konzept einer Demokratie als „way of life“. Die wahrgenommene Offenheit eines politischen Systems für die individuelle Beeinflussung durch Bürger*innen ist laut Meinung einiger Gesprächspartner*innen insb. von Faktoren wie dem jeweiligen Thema und der Reichweite des Problems abhängig. Manche beschreiben darüber hinaus Schwierigkeiten, beurteilen zu können, was ihr einzelnes Engagement genau bewirkt hat und wie sie persönlich einen Unterschied machen können. Dies betrifft sowohl die Online- als auch Offline-Sphäre. Viele verknüpfen die Einschätzung zu ihrer Wirksamkeit mit Aspekten des Spaßes. Wer seine Fähigkeiten sichtbar einbringen kann und Spaß dabei hat, ist motiviert sich weiterhin zu engagieren. Während bisherige Konzepte die Einschätzung der Wirkkraft auf das politische System untersuchen, zeigt die Empirie dieser Untersuchung, dass auch Einschätzungen der Wirkung auf andere Bürger*innen und auf die Gesellschaft als Ganzes die Bereitschaft zu Partizipation und die Ausgestaltung der konkreten Praktiken beeinflussen. Überraschenderweise engagieren sich viele weiterhin – und dies sowohl in Bezug auf Online- als auch Offline-Praktiken – selbst, wenn sie das Gefühl haben, mit ihren Handlungen wenig zu bewirken oder nur Platz für andere Menschen zu machen (z. B.: Mit dem Rad fahren anstatt mit dem Auto, schafft nur Platz für die Autos anderer Menschen). Auf diesen Aspekt wird unter dem Stichwort Frustrationstoleranz im Abschnitt zu Emotionen genauer eingegangen.
Das Interviewmaterial hat darüber hinaus weitere Aspekte aufgezeigt, die in der bisherigen Forschung nicht ausreichend berücksichtigt werden. Viele Interview-Partner*innen streben ein ganzheitliches Handeln an, in dem sie Engagement und Job miteinander verbinden möchten oder sich aus diesem Grund für eine Teilzeitstelle entscheiden. Diese Bürger*innen fordern eine neue Zeiteinteilung, die neben Arbeit und Freizeit, individuelles Engagement als festen Bestandteil des täglichen Lebens anerkennt. Während Allmendinger (2021, 2017, 2010, 2009) insb. die Situation von Frauen und die Missstände in der Aufgabenverteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit zwischen Männern und Frauen, sowie in verschiedenen Altersstufen und Lebensverlaufsphasen untersucht, liegt hier der Fokus auf der Ausgestaltung und Wertschätzung der drei Lebensbereiche bezahlte Arbeit, Freizeit und Ehrenamt. Würde die Normalarbeitszeit – wie u. a. von Allmendinger (2016: 24) vorgeschlagen – grundsätzlich auf 32 Stunden pro Woche reduziert werden, würde dies nicht nur zu einer gerechteren Aufteilung von (bezahlter und unbezahlter) Arbeit in und für einen Haushalt führen, sondern neben mehr Zeit für die Familie auch bessere Möglichkeiten für ein Ehrenamt bieten.
Für das Selbstverständnis einiger Interview-Partner*innen ist außerdem wichtig – so ein weiteres Ergebnis dieser Arbeit – nicht immer nur ‚gegen‘ etwas zu sein, sondern auch mal ‚für‘ – z. B. beim Thema Atom und erneuerbare Energien. Eine solche positive Einstellung betont deutlicher die Erschaffung eigener Projekte und die aktive Gestaltung der Zukunft, anstatt sich nur auf die Verhinderung bestehender Missstände zu konzentrieren. Davon versprechen diese Bürger*innen sich eine positive Außendarstellung der Bewegung und hoffen, Abstumpfung durch Verzichtsempfehlungen und Katastrophenszenarien entgegenwirken zu können. Eine bereits von Crouch (2008) beschriebene Apathie gegenüber Politik kann folglich auch auf zivilgesellschaftliches Engagement übertragen werden. Einige Interview-Partner*innen beobachten auch im Bereich des Engagements Tendenzen der Abstumpfung und Lustlosigkeit. Es werden jedoch neue Strategien entwickelt, die ein explizit positives Bild der Bewegung zeichnen sollen – sowohl nach innen, sodass sich die Teilnehmenden bei der Protestpartizipation gut fühlen, als auch nach außen, sodass die Bewegung für potenziell interessierte Unterstützer*innen attraktiv wirkt.
Die Analyse des Bürgerschaftsverständnisses der Interview-Partner*innen hat außerdem deutlich gemacht, dass viele von ihnen eine deutliche Trennung zwischen praktischem Umweltschutz und gesellschaftspolitischem Engagement oder zwischen parteipolitischem und gesellschaftlichem Interesse vornehmen. Sie differenzieren stark zwischen Zivilgesellschaft und Politik bzw. unkonventionellen und konventionellen Formen der Partizipation. Kröten über die Straße zu tragen, wird anders eingeordnet als an einer Demo teilzunehmen. Die Empirie zeigt auch, dass sich Protestierende gegenwärtig zahlreichen Herausforderungen gegenübergestellt sehen, z. B. der Schwierigkeit, sich selbst immer an die eigenen Prinzipien zu halten, bei einer Vielzahl von Niederlagen nicht frustriert das Engagement einzustellen oder dem Versuch, aus dem bestehenden Wirtschaftssystem auszubrechen und eine eigene Zeiteinteilung in Bezug auf Beruf, Freizeit und Engagement zu finden. Etwaige Diskrepanzen zwischen dem eigenen Verhalten und den persönlichen Prinzipien könnten ein spannendes Forschungsfeld für zukünftige Untersuchungen darstellen.
Im Zuge der Digitalisierung hat sich für viele Bürger*innen die Rolle von Sichtbarkeit und Visualität geändert. Deutlich mehr Akteure können nun öffentlich (und digital) Inhalte platzieren und den politischen Diskurs so mitgestalten. Dies gilt sowohl für Individuen als auch für Organisationen, die dadurch unabhängiger von massenmedialen Gatekeepern agieren können. Bezüglich des Erfolgs einzelner Protestaktionen verstehen viele eine hohe Medienresonanz als Wirksamkeitsanzeiger mit Symbolcharakter.
Ursprung von Engagementbereitschaft
Die Analyse der Kategorie Ursprung von Engagementbereitschaft hat über viele Interview-Partner*innen verbreitete Muster aufgezeigt und dabei sowohl geschlechter- als auch generationenspezifische Eigenschaften verdeutlicht. Grundsätzlich prägten Eltern, Lehrkräfte und andere Vorbilder viele der Bürger*innen schon früh und legten damit einen wichtigen Grundstein für späteres Engagement im Bereich Umweltschutz. In der älteren Generation werden explizite Auslöser-Momente wie Kriege, Katastrophen und der Einfluss früherer Sozialer Bewegungen genannt. Alle älteren Interview-Partner*innen (60+) beteiligten sich in verschiedenen Intensitäten bereits in den 1980er Jahren in der Umweltschutz-Bewegung. Einen geschlechtsspezifischen Ursprungsmoment stellen der Vietnamkrieg (bei Männern) und eine Schwangerschaft während der Tschernobyl-Katastrophe bzw. grundsätzlich das Kinderkriegen (bei Frauen) dar. Insbesondere unter den jüngeren Interview-Partner*innen werden u. a. Reisen, konkrete Medien wie Bücher und Filme oder Meditationserlebnisse als Auslöser für Engagement genannt. Auch persönliche Betroffenheit, z. B. im Falle eines Missbrauchs oder wenn der Wohnort von hoher Lärmbelästigung und Verschmutzung betroffen ist, sowie individuelle Wertvorstellungen, können Engagement initial fördern.
Ein weiterer Aspekt, der in bisheriger Forschung unterrepräsentiert ist, von den Interview-Partner*innen jedoch häufig beschrieben wurde, ist der Zusammenhang zwischen einem für das Engagement im Umweltschutz relevanten Studium und dem Aktivismus selbst. Einige studieren oder studierten z. B. Politikwissenschaft, Biologie oder Umweltwissenschaften und haben aus dieser Erfahrung heraus ein verstärktes Interesse an Umweltschutz oder Partizipation entwickelt. Kenntnisse aus diesem Studium haben damit einen Grundstein für ihr zivilgesellschaftliches Engagement in der Umweltschutz-Bewegung gelegt. Damit sind – abgesehen von digitalen Medien wie Filmen – fast alle Engagementbereitschaft-fördernden Faktoren in der Offline-Sphäre verortet.
Motive für gegenwärtige Partizipation
Die Befunde der Analyse der Motive decken sich größtenteils mit Ergebnissen bisheriger Forschung und können darüber hinaus einige neue Faktoren benennen. Von vielen Befragten werden grundlegende Wertorientierungen wie die Erhaltung der menschlichen Lebensgrundlage und die Rücksicht auf spätere Generationen als Hauptmotiv für gegenwärtiges Engagement genannt. Auch persönliche Betroffenheit und ein verstärktes Interesse an einzelnen Themen können als Motiv für Partizipation benannt werden (Han 2009: 72 ff.) Wichtig sind darüber hinaus ebenfalls ein konkreter Ortsbezug oder, wie im Fall von Berlin, eine Nähe zum täglichen Politikgeschehen. Auch der Wunsch, einen persönlichen und starken Alltagsbezug zu einem Thema zu haben, veranschaulicht noch einmal, wie individuelles Interesse Partizipation begünstigt. Aus dem Interviewmaterial geht darüber hinaus noch eine weitere, neue Option hervor: Selbst eine Organisation zu gründen, dabei evtl. auch den Vorsitz zu übernehmen und mit dieser Organisation den eigenen Handlungsspielraum deutlich zu erweitern. Hier zeigt sich, dass für einige Bürger*innen das bestehende Partizipationsangebot nicht ausreichend ist und sie für sich selbst neue Optionen erschaffen möchten. Dabei scheint einerseits eine gewisse Unabhängigkeit wichtig zu sein, denn Gründer*innen übernehmen damit direkt eine einflussreiche, unabhängige und wirkungsstarke Position. Andererseits agieren diese Bürger*innen durch die Gründung jedoch wieder in einem Kollektiv und mehr oder weniger festen Organisationsstrukturen.
Während straßenprotestspezifische Motive insb. die Gemeinschaftsbildung, Einflussnahme und Sichtbarmachung politischer Anliegen betreffen, können als netzspezifische Motive besonders Aspekte der Mobilisierung, Informationsbeschaffung und des Netzwerkens genannt werden.1
Emotionen und Affekte
In der Analyse der Kategorie Emotionen hat sich gezeigt, dass Spaß als eigenständiges Motiv (vgl. Betz 2016) für zivilgesellschaftliches Engagement zu werten ist. Viele der Gesprächspartner*innen erzählen, dass sie sich bei Straßendemos u. a. deshalb einbringen, weil sie diese als spaßiges Happening verstehen, die Musik, Kostüme, Kreativität und das Zusammenkommen schätzen. Ähnliches zeigt sich auch bei starken emotionalen Bindungen an einzelne Orte und Organisationen, die lokal verwurzelt sind. Auch bei dem Wunsch nach Vereinbarkeit von Spaß und Beruf spielen Emotionen eine wichtige Rolle. Einige Interview-Partner*innen erzählen, dass sie am liebsten einem bezahlten Job im Bereich Aktivismus nachgehen würden oder nur einen Teilzeitjob haben, um daneben genügend Zeit für den Spaß an Aktivismus zu haben. Ebenfalls relevant ist die Bedeutung von zivilgesellschaftlichem Engagement für Ruheständler*innen und Pensionierte, die nach der Berufstätigkeit nochmal gefordert sein möchten und sich mit Spaß und Wissen für Umweltschutz einbringen.
Emotionen spielen auch eine Rolle, wenn Wut, Frust oder Angst den Fokus auf ein Thema erhöhen und damit Partizipation begünstigen. Im Fall von Sonja bspw. führt Ärger über politische Entscheidungen dazu, sich gegen Atomkraft einzusetzen. Dabei zeigt sich erneut, wie eng verschiedene Motive für Engagement miteinander verstrickt sind, denn derartige Äußerungen verraten auch einiges über das Politik- und Bürgerschaftsverständnis einzelner Bürger*innen.
Ein weiteres Ergebnis dieser Arbeit ist, dass Enttäuschung über Absagen von Freund*innen bzgl. Protestaktionen bei einzelnen Bürger*innen nicht zwangsläufig dazu führen, dass sie ihren Aktivismus einstellen oder reduzieren. Mehrere Personen beschreiben, dass sie auch nach vergeblich im Freundeskreis getätigten Mobilisierungsversuchen alleine zu Aktionen fahren und dies keinen Einfluss auf ihre Motivation hat. Eine hohe Frustrationstoleranz spielt bei vielen Bürger*innen eine große Rolle. Hier stellt die vorliegende Arbeit einen wichtigen Beitrag zu einem bisher noch wenig erforschten Gebiet dar. Wenn Menschen Frustration erfahren, haben sie die Möglichkeit, diesen auszuhalten oder ihn durch Faktoren wie Spaß oder ein ausgeprägtes Gemeinschaftsgefühl zu kompensieren. Dies trifft auf viele der Interview-Partner*innen zu und ist mitunter ein wichtiger Grund dafür, warum sie sich trotz Niederlagen (weiterhin) einbringen.
Als Folge solcher Niederlagen stellen sich bei einigen jedoch auch Ohnmachtsgefühle, Resignation oder Burnout-Symptome ein. Ausbleibende Erfolgserlebnisse können dazu führen, dass individuelle Ressourcen wie Motivation, Zeit oder Kraft ausgeschöpft sind. Damit ist ein wichtiger Aspekt, den die Auswertung der Interviews ergeben hat und den die bisherige Forschung zum Thema Protestpartizipation vernachlässigt, die Überlastung von Ehrenamtlichen. Einige Interview-Partner*innen beschreiben Erschöpfungszustände und Ohnmachtsgefühle aufgrund ausbleibender Erfolge von Protest. Oft dient als Erklärung, dass das Thema als so wichtig erachtet wird, dass man sich trotz knapper Ressourcen einbringt. Spaß stellt dabei einen wichtigen Faktor als Kompensation für Verausgabung dar.
Die meisten Interview-Partner*innen verstehen es jedoch nicht als Option, sich wegen geringer Erfolgsaussichten nicht (mehr) einzubringen. Viele möchten es zumindest versucht haben und vertreten den Standpunkt: „Die Hoffnung stirbt zuletzt“. Zwischenziele und realistische Erfolgsaussichten dienen ihnen dabei als Motivation und können dazu führen, eine hohe Frustrationstoleranz aufrechtzuerhalten. Darüber hinaus werden auch andere Formen der Kompensation für Frustrationserfahrungen genannt, z. B. das Protestevent als eigenständiges Happening zu verstehen, dessen alleinige Teilnahme schon lohnenswert ist oder ein so ausgeprägter Idealismus, der dazu führt, langfristig gegen den Strom zu schwimmen und nach den eigenen Idealen zu leben.
Kollektive Identität
Die Analyse der Kategorie Kollektive Identität hat gezeigt, dass Zugehörigkeit und kollektive Identität aus gemeinsamen Protestaktionen, Praktiken, Zielen und aus der Erinnerung an gemeinsame Protesterfahrung heraus entstehen – häufig also Offline-Bezüge aufweisen. Bei Straßenaktionen, durch das gemeinsame Auftreten und sich als Gruppe Bewusstwerden erkennen Menschen Gemeinsamkeiten und identifizieren sich mit anderen Protestierenden. Aus solchen gemeinsamen Erfahrungen können wiederum Freundschaften entstehen. Viele Bürger*innen sind bereit, auch alleine an Aktionen teilzunehmen, denn sie wissen, dass sie vor Ort immer auf Gleichgesinnte treffen werden. Ein in der bisherigen Forschung vernachlässigter Aspekt ist das explizite Ziel, bei Protestaktionen neue Leute kennenzulernen. Sei es, weil aus dem Freundeskreis niemand sonst Interesse hat oder weil nach einem Umzug neue Freund*innen gesucht werden. Affektive Bindungen zu anderen Menschen oder auch zu Orten spielen hier eine wichtige Rolle.
Abgesehen von einer Interview-Partnerin beschreiben alle anderen, dass sie Gemeinschaft und kollektive Identität bei Offline-Aktionen empfinden, nicht im Netz. Gemeinsame Praktiken schweißen zusammen, sich bei Straßendemos eine Bezugsgruppe zu suchen oder vielleicht sogar einer Gefahr durch Gegendemonstrant*innen oder Staatsgewalt ausgesetzt zu sein, stärkt kollektive Identität. Im Netz kann keine vergleichbare Erfahrung erlebt werden.
Die von einer Bürgerin beschriebene Gruppenidentifikation im Internet ist für alle anderen Interview-Partner*innen nicht in dieser Form erfahrbar. Partizipationsmöglichkeiten im Bereich Online-Aktivismus werden von ihnen zwar geschätzt und oft auch praktiziert, tragen ihrer Meinung nach jedoch nicht zur Bildung einer kollektiven Identität bei. Auch die Digitalisierung und die Verbreitung von Social Media haben daran nichts geändert. Praktiken von Online-Aktivismus schaffen es nicht, Aspekte von Straßendemos oder die Mitarbeit in Verbänden sowie das Erleben von Gefahr, Freude oder Arbeitsteilung zu kompensieren oder vergleichbare Online-Pendants dazu zu erschaffen. Das bedeutet, auch heute – in Zeiten der Digitalisierung – braucht Protest in der Umweltschutz-Bewegung noch ein stark ausgeprägtes Gemeinschaftsgefühl und dieses entsteht vor allem auf der Straße. Das Internet trägt wenig zur Bildung einer kollektiven Identität bei, sondern dient den meisten Bürger*innen weiterhin vielmehr zur Vernetzung und Mobilisierung.
Mitgliedschaft
Die Analyse der Kategorie Mitgliedschaft hat gezeigt, dass die Mehrzahl der Interview-Partner*innen Mitgliedschaft als eine aktive Handlung versteht und sich einer Gruppe erst dann zugehörig fühlt, wenn vor Ort mit angepackt, an Gruppentreffen teilgenommen und Einfluss auf die Ausgestaltung der Aktionen einer Organisation genommen wird. Konkrete Offline-Praktiken basierend auf individuellen Wertesystemen spielen eine tragende Rolle. Viele Interview-Partner*innen vertreten ein Mitgliedschaftsverständnis nach dem Motto „doing politics“ (Juris 2007) oder „doing is believing“ (Maeckelbergh 2011). Des Weiteren ist auch eine emotionale Verbundenheit zur Gruppe wichtig, welche sich z. B. durch Freundschaften mit anderen Mitgliedern oder über die Zeit hinweg entwickelt. Gegensätzlich zu Annahmen bisheriger Forscher*innen wie Bennett/Segerberg (2012), die von einem Rückgang der Loyalität gegenüber Organisationen ausgehen und vermehrt „personalized action formations“ beobachten, lässt sich dies bei einer Mehrheit der Interview-Partner*innen nicht bestätigen. Viele von ihnen pflegen mehrere aktive Mitgliedschaften zu unterschiedlichen Organisationen und besitzen eine hohe Loyalität zu diesen. Einzig eine Interview-Partnerin lehnt Mitgliedschaft in Organisationen grundsätzlich ab und agiert im Sinne von „lifestyle movements“ (Haenfler/Johnson/Jones 2012) in informellen Netzwerken und eher losen Kontakten zu Organisationen. Diese Person sieht ihr individuelles Alltagshandeln im Vordergrund und unabhängig von etwaigen Mitgliedschaften. Eine besonders ausgeprägte Verbundenheit zur Organisation und ihren Mitgliedern zeigt sich beim BUND. Dies kann auf die lokalen Ortsgruppen, gemeinsame Offline-Engagementpraktiken und teils jahrzehntelange Mitgliedschaft zurückgeführt werden. Zwar beschreiben einige Interview-Partner*innen auch eine starke Verbundenheit zu Campact – dies stellt jedoch Ausnahmen dar, in denen ihnen Campact-Mitarbeiter*innen dann häufig auch persönlich bekannt sind und die Organisation über Online-Petitionen hinaus unterstützt wird.
Einen weiteren neuen Beitrag zur Partizipationsforschung stellt die Auseinandersetzung mit verschiedenen Begrifflichkeiten rund um Mitgliedschaft dar. Die Interview-Partner*innen machen dazu eine Reihe von Vorschlägen für eine mögliche Kategorisierung, welche meist auf dem Unterschied basiert, ob sich die Person aktiv an Aktionen der Organisation beteiligt oder nicht. Einige Interview-Partner*innen verstehen als reine Mitgliedschaft auf dem Papier – ähnlich einer Mitgliedschaft im Sportverein – jedoch schon die einfache Zahlung des Mitgliedsbeitrags. Dies begründen sie u. a. damit, dass der Einsatz von Ressourcen und die Arbeit der Organisation unterstützt und wertgeschätzt werden sollen. Auch die Digitalisierung scheint an diesem Verständnis nichts oder nur wenig verändert zu haben. Lediglich für Personen, die Mitgliedschaft insb. über eine inhaltliche Auseinandersetzung und starken Themenbezug definieren, wird durch das Internet der Zugang zu solchen Informationen leichter. Campact macht bspw. mit der „5-Minuten-Info“ Angebote, die Bürger*innen das Gefühl vermitteln sollen, sich genügend mit einem Thema beschäftigt zu haben, um sich eine Meinung dazu bilden zu können.
Intensität
Bei der Analyse der Intensität des Engagements und Breite des Handlungsrepertoires ließen sich zahlreiche interessante Erkenntnisse mit Blick auf die Digitalisierung von Protestpraktiken feststellen. Insgesamt ist das Verhältnis von Offline- und Online-Protestpraktiken ausgeglichen, was jedoch nicht bedeutet, dass sich neun Personen online und neun offline engagieren, sondern dass viele sowohl online als auch offline verschiedene Protestformen praktizieren. Mehr als die Hälfte des Samples ist täglich mit Engagement beschäftigt, wobei darunter insb. auch Recherche- oder Vernetzungsarbeit am Computer verstanden wird. Das tägliche Engagement variiert stark zwischen nur einer bis hin zu zwölf Stunden. Während ein häufig gehörter Vorwurf gegen Campact und andere Kampagnen-Organisationen ist, dass sie durch ihre Online-Angebote Partizipation zu sehr vereinfachen würden, berichtet gegensätzlich dazu etwa ein Viertel der Interview-Partner*innen, dass sich ihr Engagement durch Campact sogar intensiviert habe.
Während viele Interview-Partner*innen die Teilnahme an großen Straßendemos wie der „Wir-haben-es-satt“-Demo als Muss verstehen, reicht die Zeit häufig nicht für kleinere Demos und Aktionen. Einige der BUND-Mitglieder sind schon mit regelmäßig stattfindenden Monats- und AG-Treffen ausgelastet. Die Bürger*innen, die aussagen Online-Petitionen zu unterzeichnen, unterscheiden sich dabei stark in ihrer Intensität. Manche unterzeichnen nur sorgfältig ausgewählte Petitionen, andere nahezu alle Campact-Petitionen oder Petitionen auf anderen Webseiten. Auch bei der Social-Media-Nutzung unterscheiden sich die individuellen Praktiken sehr. Diese reichen von sehr intensiver Nutzung, teils auch für berufliche Zwecke, bis hin zu völliger Ablehnung, häufig wegen Datenschutzbedenken oder fehlender Fähigkeiten.
Einstellungen zu Straßenprotest, Netzaktivismus und der Kritik des Clicktivism
Bezüglich der individuellen Einstellung zu Straßenprotest, Netzaktivismus und der Kritik des Clicktivism lässt sich festhalten, dass viele Interview-Partner*innen im Internet den Vorteil sehen, sich zu vernetzen, miteinander über Distanzen hinweg zu kommunizieren, eine scheinbar unendliche Masse an Informationen zur Verfügung zu haben und durch politische Beiträge andere auf Protestaktionen aufmerksam machen zu können. Die Straße dient vielen Aktiven insb. zur Gemeinschaftsbildung untereinander und als Sichtbarmachung ihrer Anliegen. Die Vor- und Nachteile von Straßen- und Netzprotest werden nun noch einmal separat ausgeführt.
Die Interview-Partner*innen sind sich einig darüber, dass Straßenprotest weiterhin eine sehr wichtige Rolle spielt. Er wird von vielen als Sichtbarmachung des Volkswillens verstanden, manche sehen ihn sogar als Hilfestellung für Politiker*innen und deren Entscheidungen. Deutlich wurde bei der Analyse auch, dass Innenwirksamkeit und Gemeinschaftsbildung bei Straßenprotesten für viele eine besonders wichtige Rolle spielen. Die Interview-Partner*innen erzählen von zahlreichen Erfahrungen der Solidarisierung mit Gleichgesinnten. Bei Praktiken wie der Unterstützung eines Infostandes werden hingegen besonders der direkte Kontakt zu anderen Menschen und das dortige direkte Feedback hervorgehoben. Diese Eigenschaften zeichnen Offline-Engagement aus und können durch das Netz nicht kompensiert werden.
Manche Interview-Partner*innen messen Straßenprotest eher einen Symbolcharakter bei, als dass sie ihm eine direkte Wirkung auf politische Entscheidungen zuschreiben und verstehen es als das eigentliche Ziel, eine möglichst hohe massenmediale Aufmerksamkeit zu erhalten. Einige Bürger*innen sind der Meinung, dass Straßenprotest weiterhin wichtig bleiben wird, weil er im Vergleich zum Netzprotest durch einen deutlich größeren Zeitaufwand eine höhere Dringlichkeit vermittelt.
Die Interview-Partner*innen benennen jedoch auch negative Aspekte von Straßenprotest wie den Missbrauch durch Gewalttäter, eine Instrumentalisierung der Teilnehmenden oder ein grundsätzliches Unwohlsein in Menschenmengen. Hinderungsgründe für die Teilnahme an Straßenaktionen können auch schlechtes Wetter, lange Fußstrecken bei Demos, eine zu weite Anreise, grundsätzlich unzureichende Zeitressourcen oder eine nicht stattgefundene Aufforderung zur Teilnahme sein. Die Bandbreite von Gründen reicht folglich von ressourcenbezogenen zu psychologischen Erklärungen.
Große Einigkeit besteht bei den Interview-Partner*innen bzgl. der Vorteile des Internets für Protest. Hier werden besonders das Mobilisierungspotenzial, der erleichterte Zugang zu Informationen und die große Reichweite digitaler Medien hervorgehoben. Das Netz dient vielen zur Kontakterhaltung mit anderen und zur Verbindung mit Gleichgesinnten. Grundsätzlich werden E-Mail-Verteiler und Newsletter als wertvolle Informationsquelle eingeschätzt, Online-Petitionen hingegen als sinnvolles Mittel, um symbolische Zeichen zu setzen. Der geringe Zeitaufwand und die Einfachheit von Online-Petitionen sind aus Sicht der meisten Interview-Partner*innen Vorteile, die dazu führen, solche Petitionen zu unterzeichnen. Einige unterschreiben hingegen nur ausgewählte Online-Petitionen nachdem sie sich zuvor tiefer in das entsprechende Thema eingelesen haben.
Gleichzeitig beschreiben viele Interview-Partner*innen, dass ein Überfluss an Petitionen bei ihnen zu Ermüdung und Abstumpfung geführt habe. Manche sind der Meinung, dass Online-Petitionen keine Wirkung haben oder dass Online-Aktivismus generell weniger effektiv sei, weil er im Vergleich zu offline stattfindendem Protest wenig Medienresonanz erhalte. Nichtsdestotrotz unterschreiben selbst diese Personen – teilweise sogar sehr häufig – Online-Petitionen. Dies lässt sich darauf zurückführen, dass sie der Meinung sind, dass das Unterzeichnen so schnell gehe und mit so wenig Aufwand verbunden sei, dass man es schnell miterledigen könne. Hier zeigt sich, dass der geringe Aufwand mehr wiegt, als die Einstellung, dass mit Online-Petitionen kaum eine Wirkung erzielt werden könne. Darüber hinaus werden auch Datenschutzbedenken und eine Angst vor eventuellen beruflichen Konsequenzen genannt, sollte man sich im Netz politisch äußern. Wichtig ist festzuhalten, dass die Ablehnung der Unterzeichnung von Online-Petitionen nicht auf Fragen der Wirksamkeit dieser Protestpraktik zurückgeht, sondern auf Datenschutzbedenken.
Ein Fokus auf die unterschiedlichen Organisationen und Petitionsplattformen zeigt deutliche Unterschiede in den Einstellungen der Interview-Partner*innen. Ein Großteil spricht Campact ein hohes Vertrauen aus und äußert sich Avaaz gegenüber recht kritisch – besonders beim Thema Datenschutz und Transparenz. Die Interview-Partner*innen, die durch die Erstellung einer eigenen Petition direkten Kontakt zu Mitarbeiter*innen von Change.org hatten, loben die Organisation insb. für ihr Engagement und ihre Glaubwürdigkeit. Hier zeigt sich, dass das Vertrauen in eine Organisation größer ist, wenn ihr konkrete Personen und Gesichter zugeordnet werden können. Noch mehr Vertrauen herrscht vor, wenn man die Mitarbeitenden der Organisation sogar persönlich kennt.
Ältere BUND-Mitglieder bezeichnen die Social-Media-Aktivitäten von BUND-Ortsgruppen als irrelevant, da damit vor Ort nicht die passende Zielgruppe angesprochen werden würde. Auch ein jüngeres BUND-Mitglied hält den Umgang mit Online-Petitionen durch den Verband für ausbaufähig und schreibt Petitionsplattformen wie Campact hier eine höhere Kompetenz zu. Häufig steht der BUND also eher nicht für kompetente Social-Media-Nutzung oder Online-Petitionen. Trotzdem geben auch ältere BUND-Mitglieder an, beim BUND alle existierenden Online-Petitionen zu unterzeichnen. Auch hier ist die Einschätzung zur Wirksamkeit einzelner Protestpraktiken folglich zweitranging.
Bezüglich der Clicktivism-Kritik äußert ein Großteil Unverständnis für die These, dass Online-Aktivismus Menschen von der Teilnahme an Straßenprotest abhalte. Von fast allen Interview-Partner*innen wird das Netz als wichtige Ergänzung zu Straßenprotest verstanden und kein direkter Zusammenhang zwischen Partizipation online und offline gesehen. Sie sind dankbar für Möglichkeiten, sich schnell und ohne großen Aufwand einbringen zu können, insb. in Zeiten gesellschaftlicher Beschleunigung, in denen viele die Wahrnehmung haben, unter Zeitdruck und Stress zu stehen. Gegensätzlich zur Clicktivism-Kritik erzählen einige sogar, dass bei ihnen die Teilnahme an Netzprotest-Praktiken dazu geführt habe, sich wieder mehr offline einzubringen. Hierbei steht besonders der Mobilisierungsaspekt des Netzes positiv im Vordergrund. Jedoch wird auch die These geäußert, dass die Einfachheit von Online-Petitionen grundsätzlich den Wert einzelner Unterschriften mindern könnte. An Straßenständen seien Unterschriften deutlich schwieriger zu sammeln und damit würden Unterschriftenlisten auf Papier mehr aussagen als Online-Petitionen. Im gesamten Sample befindet sich nur ein Interview-Partner, der bei sich selbst beobachtet hat, dass er Offline-Protestaktionen manchmal ausfallen lässt, wenn er sich zuvor für das Thema bereits online engagiert hat. Alle anderen Interview-Partner*innen können sich diesen Zusammenhang entweder gar nicht vorstellen oder zumindest nicht bei sich persönlich.
Einen wichtigen Kritikpunkt an Online-Petitionen stellt der Vergleich mit dem Ablasshandel im Mittelalter dar. Der Gedanke dabei ist, dass sich Bürger*innen durch die Unterstützung von Online-Petitionen eine Art Freibrief dafür erkaufen, sich anderweitig nicht mehr einbringen zu müssen. Dies ließe sich laut Meinung einiger Befragter auch auf Spendengelder für Organisationen übertragen, die ebenso als Ersatz für aktive Mitarbeit verstanden werden könnten. Solche Aussagen verdeutlichen eine Kritik am Unterzeichnen von Online-Petitionen bzw. dem Spenden, wenn zusätzlich nicht auch aktiv und offline anderen Protestpraktiken nachgegangen wird. Die Mehrheit der Interview-Partner*innen weist ein solches Verhalten jedoch von sich ab. Und in der Tat beschreiben viele Bürger*innen ein vielfältiges Repertoire von Online- und Offline-Praktiken, welches sich nicht nur auf das Unterzeichnen von Petitionen oder das Spenden von Geld begrenzt.
Die Analyse der Voraussetzungen und Motive für Protestpartizipation, der konkreten Praktiken und der Einstellungen der Bürger*innen bzgl. Straßenprotest, Netzaktivismus und der Kritik des Clicktivism zeigt, dass sowohl ältere als auch jüngere, sowohl intensiv aktive als auch sporadisch aktive und sowohl Menschen mit einem hohen Organisationsgrad als auch einer weniger ausgeprägten Anbindung an Organisationen die Vorteile von Netzaktivismus und Straßenprotest nutzen und häufig in beiden Sphären aktiv sind. Bürger*innen, die ohne das Internet aufgewachsen sind, können sich auch zu späterer Zeit noch die Fähigkeit aneignen, das Internet für ihre politischen Aktivitäten zu nutzen. Manche stoßen hier jedoch an die Grenzen ihrer Fähigkeiten und legen den Fokus weiterhin recht deutlich auf die Mitarbeit in Verbänden. Trotzdem zeigen die Ergebnisse dieser Arbeit, dass Theorien des Digital Divide (Mossberger/Tolbert/McNeal 2008; van Dijk 2006; Norris 2001) zu kurz greifen, wenn sie sich nur auf sozioökonomische Aspekte, Geschlecht, Alter usw. stützen und Faktoren wie die Motivation, sich neue Fähigkeiten anzueignen, ungeachtet lassen (vgl. Min 2010; Adams/Stubbs/Woods 2005).
Die Interview-Teilnehmer*innen, die der Gruppe der Digital Natives zugeordnet werden können und einen Großteil ihres Erwachsenenlebens Möglichkeiten der digitalen Protestpartizipation zur Verfügung hatten, widmen sich Online-Praktiken deswegen nicht zwangsläufig intensiver als ihre älteren Mitbürger*innen. Voss (2021) kommt ganz im Gegenteil zu einer solchen These zu dem Ergebnis, dass bei der Erstellung eigener Online-Petitionen die Generation 50+ sogar aktiver ist als jüngere Bürger*innen. Mit den Fällen von Sonja (56), Stefanie (27) und Mareike (49) (welche zumindest eine Petition vorbereitet hat) scheint das vorliegende Sample diese These zumindest tendenziell zu stützen.2 Auch die Jüngeren halten Straßenprotest weiterhin für wichtig und engagieren sich sowohl auf der Straße als auch in Organisationen wie dem BUND, und vermehrt in lokalen und informelleren Initiativen. Eine positive Haltung gegenüber Online-Aktivismus kann, aber muss nicht, an das Alter der Bürger*innen geknüpft sein. Abhängig von Faktoren wie dem Vertrauen in digitale Technologien und der Mediensozialisation können auch ältere Bürger*innen das Interesse und die Fähigkeit entwickeln, ihren Offline-Aktivismus durch Online-Praktiken zu ergänzen. Insbesondere die Möglichkeit, im Internet Informationen zu recherchieren oder Online-Petitionen zu unterzeichnen, wird von einer Vielzahl der Interview-Partner*innen genutzt. Social Media für politische Zwecke zu nutzen, ist hingegen weniger verbreitet. Die jüngeren Interview-Partner*innen beschreiben keinerlei Probleme im Umgang mit Online-Technologien, äußern jedoch ebenfalls Bedenken bzgl. des Datenschutzes und der Effektivität von Online-Aktivismus. Sie nutzen das Netz für verschiedene Zwecke, aber nie als Ersatz für Engagement in Organisationen oder lokalen Initiativen.

9.2 Typenbildung

Aus der Zusammenführung aller Kategorien konnten daraufhin drei verschiedene Typen skizziert werden, die größtenteils unabhängig von den Faktoren Geschlecht, Alter und Organisationsgrad insb. auf den Praktiken, Einstellungen und der Intensität von Engagement basieren. Bei diesen drei Typen kann jeweils nochmal eine interne Abstufung vorgenommen werden, welche auf graduelle Unterschiede in der Breite des Handlungsrepertoires zurückzuführen ist. Daraus haben sich schlussendlich sechs Varianten von Protest-Aktivist*innen der Umweltschutz-Bewegung ergeben.
Sie unterscheiden sich insb. bzgl. der ausgeübten Protestpraktiken und dahingehend, wie intensiv sie das Internet in diese Praktiken einbinden. Denn ein wichtiges Ergebnis dieser Arbeit ist, dass alle hier befragten Bürger*innen Vorteile in der Nutzung des Internets für zivilgesellschaftliches Engagement sehen. Alle nutzen das Internet als Informationsquelle, für Recherchen und zum Empfangen und Versenden von E-Mails. WhatsApp oder andere Messangerdienste scheinen hier nebensächliche Rollen zu spielen. Einige unterzeichnen oder erstellen darüber hinaus auch Online-Petitionen und andere sehen in der Nutzung von Social Media Vorteile für die Verbreitung von politischen Inhalten und für die Mobilisierung für Aktionen. Ein Großteil der Interview-Partner*innen versteht Straße und Netz als wertvolle Ergänzung zueinander und würde weder auf das eine noch auf das andere verzichten wollen.
Typ Web 1.0
Der erste Typ von Protest-Aktivist*innen „Typ Web 1.0“ nutzt im Internet insb. Web 1.0 Funktionen, konsumiert Newsletter, recherchiert Berichte und schreibt bzw. liest E-Mails. Social-Media-Kanäle sind diesem Typ größtenteils fremd. Eine Abstufung dieses Typs nutzt jedoch die Möglichkeit Online-Petitionen zu unterzeichnen und versteht dies als Ausdruck persönlicher Positionen. Für den ersten Typ spielen eine direkte Ansprache und ein direkter Ortsbezug häufig eine große Rolle. Isabelle bspw. engagiert sich nur, wenn sie von einem Thema persönlich betroffen ist oder sie durch aktives Eingreifen vor Ort selbst mitgestalten kann. Markus wiederum ist mit der örtlichen Verbandsarbeit seiner BUND-Ortsgruppe so ausgelastet, dass er nach eigenen Angaben gar keine Zeit für Social Media hätte. Während Isabelle (26 Jahre) Social Media grundsätzlich als hilfreich für die Mobilisierung von Protestaktionen einschätzt, beschreibt Markus (71 Jahre) technische Schwierigkeiten bei der Nutzung von Social Media. Er nutzt jedoch sowohl die Möglichkeit, im Internet ausführliche Recherchen durchzuführen als auch Online-Petitionen zu unterzeichnen. Mit letzter Praktik unterscheidet er sich von Isabelle. Markus versteht Online-Petitionen als willkommene Möglichkeit, ohne großen Zeitaufwand politische Forderungen unterstützen zu können, achtet jedoch sehr genau darauf, auf welcher Plattform er Petitionen unterschreibt und als wie vertrauenswürdig er diese Seiten einschätzt. Datenschutzbedenken und fehlende Technik-Skills schränken die Online-Praktiken von diesem Protesttyp ein.
Isabelles Fall zeigt auch, dass sich Digital Natives nicht zwangsläufig mit allen Möglichkeiten von Online-Aktivismus auseinandersetzen und dass auch sie sich aktiv mit Datenschutzfragen beschäftigen. Während ein geringer Organisationsgrad (Isabelle) nicht zwangsläufig bedeutet, dass sich jemand überhaupt nicht einbringt, führen über Jahrzehnte ausgeübtes Engagement in der Umweltschutz-Bewegung und eine Anbindung an Organisationen wie den BUND jedoch zu einem sehr ausgeprägten Netzwerk von Kontakten. Am Bürgerschaftsverständnis vom Typ Web 1.0 hat die Digitalisierung von Protestpartizipation keine großen Veränderungen bewirkt. Markus bspw. ist schon lange im Umweltschutz engagiert, versteht Engagement als Muss und nimmt neben der Verbandsarbeit nun als Zusatz noch Online-Möglichkeiten der Informationsbeschaffung und des Ausdrucks politischer Ansichten via Online-Petitionen wahr.
Typ Web 2.0
Der zweite Typ von Protest-Aktivist*innen „Typ Web 2.0“ ist mit Social Media vertrauter als der erste und postet auf Social-Media-Kanälen politische Inhalte. Eine Abstufung dieses Typs unterzeichnet zusätzlich zu einer relativ aktiven Social-Media-Nutzung auch regelmäßig Online-Petitionen. Wie beim ersten Typ spielen auch beim zweiten Typ unterschiedliche Bürgerschaftsverständnisse eine wichtige Rolle als Motiv für Partizipation. Neben dem Verständnis von Engagement als Muss, beeinflussen hier ein geringes Vertrauen in Politiker*innen (wie im Fall von Mareike), sowie das Bürgerschaftsverständnis einer „actualizing citizenship“ (Bennett 2008) (wie im Fall von Felix) die Entscheidung, sich online zu engagieren. Felix (24 Jahre) recherchiert online ausgiebig Informationen und nutzt Social-Media-Kanäle zur Äußerung seiner politischen Ansichten. Er ist der Meinung, insb. jüngere Bürger*innen müssten online durch attraktive Angebote angesprochen werden. Auch Mareike (49 Jahre), beruflich als Social-Media-Managerin aktiv, bewegt sich sicher in Online-Sphären, nutzt aktiv verschiedene Social-Media-Kanäle und unterzeichnet nahezu täglich Online-Petitionen auf verschiedenen Plattformen. Dieser Protesttyp reflektiert jedoch auch mögliche Datenschutzrisiken im Internet. Zum Erstellen einer eigenen Online-Petition ist er, insb. aus zeitlichen Gründen, bisher nicht gekommen. Das Internet versteht dieser Protesttyp vor allem als Möglichkeit der erleichterten Informationsbeschaffung und für Mobilisierung. Ausgeprägte Technik-Skills ermöglichen ihm diese digitalen Partizipationspraktiken.
Prosumerin
Der dritte Typ von Protest-Aktivist*innen „Prosumerin“ gestaltet aktiv verschiedene Inhalte im Netz mit, nutzt Social-Media und hat bereits Gebrauch von der Möglichkeit gemacht, selbst eine Online-Petition zu erstellen. Auch dieser Typ unterzeichnet regelmäßig Online-Petitionen. Die beiden Vertreterinnen dieses Typs zeichnen sich entweder durch ein geringes Vertrauen in Politiker*innen aus oder durch die Einstellung, Politik sei ein zu komplexes Feld, als dass es in seiner Gänze verstanden werden könne. Im Fall von Sonja (56 Jahre) führt das geringe Vertrauen in Politik dazu, dass sie sich eigenständig alternative Einflussmöglichkeiten sucht. Mit der Erstellung einer Online-Petition geht sie dabei noch weiter als der zweite Typ. Im Gegensatz zu Mareike ist Sonja in zahlreichen Organisationen vernetzt und trotz ihrer Kritik an Politik Mitglied bei den Grünen. Obwohl sie nicht zur Gruppe der Digital Natives zählt, nutzt Sonja zahlreiche Engagementmöglichkeiten – sowohl online als auch offline – und ist im gesamten Sample der Interview-Partner*innen damit eine der am breitesten aufgestellten engagierten Bürger*innen. Sie hat sich im (vergleichsweise) höheren Alter mit dem Internet und digitalen Technologien auseinandergesetzt und sich Fähigkeiten angeeignet, die ihr erlauben, im Bereich Online-Aktivismus aktiv zu werden. Ihr Fall macht aber u. a. auch deutlich, wie wichtig Gruppenzugehörigkeit und Engagement vor Ort weiterhin sind.
Stefanie (29) – als zweite Vertreterin des dritten Typs – ist ein Beispiel für eine engagierte Bürgerin, die zwar durch die DUH gut vernetzt, darüber hinaus jedoch wenig an Organisationen angebunden ist. Sie engagiert sich ähnlich wie Isabelle insb. bei lokalen, kleineren Initiativen, nimmt nur selten an Straßendemos teil und ist stattdessen im Internet sehr aktiv. Mit breit aufgestellten Social-Media-Aktivitäten, einem eigenen Blog zum Thema Upcycling und einer selbst erstellten Online-Petition gehört Stefanie zu den online aktivsten Interview-Partner*innen. Ähnlich wie im Fall von Mareike können auch hier fachliche und berufliche Motive dafür genannt werden. Mit einem Studium im Bereich Medien und Kommunikation und einem vielseitigen persönlichen Interesse am Thema Internet, kann Stefanie als die am stärksten mediensozialisierte Interview-Partnerin benannt werden. Doch auch sie versteht Engagement und Nachhaltigkeit ganzheitlich und möchte sich insb. durch Alltagspraktiken im Sinne des Umweltschutzes – online wie offline – einbringen.
Das Internet und Online-Petitionen versteht dieser mit stark ausgeprägten Technik-Skills ausgestattete Protesttyp u. a. als Informationsmedien. Online könne die Reichweite von Infos erweitert, mobilisiert, Spenden gesammelt und aufgeklärt werden. Für diesen Typ stellt das Internet einen eigenständigen – wenn auch mit der Offline-Sphäre verwobenen – Protestraum dar, der ihm in einem veränderten Bürgerschaftsverständnis neue, digitale Partizipationsmöglichkeiten eröffnet. Mit direkt-demokratischen Elementen und einem hohen Vertrauen in andere Bürger*innen möchte dieser Protesttyp bottom-up Politik online und offline praktikenorientiert und alltagsbezogen mitgestalten.
Die Typenbildung hat gezeigt, dass Online-Protestpraktiken nicht genutzt werden, wenn die nötigen technischen Fähigkeiten dafür fehlen, (altersunabhängig) kein Interesse daran besteht, sich diese Fähigkeiten anzueignen oder wenn erhebliche Datenschutzbedenken vorliegen. Eine geringe Einschätzung zur Wirksamkeit von Online-Protestpraktiken hält hingegen nicht von dieser Möglichkeit ab. Wer über die nötigen Technik-Skills und Ressourcen verfügt, tendiert folglich mind. zu Typ Web 2.0. Geringes Vertrauen in Politik kann zur Suche nach alternativen Einflussmöglichkeiten führen, welche dann nicht selten in der Online-Sphäre anzutreffen sind. Diese Einstellung, sowie ein Verständnis von Internet als eigener Protestraum, in welchem Bürger*innen neuen, direkteren Partizipationspraktiken nachgehen können, erhöhen die Wahrscheinlichkeit für eine Zugehörigkeit zum Typ Prosumerin. Damit macht die Typenbildung deutlich, dass eine Zuordnung zu den drei Typen insbesondere von den Faktoren Technik-Skills, Datenschutzbedenken und Bürgerschaftsverständnis abhängig ist. Folglich spielen insb. Kompetenzen, die Ausprägung des Vertrauens in ICTs und Wertorientierungen eine wichtige Rolle.

9.3 Ausblick und Forschungsdesiderat

Da es sich bei dieser Doktorarbeit um eine explorative, qualitative Untersuchung handelt, deren Ergebnisse keinen Anspruch auf Repräsentativität stellen, sollten einige der Forschungserkenntnisse nun in zukünftigen quantitativen Studien überprüft werden. Besonders interessant wäre dabei eine Untersuchung der Frage, ob der Organisationsgrad von Bürger*innen auch in einem großen Sample tatsächlich kein ausschlaggebender Faktor für oder gegen eine Entscheidung von Online- und Offline-Protestpraktiken darstellt. Auch das Ergebnis dieser Untersuchung, dass nicht grundsätzlich das Alter, sondern vielmehr die Bereitschaft und zeitliche Ressourcen für die Aneignung von Technik-Skills entscheidend sind, ließe sich noch einmal quantitativ erforschen.
Zu weiteren Themen, deren intensivere Auseinandersetzung in zukünftiger Forschung lohnenswert sein könnte, gehört u. a. der Aneignungsprozess von Technik- und Social-Media-Skills von Personen, die nicht der Gruppe der Digital Natives zugeordnet werden. Die vorliegende Arbeit kommt wie erwähnt zu dem Ergebnis, dass Praktiken von Netzprotest keine Frage des Alters sind, sondern davon abhängig sind, ob die Person Motivation und Zeit hat, sich Internet- und PC-Kenntnisse anzueignen oder nicht. Ressourcenmodelle von Partizipationstheorien sollten PC- und Internet-Skills zukünftig mitberücksichtigen. Forschung über die Motivation zur Aneignung von neuen (Technik-)Fähigkeiten könnte insb. mit Fokus auf ältere Bürger*innen spannende Erkenntnisse zur Online- und Offline-Protestpartizipation liefern.
Da u. a. gezeigt werden konnte, dass Ortsbezug und lokale Betroffenheit weiterhin starke partizipationsbegünstigende Faktoren sind, könnte aus Sicht der Organisationen die Nutzung von digitalen Medien für die Mobilisierung von lokalen Aktionen interessant sein. Forschung über den (evtl. auch ausbleibenden) Einfluss von Social-Media-Accounts von Ortsgruppen könnten Aufschluss darüber geben, ob die Einschätzung einiger Interview-Partner*innen zutreffend ist, dass Social Media für BUND Ortsgruppen kaum Relevanz hat. Ganz anders könnte es sich bspw. bei Instagram-Accounts von FFF-Ortsgruppen verhalten. Diese (zum Zeitpunkt der Datenerhebung noch nicht existente) Organisation nutzt neben persönlichen Gesprächen aktiv Social-Media-Accounts – auch von Ortsgruppen – für die Mobilisierung von Teilnehmer*innen für Straßendemos (vgl. Sommer et al. 2019: 19).
Ein weiteres Ergebnis dieser Arbeit ist, dass ganzheitliches Handeln für viele Bürger*innen so wichtig ist, dass sie Job und Engagement miteinander verbinden möchten und sich teils explizit für eine Teilzeitstelle entschieden haben. Hier wird der Ruf nach einer neuen Zeiteinteilung mit Berücksichtigung von Engagement als gleichwertiges Element neben Freizeit und Job laut. Diese Argumentation reiht sich in die Debatte um Degrowth (Paech 2019; Rosa 2016) und neue Arbeitszeitmodelle (Allmendinger 2016) ein und verlangt u. a. eine bessere Vereinbarkeit von Beruf, Familie, Freizeit und Engagement. Forschungen könnten hier genaueren Aufschluss darüber geben, unter welchen Umständen gesamtgesellschaftlich Arbeitszeit reduziert und durch Engagement-Zeit ergänzt werden könnte und welche Bereiche von Ehrenamt dadurch eine Aufwertung erfahren würden.
Ein anderer, interessanter Aspekt ist die Bedeutung von zivilgesellschaftlichem Engagement für Ruheständler*innen. Nach der Berufstätigkeit nochmal gefordert zu sein und sich mit Wissen und Spaß für Umweltschutz einzubringen, dient einigen Bürger*innen als wichtiges Motiv für ihr Engagement. Qualitative Forschung mit einem Interviewsample ausschließlich aus Ruheständler*innen bestehend, könnte neue Erkenntnisse über die individuellen Herausforderungen dieser spezifischen Engagement-Gruppe im Bereich Online- und Offline-Engagement ergeben.3
Darüber hinaus konnte gezeigt werden, dass es für das Selbstverständnis der Aktiven wichtig ist, auch mal ‚für‘ etwas zu sein, anstatt immer nur ‚gegen‘ etwas, z. B. im Fall der erneuerbaren Energien. Eine positive Außenwahrnehmung einer Sozialen Bewegung könnte damit Abstumpfungen und Katastrophenszenarien entgegenwirken und langfristig mehr Personen für Engagement begeistern. Ob die konkrete Ausformulierung der Ziele einer Bewegung – also z. B. „Für erneuerbare Energien“ anstatt „Gegen Atomkraft“ – Auswirkungen auf die Unterstützungsbereitschaft der Bürger*innen hat, könnte in Studien zur Außenwahrnehmung verschiedener Protestbewegungen untersucht und verglichen werden.
Mit den Themen Burnout und Frustrationstoleranz im Engagement hat die Arbeit ein neues, wichtiges Feld im Bereich der Partizipationsforschung eröffnet. Einige Bürger*innen schöpfen ihre individuellen Ressourcen über eine gesunde Grenze hinweg aus und sprechen von Burnout, Erschöpfungserscheinungen und Ohnmachtsgefühlen bei ausbleibenden Erfolgserlebnissen. Wie reagieren sie auf Niederlagen von Protestbemühungen, Absagen von Freund*innen oder ausbleibende Erfolge? Die Analyse des Interviewmaterials ergab das überraschende Ergebnis, dass Enttäuschungen über Absagen von Freund*innen bei betroffenen Individuen nicht dazu führen, dass Aktivismus eingestellt oder reduziert wurde. Mehrere Personen beschrieben, dass sie trotz vergeblicher Mobilisierungsversuche auch alleine zu Aktionen fahren und ihre Motivation dadurch nicht verringert wird. In Folge von Niederlagen stellten sich bei einigen Interview-Partner*innen zwar Ohnmachtsgefühle oder Burnout-Symptome ein, doch sie alle empfanden diese Phasen als temporär und waren zuversichtlich, dass wieder bessere Zeiten kämen. Insgesamt spielt Frustrationstoleranz bei der Motivation von Bürger*innen eine sehr große Rolle und sollte in zukünftiger Forschung ausführlicher untersucht werden.
Während die Bedeutung von Emotionen für Protest und Soziale Bewegungen bereits ausführlich untersucht wurde (u. a. Goodwin/Jasper/Polletta 2004; Jasper 2011; Bogerts 2015; Betz 2016), verspricht auch eine detaillierte Auseinandersetzung mit den Auswirkungen der Digitalisierung auf Emotionen vielversprechende Ergebnisse. Erste Sachbücher widmen sich bereits diesem Thema (z. B. Wehr 2018 oder Maas 2021), doch auch wissenschaftliche Untersuchungen und ein Fokus auf Emotionen, die über das in der vorliegenden Arbeit untersuchte Gefühl von online empfundener kollektiver Identität (oder auch dessen Ausbleiben) hinausgehen, wären spannende Forschungsfelder.
In Übereinstimmung mit Betz (2016) ist ein Ergebnis dieser Arbeit, dass Spaß als eigenständiges Motiv für Partizipation anzuerkennen ist. Viele Interview-Partner*innen beschreiben ausführlich, dass sie Straßendemos besuchen, weil sie diese als Happening erleben, weil es dort Musik, Kostüme, kreative Plakate und vieles mehr gibt. Hier könnte zukünftige Forschung untersuchen, ob es bei diesem Phänomen themenspezifische Unterschiede gibt, d. h. ob es Protest-Issues gibt, bei denen dies eher zutrifft als bei anderen und die besonders leicht kreativ skandalisierbar sind. Neu zu erforschen wäre auch, auf welche Art und Weise Spaß online und offline unterschiedlich erzeugt wird.
In bisheriger Forschung wenig beachtet, hier jedoch als wichtiger Faktor für die Entwicklung von Engagementbereitschaft genannt, sind konkrete Medien wie Bücher, Filme usw. als Auslöser für Engagement oder der Einfluss von Spiritualität und Meditation auf Aktivismus. Diese Aspekte könnten in zukünftiger Forschung intensiver untersucht werden.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass insb. individuelle Herausforderungen im persönlichen Engagement einzelner Bürger*innen in zukünftigen Untersuchungen stärker beachtet werden sollten. Von der Diskrepanz zwischen den eigenen Anforderungen und dem tatsächlichen Verhalten bzw. Lebensstil, über Schwierigkeiten bei der Vereinbarkeit von Arbeitszeitmodellen und Engagement bis hin zu fehlenden Technik-Skills und einer häufig extrem hohen – aber eben doch endlichen – Frustrationstoleranz, könnten zukünftige Studien individuelle Protestpartizipation näher untersuchen. Die vorliegende Arbeit hat versucht, Forschungslücken im Bereich des Handlungs- und Wirkungszusammenhangs von Straßen- und Netzprotest zu schließen und dabei den Fokus insb. auf Ressourcen, Motive, Praktiken und die Einstellung zu verschiedenen Protestformen zu legen. In einer empirisch reichhaltigen und auf die Subjekte bezogenen Studie konnten dabei für die Partizipations- und Protestforschung relevante Ergebnisse erzielt und neue Forschungsfelder eröffnet werden.
Open Access Dieses Kapitel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz (http://​creativecommons.​org/​licenses/​by/​4.​0/​deed.​de) veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
Die in diesem Kapitel enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbildungslegende nichts anderes ergibt. Sofern das betreffende Material nicht unter der genannten Creative Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschriften erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen.
download
DOWNLOAD
print
DRUCKEN
Fußnoten
1
Die Analyse der Motive für gegenwärtiges Engagement hat insb. deutlich gemacht, wie eng miteinander verwoben unterschiedliche Kategorien sind, bspw. Motive und Kollektive Identität oder Motive und Bürgerschaftsverständnis. Viele genannte Motive befassen sich mit dem Kennenlernen anderer Menschen, dem Zusammenkommen mit Freund*innen und Selbstvergewisserung durch Gleichgesinnte und häufig dienen seit der Jugend bestehende Moralvorstellungen und Wertesysteme, oder auch der Wunsch, mit sich selbst im Reinen zu sein, als Motiv für gegenwärtiges Engagement.
 
2
Wenngleich Voss (2021) zu dem Ergebnis kommt, dass Online-Petitionen häufiger von Männern erstellt werden, wohingegen in der vorliegenden Arbeit keiner der männlichen Interview-Partner eine eigene Online-Petition erstellt hat.
 
3
Das Deutsche Freiwilligensurvey untersucht zwar u. a. Bereiche wie Alter bzw. Ruheständler*innen und freiwilliges Engagement, stellt jedoch eine quantitative Untersuchung auf dem Gebiet dar. Qualitative Untersuchungen mit Leitfaden-gestützten Interviews könnten hingegen noch einmal tiefere Einblicke in die Herausforderungen für ältere Engagierte ermöglichen.
 
Metadaten
Titel
Wandel von Bürgerschaft? Ein Fazit zur Online- und Offline-Protestpartizipation
verfasst von
Lisa Villioth
Copyright-Jahr
2023
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-40532-8_9