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Open Access 2023 | OriginalPaper | Buchkapitel

8. Typen von Protest-Aktivist*innen

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Zusammenfassung

Die nun folgende Typenbildung hat das Ziel, alle bisher thematisierten Aspekte zusammenzuführen und basierend auf den Ressourcen, Bürgerschaftsverständnissen, Motiven, Mitgliedschaftsverständnissen, Empfindungen kollektiver Identität, konkreten Praktiken und Einstellungen zu Straßen- und Netzprotest der interviewten Bürger*innen drei grobe Typen von Protest-Aktivist*innen zu skizzieren. Diese unterscheiden sich insb. bzgl. ihrer ausgeübten Protestpraktiken und darin, wie intensiv sie das Netz in ihre Partizipation einbinden. Denn ein wichtiges Ergebnis der vorliegenden Analyse ist, dass alle Interview-Partner*innen in der Nutzung des Internets Vorteile für zivilgesellschaftliches Engagement sehen. Wie im vorangegangenen Kapitel ausführlich beschrieben, versteht ein Großteil der Interview-Partner*innen Netz und Straße als wertvolle Ergänzung zueinander. Da sich keine der Bürger*innen den Vorteilen des Internets komplett verschließt, zeichnen sich zwar alle drei Typen durch digitale Praktiken aus, unterscheiden sich jedoch in der Extensität dieser. Entsprechend liegt der Fokus der nun folgenden Typisierung insb. auf Praktiken und in den anderen Kategorien vorkommenden Faktoren, die diese Praktiken beeinflussen.
Die nun folgende Typenbildung hat das Ziel, alle bisher thematisierten Aspekte zusammenzuführen und basierend auf den Ressourcen, Bürgerschaftsverständnissen, Motiven, Mitgliedschaftsverständnissen, Empfindungen kollektiver Identität, konkreten Praktiken und Einstellungen zu Straßen- und Netzprotest der interviewten Bürger*innen drei grobe Typen von Protest-Aktivist*innen zu skizzieren. Diese unterscheiden sich insb. bzgl. ihrer ausgeübten Protestpraktiken und darin, wie intensiv sie das Netz in ihre Partizipation einbinden. Denn ein wichtiges Ergebnis der vorliegenden Analyse ist, dass alle Interview-Partner*innen in der Nutzung des Internets Vorteile für zivilgesellschaftliches Engagement sehen. Sie alle nutzen das Netz für Recherchen, für E-Mails und als Informationsquelle. Manche von ihnen unterzeichnen oder erstellen darüber hinaus auch Online-Petitionen und andere wiederum sehen Vorteile in der Nutzung von Social-Media-Kanälen, insb. für die Verbreitung von politischen Inhalten und für die Mobilisierung. Wie im vorangegangenen Kapitel ausführlich beschrieben, versteht ein Großteil der Interview-Partner*innen Netz und Straße als wertvolle Ergänzung zueinander. Da sich keine der Bürger*innen den Vorteilen des Internets komplett verschließt, zeichnen sich zwar alle drei Typen durch digitale Praktiken aus, unterscheiden sich jedoch in der Extensität dieser. Entsprechend liegt der Fokus der nun folgenden Typisierung insb. auf Praktiken und in den anderen Kategorien vorkommenden Faktoren, die diese Praktiken beeinflussen.
Der erste Typ nutzt im Internet hauptsächlich Web 1.0 Funktionen, d. h. er konsumiert Newsletter, liest Berichte und schreibt und liest E-Mails. Social-Media-Kanäle sind ihm größtenteils fremd. Eine Abwandlung dieses Typs nutzt jedoch das Unterzeichnen von Online-Petitionen als Ausdruck persönlicher Positionen. Der zweite Typ ist mit Social Media vertrauter als der erste und postet auf diesen Kanälen auch politische Inhalte. Eine Abwandlung dieses Typs unterschreibt zusätzlich zu einer recht aktiven Social-Media-Nutzung auch regelmäßig Online-Petitionen. Der dritte Typ wiederum gestaltet aktiv verschiedene Inhalte im Netz mit, nutzt Social Media und hat darüber hinaus bereits Gebrauch von der Möglichkeit gemacht, selbst eine Online-Petition zu erstellen. Auch dieser Typ unterzeichnet regelmäßig Online-Petitionen auf verschiedenen Plattformen. Da das Erstellen und Betreuen einer eigenen Online-Petition einen deutlich höheren Zeitaufwand (und meist auch ausgeprägteres Wissen zum entsprechenden Thema) erfordert als das Erstellen von Social-Media-Beiträgen, wird der dritte Typ als Erweiterung vom zweiten Typ verstanden, der nochmal deutlich mehr Ressourcen investiert, als die beiden vorangegangenen Typen und durch die Online-Petition eine weitere Form von Netzinhalten aktiv mitgestaltet.
Während die drei genannten Typen zusammen alle vorkommenden Online-Protestpraktiken dieses Samples beschreiben, unterscheiden sich viele Interview-Partner*innen untereinander bzgl. ihrer individuellen Ressourcen, Motive und Einstellungen. Die nun vorgestellten sechs Fallbeispiele thematisieren dabei eine Vielzahl der im Material beobachteten Aspekte und setzen diese in Relation zueinander, können jedoch nicht alle Themen der Analyse nochmal in ihrer Gänze würdigen. Innerhalb der Typisierung wird auch noch einmal Bezug auf die Auswahlkriterien des Samples genommen und thematisiert, welchen Einfluss Faktoren wie Organisationsgrad, Alter und Intensität des Engagements auf einzelne Protestpraktiken haben.
Während Abbildung 8.1 einen Überblick über die unterschiedlichen Handlungsrepertoires der drei Protesttypen gibt, befasst sich Abbildung 8.2 mit den Faktoren, die die Protesttypen bzgl. ihrer Handlungen beeinflussen. Dabei spielen sowohl Faktoren eine Rolle, die – wie im weiteren Verlauf gezeigt werden wird – bei allen Protesttypen erfüllt sind (z. B. Ressource Zeit), als auch solche, die bei den drei Typen unterschiedlich ausgeprägt sind (z. B. Datenschutzbedenken). In der Tabelle nicht dargestellt sind Faktoren, die dieser Untersuchung nach keinen maßgeblichen Einfluss auf das Praktikenrepertoire der Protesttypen haben (z. B. Organisationsgrad oder Alter). Die in Abbildung 8.2 genannten Einflussfaktoren werden in den nun folgenden drei Beschreibungen der Protesttypen aufgegriffen, bevor am Ende eine weitere Tabelle die verschiedenen Ausprägungen der Einflussfaktoren je Protesttyp zusammenfasst und visuell aufarbeitet.

8.1 Typ Web 1.0

Web 1.0 – Isabelle
Isabelle steht repräsentativ für den Typ „Web 1.0“, welcher das Internet hauptsächlich für Recherche- und Informationszwecke nutzt, Social Media nicht oder kaum für Protestaktivitäten verwendet und keine bis wenige Online-Petitionen unterzeichnet. Dieser Typ von Protest-Aktivist*innen konzentriert sich insb. auf Offline-Praktiken zivilgesellschaftlichen Engagements, nutzt aber auch dafür die Vorteile des Internets.
Isabelle (26 Jahre) ist weder Mitglied einer Partei noch einer Organisation, dafür aber in verschiedenen lokalen und informellen Gruppen aktiv. Sie verfügt als Studentin über eine vergleichsweise flexible Zeiteinteilung und als Digital Native über recht ausgeprägte PC- und Internet-Fähigkeiten.
Isabelle engagiert sich zivilgesellschaftlich, weil sie es als Muss empfindet und vertritt die Ansicht, dass in einer pluralen Gesellschaft jeder auf individuelle Art und Weise seinen Beitrag leisten kann. Sie engagiert sich am liebsten bei Projekten, bei denen sie mit anpacken kann. Hier zeigt sich ein sehr praktiken- und lösungsorientiertes Verständnis von Partizipation. Sie möchte andere Menschen zum Umdenken anregen und stellt auch an sich selbst den Anspruch, ganzheitlich zu handeln und ihre Vorsätze im Alltag so gut wie möglich einzuhalten. Alltagsbezug kann folglich als partizipationsbegünstigener Faktor für diesen Protesttyp gewertet werden. Isabelle versteht ihren Beitrag als zivilgesellschaftliches und gesellschaftspolitisches Engagement. Ihr Wunsch nach ganzheitlichem Wirken überträgt sich auch auf Arbeitszeitmodelle, denn Isabelle fordert ein neues Arbeitszeitmodell ohne 40-Stunden-Woche, sondern mit Zeit für zivilgesellschaftliches Engagement in Form von Projekten, in denen Dinge repariert, Gemüse angebaut, sich geholfen und Gesellschaft mitgestaltet wird. Zugehörigkeit empfindet sie bei gemeinsamen Aktionen. Ein Mitglied ist laut Isabelle jemand, der zu Gruppentreffen vor Ort kommt und sich aktiv beteiligt. Auch hier zeigt sich erneut das lösungsorientierte Verständnis von Engagement und die Wichtigkeit von konkreten Praktiken für diesen Protesttyp.
Isabelle nutzt das Internet hauptsächlich für die Uni und ihren Nebenjob, recherchiert online Informationen, liest E-Mails aus einigen E-Mail-Verteilern, empfängt Veranstaltungshinweise und hat insgesamt zwei oder drei Mal eine Online-Petition unterzeichnet. Social Media braucht sie nach eigener Aussage nicht und nennt darüber hinaus auch Datenschutzbedenken als Grund für ihre Entscheidung. Trotzdem findet Isabelle Social Media im Hinblick auf die Verbreitung von Informationen und das Erreichen von Menschen hilfreich, betont aber, dass das Internet alleine nicht ausreiche. Sie hält Netzaktivismus für sinnvoll, um ein Zeichen zu setzen, findet es darüber hinaus aber auch nötig, Gesellschaft aktiv mitzugestalten. An Isabelles Einstellung und ihren Aktivitäten lässt sich erkennen, dass sie für dieses aktive Mitgestalten keine formellen oder großen Organisationen benötigt. Dieser Protesttyp engagiert sich lieber in kleinen, lokalen Initiativen wie z. B. Repair-Cafés oder öffentlichen Gemeinschaftsgärten, um das unmittelbare Umfeld aktiv mitzugestalten. Aufgrund dieser Einstellung, lieber aktiv und lösungsorientiert mit anzupacken, beteiligt sich Isabelle nur selten an Straßendemos. Sie hält diese nur für sinnvoll, wenn sie besonders groß sind und viel Aufmerksamkeit erregen. Trotzdem partizipiert sie, wenn sie von jemandem direkt gefragt wird, bspw. bei einer Menschenkette in ihrem Wohnort. Direkt auf Partizipation angesprochen zu werden, hat somit mehr Einfluss auf die Entscheidung zu partizipieren, als die persönliche Einschätzung zur Wirkkraft dieser Aktion. Auch hier spielt eine Rolle, dass die entsprechende Aktion vor Ort war und Isabelle damit das Gefühl hatte, sich in ihrem direkten Umfeld einzubringen. Da Online-Petitionen nur selten Einfluss auf das direkte Umfeld haben, fühlt sich dieser Protesttyp hier nicht angesprochen. Zur Kritik des Clicktivism beschreibt Isabelle, zwischen Online- und Offline-Aktivismus keine so starke Kausalität zu sehen. Sie hält Online-Petitionen für eine willkommene Möglichkeit sich zeitsparend einzubringen, in einer Gesellschaft, die ihrem Empfinden nach stark von Beschleunigung und Zeitdruck geprägt ist. Die Newsletter von Campact und Avaaz hat sie jedoch wieder abbestellt und erklärt, dass es ihr lieber wäre, wenn sich jemand direkt neben sie stellt und ihr die Inhalte einer Petition erklärt, sodass sie dann direkt und auf Papier unterschreiben könne.
Für den Typ Web 1.0 spielen direkte Ansprache und ein örtlicher Bezug eine große Rolle. Nur wenn dieser sieht, dass er persönlich von einem Thema betroffen ist oder er es durch aktive Mitarbeit vor Ort selbst mitgestalten kann, bringt er sich ein. Damit fällt ein Großteil möglicher Online-Protestpraktiken aus dem Repertoire heraus. Trotzdem nutzt auch dieser Protesttyp das Internet, um sich über eigene Recherchen oder Newsletter zu informieren und schätzt Social Media grundsätzlich als hilfreich bzgl. der Mobilisierung für Protestaktionen ein. Isabelles Beispiel zeigt jedoch auch, dass nicht jeder Digital Native zwangsläufig alle Möglichkeiten von Online-Aktivismus ausnutzt und dass sich auch jüngere Bürger*innen aktiv mit Datenschutzfragen bei Social Media auseinandersetzen. Ein geringer Organisationsgrad bedeutet nicht zwangsläufig, dass jemand nicht aktiv werden kann. Dieser Protesttyp sucht sich für seine Bedürfnisse und Ansprüche lokale Initiativen, bei denen er konkret mitgestalten kann. Die Digitalisierung spielt dabei nur eine nebensächliche Rolle und beeinflusst das Bürgerschaftsverständnis kaum.
Web 1.0 + Online-Petitionen – Markus
Markus steht repräsentativ für den Typ Web 1.0 + Online-Petitionen, welcher hauptsächlich Web 1.0-Funktionen des Internets nutzt, kaum oder nicht auf Social Media aktiv ist und sich insb. außerhalb des Netzes engagiert. Anders als der vorangegangene Typ nutzt er jedoch auch die Möglichkeit, durch Online-Petitionen seine Ansichten auszudrücken.
Markus (71 Jahre) ist Sprecher eines BUND-AKs auf Landesebene und innerhalb des BUND sehr gut vernetzt. Als Rentner verfügt er über eine flexible Zeitplanung. Markus besitzt weniger gut ausgeprägte Technik- und Internet-Skills und hat insb. bei Social Media Probleme mit der Nutzung.
Wie auch Isabelle versteht Markus Engagement als Muss. In einer Demokratie müsse jeder ein Stück dazu beitragen. Er hat das Gefühl viel bewirken zu können, berät extern und nimmt als BUND Sprecher an Ausschüssen teil, bspw. im Hessischen Landtag. Die konkrete Wirkung seiner Aktionen ist für Markus jedoch zweitranging, viel wichtiger ist ihm, „Flagge“ (Markus, Z. 567) zu zeigen und sich eingemischt zu haben. Er bringt sich insb. in lokalen Projekten ein und Ortsbezug ist ihm wichtig, u. a. um Unterstützer*innen für diese Projekte zu finden.
Markus nutzt das Internet insb. für Recherchezwecke und zum Lesen von teils 300-seitigen Berichten. Social Media nutzt er nicht und erzählt, keine Zeit dafür zu haben, anderweitig bereits genug Informationen zu bekommen und in technischer Hinsicht nicht damit zurechtzukommen. „Ab und zu“ (Markus, Z. 302) unterzeichnet er jedoch Online-Petitionen bei Campact, Amnesty International und Change.org. Beim BUND unterstützt er „natürlich alle“ (Markus, Z. 313) Online-Petitionen, Avaaz hält er hingegen für ein Meinungsforschungsinstitut und äußert erhebliche Datenschutzbedenken. Die meiste Zeit investiert Markus in zahlreiche Telefonkonferenzen und die AK-Mitarbeit für den BUND. Für Straßendemos hat er entsprechend nur wenig Zeit und nimmt nur an besonders großen und wichtigen Demos teil. Am Internet schätzt dieser Protesttyp insb. Möglichkeiten der Informationsbeschaffung und Recherche. Auf die Kritik des Clicktivism angesprochen, erzählt Markus, dass er nicht glaube, dass diejenigen, die offline aktiv seien, sich durch Online-Petitionen von einer Teilnahme am Straßenprotest abhalten ließen. Wer sowieso aktiv sei, würde Petitionen noch mitmachen. Trotzdem zieht Markus einen Vergleich zum Ablasshandel der Kirche und sieht in Online-Petitionen eine Möglichkeit, sich ein reines Gewissen zu kaufen.
Das Beispiels von Markus zeigt, dass für ältere Generationen technische Schwierigkeiten ein Hinderungsgrund für die Nutzung von Social Media sein können. Mit dem Unterzeichnen von Online-Petitionen kommt er zurecht, im Internet Informationen zu recherchieren fällt ihm ebenfalls leicht, die Nutzung von Social-Media-Kanälen wie Facebook oder Twitter ist ihm jedoch zu komplex. Darüber hinaus ist Markus mit seiner Verbandsarbeit so ausgelastet, dass er laut eigener Aussage gar keine Zeit für Social Media hätte. Online-Petitionen sind für diesen Protesttyp zwar eine willkommene Möglichkeit, politische Forderungen ohne großen Zeitaufwand zu unterstützen, doch er achtet dabei sehr genau auf die Wahl der Petitionsplattform. Über Jahrzehnte des Engagements hinweg hat Markus sich ein verlässliches Netzwerkt aufgebaut und zeichnet sich durch einen vergleichsweise hohen Organisationsgrad aus. Auch an Markus‘ Bürgerschaftsverständnis hat die Digitalisierung nicht viel verändert. Er ist schon lange und zeitintensiv beim BUND aktiv, hat früh Prägungen erfahren, die ihn zum Umweltschutz gebracht haben und nutzt nun – Dank der Digitalisierung – Online-Partizipationsmöglichkeiten als Ergänzung zu seiner Verbandsarbeit. Diesem Protesttyp wurde die Informationsbeschaffung erleichtert und ihm stehen über das Internet mehr Informationen zur Verfügung als zuvor. Darüber hinaus haben Online-Petitionen sein Handlungsrepertoire erweitert. Doch der Fokus liegt weiterhin auf Straßenprotest und Verbandsarbeit.

8.2 Typ Web 2.0

Web 2.0 – Felix
Felix steht repräsentativ für den Typ Web 2.0. Dieser nutzt über Web 1.0-Funktionen wie E-Mails und den Newsletter-Empfang hinaus auch aktiv Social-Media-Kanäle für politische Zwecke, bspw. zum Mobilisieren für Aktionen. Nicht zwangsläufig bedeutet das, dass häufig Online-Petitionen unterzeichnet werden. Dieser Typ ist bei der Auswahl unterstützenswerter Petitionen stark selektiv.
Felix (24 Jahre) verfügt als Digital Native über gut ausgeprägte PC- und Internet-Kenntnisse und hat als Student eine vergleichsweise freie Zeiteinteilung. Er verfügt laut eigenen Angaben jedoch über geringe finanzielle Ressourcen.
Felix engagiert sich, weil er der Meinung ist, dass kommenden Generationen eine lebenswerte Welt hinterlassen werden muss. Ihm geht es insb. darum, Aufmerksamkeit auf ein Thema zu lenken und aufzuklären. Kompromisse zu erzielen und Zwischenziele zu erreichen, hält er ebenfalls für Erfolge. Felix ist der Meinung, dass junge Leute durch kreative Formate angesprochen werden müssten, sodass man sie zuerst für Engagement und langfristig auch für Wahlbeteiligung gewinnen könne. Dem Internet schreibt er dabei eine Schlüsselrolle zu, denn übersichtlich aufgebaute Webseiten und einen guten Zugang zu Informationen versteht Felix als Grundlage jeder Beteiligung. Er vertritt ein deliberatives Demokratieverständnis und hält es für wichtig, zu diskutieren und sich mit andersdenkenden Menschen auseinander-zusetzen. Als Mitglied einer Organisation versteht sich Felix erst, wenn er auch zu Treffen und Aktionen geht. Geld zu spenden reicht seiner Meinung nach nicht aus. Ähnlich wie bei Isabelle zeigt sich hier ein praktikenorientiertes Verständnis von Engagement.
Dieser Protesttyp teilt regelmäßig politische Inhalte auf Social Media. Er lässt sich von geringen Rückmeldungen auf seine Beiträge jedoch nicht entmutigen, denn er will es zumindest versucht haben. Für Felix ist die tatsächliche Wirkung seiner Praktiken in diesem Fall weniger wichtig als seine persönlichen Prinzipien und der Eigenanspruch. Beim Unterzeichnen von Online-Petitionen geht dieser Protesttyp stark selektiv vor und unterzeichnet nur, wenn er ausreichende Information zu entsprechendem Thema hat. Felix nutzt das Netz insb. für ausgiebige Informationsrecherchen und kommentiert im Internet gepostete Inhalte regelmäßig. Straßenprotest ist ihm wichtig, denn dem Netz werde kaum Bedeutung beigemessen. Er beobachtet eine deutlich höhere Medienresonanz bei Straßendemos und bemängelt, dass auf große Online-Aktionen wie bspw. beim Thema TTIP keine Berichterstattung folgen würde. Grundsätzlich beobachtet Felix auf Straßendemos mehr Informationsaustausch und Gespräche unter Teilnehmenden. Auch dies stützt wieder sein deliberatives Demokratieverständnis. Im Netz würden Nutzer*innen hingegen häufig die Hemmschwelle verlieren und Dinge äußern, die sie offline so nie sagen würden. Ähnlich wie Markus vergleicht auch Felix Clicktivism-Praktiken mit der Kirche im Mittelalter.
Als Digital Native bewegt sich Felix sicher in Online-Sphären und nutzt auch Social-Media-Kanäle zur Äußerung politischer Ansichten. Darüber hinaus recherchiert dieser Protesttyp online Informationen und stellt einen hohen Anspruch an Webseiten und Petitionsplattformen. Felix äußert eine ähnliche These wie Bennett (2008: 14), der ebenfalls betont, dass jüngere Bürger*innen durch für sie attraktive Formate angesprochen werden müssen, wenn verhindert werden soll, dass Wahlbeteiligung und Partizipation in Parteien sinken. Felix vertritt das Bürgerschaftsverständnis einer „actualizing citizenship“ (Bennett 2008) und versteht Online-Aktivismus als Möglichkeit, jüngere Menschen langfristig (wieder) für Partizipation zu gewinnen. Ähnlich wie andere Interview-Partner*innen verfügt auch er über vergleichsweise viele Ressourcen und wurde in seiner Jugend von der Familie politisch sozialisiert. Durch die Digitalisierung stand Felix seit Beginn seines Engagements immer eine Breite von Protestpraktiken zur Verfügung, die er insb. bei der Informationsbeschaffung und Äußerung seiner politischen Ansichten auf Social Media nutzt.
Web 2.0 + Online-Petitionen – Mareike
Mareike steht repräsentativ für den Typ Web 2.0 + Online-Petitionen, welcher Web 1.0- und Web 2.0-Funktionen aktiv nutzt, Social Media für politische Zwecke einbindet und darüber hinaus häufig Online-Petitionen unterzeichnet.
Mareike (49 Jahre) hat sich als Social-Media-Managerin selbstständig gemacht. Sie verfügt über sehr ausgeprägte PC-, Social-Media- und Internet-Kompetenzen, welche sie sich u. a. in VHS-Kursen angeeignet hat. Da sie selbstständig ist, hat sie eine recht freie Zeiteinteilung. Sie würde gern öfter an Straßendemos teilnehmen, beschreibt jedoch, nicht die Ressourcen zu haben, weit anreisen zu können.
Für Mareike ist es ein Muss für jeden, der Verstand hat, sich zivilgesellschaftlich einzubringen. Insbesondere mit Blick auf Kinder müsse man sich für eine lebenswerte Welt einsetzen. Ähnlich wie Felix agiert Mareike hier wert- und fairnessorientiert nach dem Prinzip der Generationengerechtigkeit.1 Sie beschreibt viele Ungerechtigkeiten und ein niedriges Vertrauen in Politker*innen, was sie zu dem Schluss kommen lässt, dass wir in keiner Demokratie leben, sondern der Kapitalismus vorherrsche. Politiker*innen würden machen, was sie wollen und Reiche würden in diesem System bevorzugt werden. Als Mitglied fühlt sie sich erst, wenn sie sich aktiv beteiligt. Zugehörigkeit kann für Mareike sowohl im Netz als auch auf der Straße entstehen. Insbesondere in geschlossenen Facebook-Gruppen hat sie das Gefühl, mit Gleichgesinnten zu einem Thema zusammenkommen zu können.
Mareike unterzeichnet nach eigenen Angaben alle Online-Petitionen, die sie auf Facebook, Twitter und Instagram sieht, weil sie das Gefühl hat, dass sie alle unterstützt werden müssen. Sie unterschreibt Petitionen bei Avaaz, Campact und Change.org und gibt an, dies täglich zu tun. Darüber hinaus liest dieser Protesttyp Newsletter, informiert sich auf verschiedenen Social Media-Kanälen und teilt dort aktiv politische Inhalte. Zusätzlich zu diesen Aktivitäten hat Mareike einen eigenen Blog, auf dem sie zu internetrelevanten Themen Beiträge schreibt. Sie leitet Online-Petitionen auch an Bekannte weiter. An Straßendemos hat sie hingegen zuletzt selten teilgenommen und begründet dies mit der weiten Anreise. Für Mareike gehören Straßen- und Netzaktivismus zusammen. Sie ist der Meinung, dass Demos vor dem Bundestag die Politiker*innen in ihren Büros besser erreichen als Online-Petitionen. Trotzdem beschränken sich ihre Praktiken eher auf den Online- als auf den Offline-Bereich. Privatpersonen sollten laut Mareike im Netz sehr vorsichtig mit ihren Daten sein und sich gut überlegen, wo sie wie viele private Details angeben. Mareike beschreibt die Anzahl an Online-Petitionen, die sie erreichen, als Flut und wünscht sich einen Filter oder ein Unterscheidungssystem, das verschiedene Themen und/oder Dringlichkeiten vorsortiert. Einen großen Vorteil des Internets sieht dieser Protesttyp im Mobilisierungspotenzial für Straßenaktionen.
Am Fall von Mareike zeigt sich, dass eine berufliche Affinität zum Internet und zu Social Media individuelle Praktiken von Online-Aktivismus begünstigen kann. Gleichzeitig führen diese Fachkenntnisse jedoch auch dazu, dass vor Datenschutzrisiken im Internet gewarnt wird. Ein geringes Vertrauen in Politiker*innen und deren Gemeinwohlorientierung sorgt dafür, dass Bürger*innen wie Mareike alternative Einflussmöglichkeiten suchen, die dann häufig im Online-Bereich zu verorten sind. Das Beispiel von Mareike veranschaulicht deutliche Einflüsse von Digitalisierung auf den Wandel von Protestpartizipation. Als heute 49-Jährige war sie bereits vor der Digitalisierung zivilgesellschaftlich engagiert, hat sich jedoch die nötigen Fähigkeiten angeeignet, um heute ein breites Repertoire an Protestpraktiken zur Verfügung zu haben – online gleichermaßen wie offline. Damit ist Mareike ein Beispiel für einen Digital Immigrant, der die Vor- und Nachteile von Netzprotest erkannt hat und basierend darauf verschiedene Formen der Partizipation für sich nutzt.

8.3 Typ Prosumerin

Prosumerin (Web 2.0 + Online-Petitionen) – Sonja
Sonja steht gemeinsam mit Stefanie repräsentativ für den Typ Prosumerin. Dieser Typ nutzt sowohl Web 1.0- als auch Web 2.0-Funktionen aktiv und bindet Social-Media-Kanäle für politische Zwecke ein. Außerdem werden häufig Online-Petitionen unterzeichnet. Darüber hinaus macht dieser Typ auch Gebrauch von der Möglichkeit, selbst eine Online-Petition zu erstellen.
Sonja (56 Jahre) ist über den BUND, die Grünen, eine Bürgerinitiative gegen Fracking und andere kleine Initiativen sehr gut vernetzt. Sie verfügt über gute PC- und Internet-Skills. Als Selbstständige kann sie sich ihre Arbeit flexibel einteilen und damit auch Engagement und Beruf vergleichsweise gut miteinander verbinden. Sonja beschreibt, wie Politiker*innen in den 1980ern „verbrecherische Projekte“ mit Gewalt „durchgepeitscht“ (Sonja, Z. 209) hätten und dass dies bei ihr zu einer Desillusionierung und Misstrauen gegenüber Politik geführt habe.
Laut Sonja müssten Ressourcen gerechter verteilt und durch Bürger*innen direkter mitbestimmt werden. Sie zeichnet sich durch eine kapitalismuskritische, basisdemokratische Grundeinstellung und Werteorientierung aus und fordert mehr direktdemokratische Mitentscheidungen durch Bürger*innen, da Politiker*innen machen würden, was sie wollen. Sonjas Vertrauen in Politik ist gering, das Vertrauen in Mitbürger*innen und deren Entscheidungskompetenzen hingegen hoch. Entsprechend führen diese Einstellungen zu einer Forderung nach mehr Mitbestimmung durch eben diese – in ihren Augen – kompetenten Gruppen. Wer gar nichts unternimmt, handelt laut Sonja grob fahrlässig. Hier liegt ein Verständnis von Partizipation als Pflicht vor. Eine gute Möglichkeit, Menschen für mehr Engagement zu motivieren, sieht Sonja in der persönlichen Betroffenheit und im konkreten Ortsbezug, wie bspw. im Fall des Trassenbaus. Über die schon genannten Aspekte hinaus, ist für Sonja ein Motiv für Engagement, vor Ort neue Leute kennenzulernen. Dieses Motiv stärkt die Bedeutung von Offline-Engagement für Sonja. Gemeinschaft ergibt sich für sie auch aus einer gemeinsamen Protestgeschichte und dem Teilen von Erfahrungen. Gemeinsame Aktionen und Themen verbinden Sonja mit anderen Aktivist*innen. Als Mitglied einer Organisation fühlt sie sich insb. dann, wenn ein persönlicher Kontakt besteht. Hier spielen emotionale Faktoren eine wichtige Rolle.
Sonja engagiert sich beim BUND, in einer BI gegen Fracking und bei den Grünen. Sie spendet Geld an mehrere Organisationen und erzählt bei Campact, foodwatch, dem Umweltinstitut, dem BUND und Change.org häufig Online-Petitionen zu unterzeichnen. Insgesamt unterscheibt sie ca. 10 bis 20 Petitionen pro Monat. Alles was ihr per E-Mail vorgeschlagen wird, möchte sie unterstützen und unterschreibt oft auch „aus Solidarität“ (Sonja, Z. 697). Obwohl Sonja es für wenig effektiv hält, leitet sie E-Mails auch weiter. Auch dieser Protesttyp teilt politische Inhalte auf Social Media. Ähnlich wie bei Markus und Felix ist auch für Sonja die tatsächliche Wirkung von einzelnen Praktiken nur zweitrangig und sie möchte es zumindest versucht haben. Straßenprotest hält Sonja für sehr wichtig, besonders um Präsenz zu zeigen und notfalls zivilen Ungehorsam zu leisten. Verbundenheit entsteht bei ihr durch gemeinsame Aktionen und Zusammenarbeit – also insb. offline. Das Internet und Online-Petitionen versteht dieser Protesttyp u. a. als Informationsmedien. Als Vorteil von Online-Petitionen im Vergleich zu Offline-Petitionen nennt Sonja u. a., dass langfristig mit Unterstützer*innen kommuniziert und um Spenden gebeten werden kann. Sonja hat bei Change.org eine eigene Online-Petition gegen Fracking erstellt, die ihren Ursprung in einer Offline-Petition hatte, um die Reichweite zu vergrößern, dann aber auf Change.org übertragen wurde.
Ähnlich wie bei Mareike führt auch bei Sonja ein geringes Vertrauen in Politiker*innen dazu, dass sie sich alternative Einflussmöglichkeiten sucht – in diesem Fall u. a. mit der Erstellung einer eigenen Online-Petition. Gegensätzlich zu Mareike ist Sonja jedoch in vielen Organisationen vernetzt und sogar Mitglied einer Partei. Obwohl sie nicht zu den Digital Natives zählt, nutzt sie zahlreiche Engagementmöglichkeiten – sowohl online als auch offline – und ist im Sample der Interview-Partner*innen damit eine der am breitesten aufgestellten engagierten Bürger*innen. Sie ist in lokalen und überregionalen Organisationen aktiv, unterstützt eine lokale BI, ist Mitglied einer Partei, spendet Geld an mehrere Organisationen, teilt politische Inhalte auf Social Media, unterschreibt häufig Online-Petitionen und hat sogar selbst eine Online-Petition erstellt. Weder ihr Alter, noch ihre Berufstätigkeit hindern Sonja daran, sich auf vielfältige Weise sowohl online als auch offline für Umweltschutz zu engagieren. Sonjas Beispiel zeigt darüber hinaus, dass Online-Aktivismus kein Hinderungsgrund für Engagement in Organisationen oder Parteien sein muss und die Kritik des Clicktivism empirischen Überprüfungen in diesem Fall nicht standhält.
Prosumerin+ (Web 2.0 + Online-Petitionen + Blog) – Stefanie
Stefanie steht repräsentativ für den Typ Prosumerin+, welcher sowohl Web 1.0- als auch Web 2.0-Funktionen aktiv verbindet und Social-Media-Kanäle für politische Zwecke nutzt. Außerdem werden häufig Online-Petitionen unterzeichnet und ein eigener Blog betreut. Darüber hinaus macht dieser Typ Gebrauch von der aufwendigeren Möglichkeit, selbst eine Online-Petition zu erstellen.
Stefanie (29 Jahre) verfügt u. a. durch ihr Alter und Studienfach über ausgeprägte technische und Social-Media-Skills. Als Studentin hat sie ein relativ flexibles Zeitkontingent und über ihren Nebenjob in einem umweltpolitischen Forschungsinstitut viel Fachwissen. Durch ihre Zusammenarbeit mit der DUH und Change.org ist Stefanie gut vernetzt.
Laut Stefanie müsse man aktiv werden, wenn man ein Problem mit etwas hat. Diese Verantwortung könne man weder auf andere, noch auf Politiker*innen schieben, nur weil es deren Job sei. Sie wünscht sich, dass alle von sich aus aktiv werden und sich zumindest Gedanken darüber machen, wie Zukunft gestaltet werden muss. Während Stefanie einerseits Politik als sehr komplexes und undurchsichtiges Feld bezeichnet, beobachtet sie andererseits Prozesse von mehr Bürgerbeteiligung, Bürgernähe und Mitbestimmung durch neue Formate. Sie versteht, dass Engagement schwer fällt, wenn kein persönlicher Bezug vorhanden ist und nennt für sich selbst den Alltagsbezug zu allgegenwärtigen Themen wie Plastik(-vermeidung) als wichtige Motivation. Stefanie fühlt sich nicht als Mitglied einer Organisation, sondern der Gesellschaft. Verbundenheit empfindet sie durch gemeinsame praktische Aktionen und persönliche Präsenz, finanzielle Unterstützung alleine reicht ihr dafür nicht aus. Wie bei den anderen Typen bereits ausgeführt, zeichnet auch Stefanie sich durch ein praktikenorientiertes und alltagsbezogenes Verständnis von Partizipation aus.
Stefanie betreibt einen Blog auf dem sie zum Thema Upcycling schreibt und hat gemeinsam mit der DUH ReUse-Tage und Tüten-tausch-Tage organisiert. Dabei entstand die Idee für eine Online-Petition mit der Forderung nach einer Abgabe auf Plastiktüten. An diesem Beispiel zeigt sich die enge Verknüpfung und wechselseitige Wirkung von online und offline in Stefanies Engagement. Die Online-Petition hat Stefanie gemeinsam mit einer Mitarbeiterin der DUH bei Change.org erstellt. Auch dieser Protesttyp zeichnet sich durch ein häufiges Unterzeichnen von Online-Petitionen auf verschiedenen Plattformen und eine intensive Social-Media-Nutzung aus. Aus Datenschutzbedenken postet Stefanie zwar nicht (mehr) so viel, nutzt das Internet jedoch sehr ausgiebig für die Recherche und Informationsbeschaffung. Wie auch im Fall von Isabelle, belegt dieses Verhalten, dass auch Digital Natives ihre Internetaktivitäten kritisch hinterfragen.
Stefanie nimmt nur sehr selten an Straßendemos teil, da sie sich grundsätzlich in größeren Menschenmengen unwohl fühlt. Bei ihr thematisch besonders wichtigen Demos wie der „Wir-haben-es-satt“-Demo nimmt sie jedoch teil, u. a. weil sie bunt, kreativ und friedlich sei. Entgegen der Clicktivism-Kritik und der These, dass Bürger*innen aus Bequemlichkeit nicht an Straßenprotesten partizipieren könnten, zeigt Stefanies Beispiel, dass es durchaus nachvollziehbare, persönliche Gründe geben kann, die gegen bestimmte Formen von Offline-Partizipation sprechen. Das Internet schätzt dieser Protesttyp als sehr wichtig ein, um sich zu informieren, Berichte zu recherchieren, Informationen zu verbreiten und über Online-Petitionen persönliche Anliegen zum Ausdruck bringen zu können. Stefanie bspw. würdigt die Infrastrukturen, die Petitionsplattformen wie Change.org Bürger*innen bieten. Gleichzeitig findet sie Campact & Co. jedoch auch „spam-ig“ (Stefanie, Z. 765) und wünscht sich eine Reduzierung auf bestimmte Themen, um nicht allzu viele Unterstützungsanfragen zu erhalten. Dies zeigt, dass auch Bürger*innen, die als Digital Natives bezeichnet werden können und Online-Petitionen gegenüber grundsätzlich aufgeschlossen sind, Kritik an diesem Partizipationsformat haben und mit der ‚Flut‘ von Petitionen überfordert sein können. Auf die Kritik des Clicktivism angesprochen, erzählt Stefanie, das Netz als zusätzlichen Kanal und weiteres, unterstützendes Werkzeug zu nutzen, das insb. diejenigen motiviert, sich einzubringen, die nicht auf die Straße gehen würden.
Stefanie ist ein Beispiel für eine engagierte Bürgerin, die zwar durch die DUH gut vernetzt ist und für ihre Projekte Unterstützung erhalten hat, sich darüber hinaus jedoch durch einen eher geringen Organisationsgrad auszeichnet. Auch an Straßendemos nimmt sie nur selten teil. Ähnlich wie Isabelle engagiert sich Stefanie aber aktiv in verschiedenen kleinen, lokalen Initiativen. Anders als Isabelle nutzt dieser Protesttyp auch das Internet für sein Engagement. Mit breit aufgestellten Social-Media-Aktivitäten, einem Blog und einer eigenen Online-Petition gehört Stefanie zu den online aktivsten Interview-Partner*innen. Ähnlich wie bei Mareike können auch bei Stefanie fachliche und berufliche Motive dafür benannt werden. Sie ist ein Beispiel für die von Bennett/Segerberg (2012: 744) aufgestellte These einer wachsenden Personalisierung und Individualisierung von Engagement, einer Zunahme von „personalized action formations“ (ebd.) und eines Rückgangs von Mitgliedschaften und Loyalität gegenüber Institutionen. Stefanie zeichnet sich durch ein breites und intensives Online-Engagement aus, welches jedoch – entgegen der Clicktivism-Kritik – nicht zur Konsequenz hat, dass sie sich deswegen nicht offline engagiert. Sie ist zwar weder leidenschaftliche Straßendemonstrantin noch Mitglied eines Umweltschutzverbandes, organisiert jedoch lokal und informell Straßen-Protestaktionen, die online und offline wirksam miteinander verbinden und eine hohe Medienresonanz erzeugen.
Zusammenfassung
Die drei hier vorgestellten Typen decken zwar nicht alle im Material vorkommenden Kategorien oder Aspekte – insb. auch Motive für Engagement – im Detail ab, beschreiben aber die wichtigsten Protestpraktiken online und offline und setzen sie in Relation zu einzelnen partizipationsbegünstigenden Faktoren wie der Einstellung zur Wirksamkeit von Protestpraktiken, zum Bürgerschaftsverständnis, individuell vorhandenen Ressourcen und Motiven. Insgesamt wird deutlich, dass für die meisten Bürger*innen Netz und Straße zusammengehören und dass sich kaum einer den Vorteilen des Internets für Protestpartizipation verschließt. Wenn Online-Protestpraktiken nicht genutzt werden, dann entweder, weil die nötigen Fähigkeiten nicht vorhanden sind und altersunabhängig kein Interesse daran besteht, sich diese Fähigkeiten anzueignen oder aus Datenschutzbedenken. Eine geringe Einschätzung zur Wirksamkeit bspw. von Online-Petitionen hält die meisten nicht vom Unterzeichnen dieser Petitionen ab. Man möchte alle zur Verfügung stehenden Kanäle genutzt haben und solche, die wenig Zeit oder Aufwand kosten, erledigen viele Bürger*innen nebenbei noch mit. Wer über die nötigen (Zeit-)Ressourcen und technischen Fähigkeiten verfügt, tendiert folglich zu Typ Web 2.0 – unabhängig von der Einschätzung zur Wirksamkeit. Desinteresse und Datenschutzbedenken – so wie im Fall von Typ Web 1.0 – können jedoch von der Nutzung digitaler Protestpraktiken abhalten.
Geringes Vertrauen in Politiker*innen führt zur Suche nach alternativen Einflussmöglichkeiten, welche – wie in den Fällen von Typ Web 2.0 + Online Petition und Typ Prosumerin – häufig in einer Online-Sphäre anzutreffen sind. Damit stellt diese Einstellung einen online-begünstigenden Faktor dar, der die Wahrscheinlichkeit für eine Zugehörigkeit zu Typ Web 2.0 oder Typ Prosumerin erhöht. Wichtig ist an dieser Stelle jedoch erneut anzumerken, dass diese Form von Engagement nicht zu Lasten von Offline-Partizipationsformen geht, wie im Fall von Sonja ausführlich veranschaulicht.
Wer wie Isabelle oder Stefanie besonders lösungsorientiert und alltagsbezogen agieren möchte, bringt sich immer auch außerhalb des Internets ein. Dies bedeutet aber nicht zwangsläufig, dass die entsprechende Person immer Typ Web 1.0 zuzuordnen ist. Denn das Beispiel von Stefanie (Typ Prosumerin+) macht deutlich, dass Online und Offline stark miteinander verwoben sein und sich gegenseitig beeinflussen können. Entsprechend kann das Bedürfnis nach einem ausgeprägten Alltagsbezug in einer Online-Offline-Kombination von Protestpraktiken ebenso zu einer Zugehörigkeit zum Typ Prosumerin führen.
Vergleicht man Isabelle und Stefanie – also die beiden am weitesten auseinanderliegenden Typen – mit Bezug auf ihren jeweils geringen Organisationsgrad, wird deutlich, dass dieser nicht dafür ausschlaggebend ist, ob sich Bürger*innen vermehrt offline oder online einbringen. Trotz eines geringen Organisationsgrades haben beide ihre Wege gefunden, sich zu engagieren: Isabelle vermehrt offline und Stefanie gleichermaßen online wie offline.
Ein deliberatives Demokratieverständnis mit Fokus auf Gespräche, Informationszugang und den Austausch von Informationen scheint in der Tendenz gegen eine häufige Beteiligung an Online-Petitionen zu sprechen. Zwar wird der Mehrwert des Internets als Informationsquelle gewürdigt und genutzt, ebenso werden politische Beiträge auf Social Media verfasst und geteilt, doch Isabelle (Typ Web 1.0) bspw. wünscht sich lieber einen Menschen neben ihr stehend, der ihr die entsprechende Petition erklärt und ihre Unterschrift auf Papier entgegennimmt. Und auch Felix (Typ Web 2.0) – ebenfalls zurückhaltend beim Unterzeichnen von Online-Petitionen – schätzt besonders die Gespräche auf Demonstrationen und vermutet, sich online in einer Blase von Gleichdenkenden doch eher im Kreis zu drehen.
Die nun folgende Abbildung 8.3 fasst alle Einflussfaktoren – partizipationsbegünstigend oder auch -verhindernd – noch einmal zusammen und macht dabei deutlich, dass die Zuordnung zu einem der drei Protesttypen insb. von den Faktoren Technik-Skills, Datenschutzbedenken und Bürgerschaftsverständnis abhängig ist. Sind entsprechende Technik-Skills ausgeprägt oder sogar stark ausgeprägt, ist eine Zuordnung zu Typ Web 2.0 oder Prosumerin wahrscheinlicher. Stark ausgeprägte Datenschutzbedenken führen hingegen dazu, dass Bürger*innen eher bei Web 1.0-Praktiken verweilen. Wenn das Internet als eigenständiger Protestraum verstanden wird, der Bürger*innen neue Partizipationsmöglichkeiten eröffnet und von diesen auch Gebrauch gemacht wird, ist eine Zuordnung zum Protesttyp Prosumerin wahrscheinlich. Somit spielen bei der Differenzierung der drei Typen insb. Kompetenzen (Technik-Skills), die Ausprägung des Vertrauens in ICTs (Datenschutzbedenken) und Wertorientierungen (Bürgerschaftsverständnis) eine entscheidende Rolle. Darüber hinaus müssen für die Zuordnung zu jedem der Typen andere Einflussfaktoren erfüllt sein (z. B. eine hohe oder flexible Zeiteinteilung), die sich zwischen den drei Typen jedoch nicht maßgeblich unterscheiden.
Um allen in der Empirie ausgearbeiteten Kategorien gerecht zu werden, folgt nun im Fazit dieser Arbeit noch einmal eine Zusammenfassung aller Ergebnisse. Hier wird darüber hinaus erneut explizit Bezug auf die Frage nach einem Wandel von Bürgerschaft im Zuge der Digitalisierung genommen.
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Fußnoten
Metadaten
Titel
Typen von Protest-Aktivist*innen
verfasst von
Lisa Villioth
Copyright-Jahr
2023
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-40532-8_8