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2010 | Buch

Hinter dem Schleier des Beratungsgeheimnisses

Der Willensbildungs- und Entscheidungsprozess des Bundesverfassungsgerichts

verfasst von: Uwe Kranenpohl

Verlag: VS Verlag für Sozialwissenschaften

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Über dieses Buch

Als „ein deutsches Geheimnis“ bezeichnet Heinrich Wefing in seiner im Sommer 2009 in der Wochenzeitung „Die Zeit“ veröffentlichten Reportage das Bundesverfassungsgericht. Kein anderes Verfassungsorgan genieße vergleichbares Vertrauen, doch um so kurioser sei es, „dass fast nichts über dieses Gericht bekannt ist“ (Wefing 2009). Die vorliegende S- die, die im Sommer 2009 von der Philosophischen Fakultät der Universität Passau als Ha- litationsschrift angenommen wurde, soll einen Beitrag dazu leisten, die Vorgänge in Kar- ruhe transparenter zu machen und den ‘Schleier’ ein wenig zu lüften, der die Willensb- dungs- und Entscheidungsprozesse vor den Augen des Publikums verborgen hält. Dabei ist die Metapher des ‘Schleiers’ durchaus mit Bedacht gewählt. Denn Karlsruhe ist gerade keine klassische ‘black box’, über deren Innenleben nichts nach außen dringt, sondern die Richterinnen und Richter des Bundesverfassungsgerichts lassen bisweilen von sich aus einige wenige Einblicke in ihren Arbeitsprozess zu, etwa durch die Publikation von Sondervoten oder auch mitunter sehr umfangreichen Entscheidungsbegründungen. Auß- dem mag manchmal der eine oder andere Beobachter den Eindruck haben, durch den ‘Schleier des Beratungsgeheimnisses’ hindurch zumindest einen schemenhaften Eindruck der Vorgänge im Gericht erhaschen zu können.

Inhaltsverzeichnis

Frontmatter

Vorüberlegungen

1. Einleitung
Zusammenfassung
Der „Gang nach Karlsruhe“ (Wesel 2004) ist in der politischen Diskussion der Bundesrepublik Deutschland zum ‘geflügelten Wort’ geworden und verdeutlicht sehr anschaulich, welch zentrale Rolle die Verfassungsrechtsprechung im politischen System Deutschlands nach 1945 gewonnen hat. Dabei wird dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in Meinungsumfragen – nahezu unbeeinflusst von der öffentlichen Diskussion um kontroverse Entscheidungen des Gerichts – unter den staatlichen Institutionen stets das höchste Vertrauen entgegengebracht (Vorländer/Schaal 2002: 357-364). Als der publizistische Deutungskampf, ob die Bundesrepublik nach der Vereinigung und dem Umzug von Parlament und Regierung nun ‘Bonner Republik’ bleibe oder ‘Berliner Republik’ werde, allmählich abebbte, postulierte der Titel einer kleinen Schrift, die deutsche Politik werde seit fünf Jahrzehnten weder an Spree noch Mittelrhein grundlegend geprägt: Die Bundesrepublik sei doch eigentlich die „Karlsruher Republik“ (Schaal/Friedel/Endler 2000)! Diese These – wenn auch augenzwinkernd formuliert – verwies treffend auf eine Besonderheit des politischen Prozesses der Bundesrepublik Deutschland. Agieren in den roten Roben der Richter am BVerfG doch Personen, denen schon zahlreiche machtvolle Attribute zugeschrieben wurden.
Uwe Kranenpohl
2. Zur Methodik der Studie
Zusammenfassung
Die Frage, wie stark ein sozialwissenschaftlicher Forschungsprozess durch explizit formulierte Theorien angeleitet und strukturiert werden muss, soll bzw. darf, stellt gleichsam die ‘Gretchenfrage’ der Sozialwissenschaften dar: laufend diskutiert, Kontroversen anstachelnd, aber möglicherweise nie abschließend geklärt.
Uwe Kranenpohl

Der Willensbildungs- und Entscheidungsprozess im BVerfG

3. Die Struktur des internen Entscheidungsprozesses
Zusammenfassung
Wie bei Gerichtsverfahren der Fachgerichtsbarkeit sind auch die Abläufe beim BVerfG relativ klar verregelt. Dabei weist das Prozessrecht für Verfahren vor dem BVerfG vielfältige Variationen auf (Schlaich/Korioth 2007: 44 [Rn. 77]), da es für einzelne Verfahrensarten sehr unterschiedlich geregelt sein kann (§§ 36ff. BVerfGG). Darauf weist auch einer der Interviewpartner explizit hin: Wir haben im Grunde ja inzwischen vier Entscheidungstechniken: Senat, stattgebende Kammerentscheidung, Kammerentscheidung mit ausführlicher Begründung und die ohne – und das sind ganz unterschiedliche gerichtsverfassungsrechtliche Welten. (Interview Nr. 2)
Uwe Kranenpohl
4. Der Einfluss der Berichterstatter
Zusammenfassung
Die Beschreibung der Struktur des Willensbildungs- und Entscheidungsprozesses im BVerfG macht die zentrale Funktion, die der zuständige Berichterstatter bei der Behandlung eines Vorgangs spielt, deutlich. Wie groß sind aber die sich dadurch für ihn eröffnenden Handlungsspielräume? Oder überwiegen doch die Restriktionen, die sich aus dem diskursiven Charakter der Beratung ergeben? Schließlich ist zu prüfen, ob sich durch die Eigenheiten des Kammerverfahrens die Handlungsoptionen des Berichterstatters verstärken.
Uwe Kranenpohl
5. Die Beratung als Forum ‘ausgewogener kritischer Deliberation’
Zusammenfassung
Die Struktur des Entscheidungsprozesses beschränkt aber nicht allein die Einflussnahme eines Berichterstatters und seines Dezernats auf die Behandlung eines Vorgangs. Die beschriebene Arbeitsorganisation trägt auch dazu bei, dass die Beratung im Verfahren vor dem BVerfG stark am Interaktionsmuster der ‘ausgewogenen kritischen Deliberation’ ist.
Uwe Kranenpohl
6. Handlungsressourcen in der Beratung
Zusammenfassung
Welche Ressourcen können aber einen der Akteure in die Lage versetzen, in der Beratung Einfluss zu nehmen – sind also von zentraler Bedeutung im Erklärungsmodell des Entscheidungsspiels?
Uwe Kranenpohl
7. Konformität und Heterogenität
Zusammenfassung
Für die Güte der Entscheidungen des BVerfG ist es essentiell, dass das Interaktionsmuster der ‘ausgewogenen kritischen Deliberation’ in den Beratungen dominiert, denn der Qualität des Diskurses bekommt es im Zweifel, wenn es eine Vielfalt möglicher Lösungsvorschläge gibt, die sich der kritischen Bewertung stellen, die aber von dem Willen zu einer kollegialen Lösung getragen ist. (Hoffmann-Riem 2006: 16)
Uwe Kranenpohl

Die Kommunikation des BVerfG mit der Gesellschaft

8. Legitimität und Kommunikation
Zusammenfassung
Nüchtern ist zu konstatieren, dass auch das BVerfG einem Legitimationsdruck seitens der öffentlichen Meinung ausgesetzt ist. Denn judizierte es unbekümmert um das gesellschaftliche Handeln und Denken, so liefe es Gefahr, dass es mit seinem Ansehen auch seinen Einfluss einbüßte. (Limbach 2002: 321f.)
Uwe Kranenpohl
9. Transparenz, Integration und Legitimation
Zusammenfassung
Zwar bedarf das Entscheidungsverfahren, welches der Rechtsprechung des BVerfG zugrunde liegt, der strikten Achtung des Beratungsgeheimnisses, um die grundsätzliche Möglichkeit zur Institutionalisierung einer ‘ausgewogenen kritischen Deliberation’ sicherzustellen, dennoch stellt auch die ‘Transparenz’ der Rechtsprechung eine zentrale Ressource für das erfolgreiche Handeln der Karlsruher Richter dar. Diese erschöpft sich jedoch nicht allein in einer möglichst professionellen medialen Vermittlung der Institutionen, sondern manifestiert sich auch darin, den Entscheidungsprozess in spezifischer Weise nachvollziehbar zu machen. Dies ist auch ein wesentlicher Aspekt der von der Verfassungsrechtsprechung zu bewältigenden Integrationsfunktion (Schaal 2000a; Starck 2000).
Uwe Kranenpohl

Legitimationsressourcen des BVerfG

10. Struktursicherung durch externe Steuerung
Zusammenfassung
Weder organisatorische Maßnahmen zur Sicherung ‘ausgewogener kritischer Deliberation’ noch alle Bemühungen um Transparenz nützten dem BVerfG, verfügte es nicht zugleich über Mechanismen zur Absicherung seiner Binnenstruktur. Dabei kommen – mitunter sehr subtile – externe Steuerungsmöglichkeiten des strenggenommen über keine Machtmittel zur Durchsetzung seiner Entscheidungen verfügenden Gerichts zum Einsatz. Insofern zeigen sich im externen Handeln von Karlsruhe deutlich Aspekte ‘weicher Steuerung’ (Göhler 2007: 96), da die Verfassungsrechtsprechung in vielfältiger Weise die Diskurse von Politik, Gesellschaft und Jurisprudenz beeinflusst. Dabei ist insbesondere die dem BVerfG zugewachsene Deutungshoheit über das Verfassungsrecht zentral, durch welche es juristische Diskurse in starkem Maße zu strukturieren vermag (Häberle 1976a: 11; Vorländer 2006c: 235): Normarbeit und judicial policy des Gerichts bedienen sich des Mittels dogmatischer Argumentation. Rechtsdogmatik zielt auf Stabilisierung. Die Formulierung von judicial policy als juristische Dogmatik ist dabei sowohl durch ‘autoritative Setzung’ wie durch Argumentieren und Argumentationsaustausch gekennzeichnet. (Gawron/Rogowski 1990: 231; Hervorhebung i. Orig.)
Uwe Kranenpohl
11. Entscheidungsspezifische Steuerungspotentiale bei der Normkontrolle
Zusammenfassung
Das BVerfG kann Steuerungsimpulse für Politik, Rechtsprechung und Gesellschaft auf vielerlei Weise setzen. Am deutlichsten treten diese in den Entscheidungen des Gerichts und den von ihm angeordneten Folgen hervor, die – gerade wenn die Antragsteller letztlich eine Normenkontrolle anstreben – nicht nur für die Verfahrensbeteiligten Wirkung entfalten können (Steiner 1999). Dabei sind drei Aspekte zu unterscheiden:
  • Da seine Entscheidungen nach § 31 II BVerfGG Gesetzeskraft haben können, muss das BVerfG auch die Folgen beachten, die eine Entscheidung über den konkreten Einzelfall hinaus entwickeln kann (Lange 1978; Wischermann 1979).
  • Daher hat Karlsruhe bereits früh eine ausgefeilte Tenorierungspraxis entwickelt, die allerdings je nach ihren Auswirkungen auf die politische und gesellschaftliche Realität wiederum auf die Verfassungsrechtsprechung stark strukturierend zurückwirken kann.
  • Daneben sind die – angesichts der Länge mancher Entscheidung – umfangreichen obiter dicta zu betrachten.
Uwe Kranenpohl
12. Quellen der gesellschaftlichen Akzeptanz des BVerfG
Zusammenfassung
Eine wichtige, von Karlsruhe nur bedingt beeinflussbare Ressource stellt die breite gesellschaftliche Akzeptanz des Gerichts und seiner Entscheidungen dar (Benda 1983; Kutscha 1995; Würtenberger 2001a). Zwar kann das BVerfG durch geeignete Maßnahmen die Transparenz und damit auch die Nachvollziehbarkeit seiner Judikate erhöhen. Vielfach sind die Entscheidungsfolgen aber doch mit ‘Zumutungen’ für zumindest Teile der Gesellschaft verbunden – sei es, da sie konkrete Belastungen nach sich ziehen oder Auffassungen über ‘Selbstverständlichkeiten’ erschüttern. Die Akzeptanzfrage stellt sich dabei um so virulenter, weil die Verfassungsrechtsprechung nur über sehr geringe Mittel verfügt, um eine Durchsetzung ihrer Entscheidung auch gegen den Widerstand der Entscheidungsunterworfenen zu garantieren (Ebsen 1985: 205). Gesellschaftliche Folgebereitschaft kann deshalb letztendlich nur aus allgemeiner Akzeptanz resultieren.
Uwe Kranenpohl

Die interne Strukturabsicherung

13. Informelle Normen als zentrales Element der Organisationskultur des BVerfG
Zusammenfassung
Das BVerfG kann sich allerdings nicht darauf beschränken, nur sein Umfeld – und damit die an es herangetragenen Anforderungen und Erwartungen – zu beeinflussen, das Handeln der Rechtsunterworfenen durch seine Entscheidungstätigkeit zu strukturieren sowie auf die beachtliche Akzeptanz und Folgebereitschaft gegenüber dem BVerfG zu vertrauen. Karlsruhe hat seine Unabhängigkeit, seine Entscheidungsstrukturen und die sich daraus ergebende Möglichkeit zur ‘ausgewogenen kritischen Deliberation’ auch intern abzusichern. Diesen Zweck erfüllt ein differenzierter Normenkatalog, dem sich die Mitglieder des Gerichts unterwerfen. Dabei ist nur ein kleiner Teil der Normen explizit kodifiziert, doch gerade dieser kleine Teil schafft wichtige Rahmenbedingungen für die Funktionsfähigkeit und die Ergebnisgüte des BVerfG:
  • Durch § 4 BVerfGG ist die Amtszeit der Richter durch Wiederwahlverbot und die Altersgrenze von 68 Jahren auf maximal zwölf Jahre begrenzt.
  • Die strikten Inkompatibilitätsbestimmungen des § 3 III und IV BVerfGG erlauben nur den Hochschullehrern die weitere Ausübung ihrer Tätigkeit und unterstützen so die ‘Abnabelung’ der Richter aus ihren bisherigen Arbeitskontexten und Netzwerken.
  • Auch unterliegen die Verhandlungen des BVerfG dem Beratungsgeheimnis nach § 193 GVG i. V. m. § 17 BVerfGG.
  • Für den Verfahrensgang nicht unerheblich ist auch die Regelung, welche die Richter dazu anhält, die Abgabe eines Sondervotums möglichst frühzeitig bekanntzugeben (§ 56 II BVerfGGO).
Uwe Kranenpohl

Ergebniszusammenfassung

14. Ambivalenzen der Legitimitätsproduktion
Zusammenfassung
Zentrales Vorhaben der vorliegenden Studie war es, die black box des internen Willensbildungs- und Entscheidungsprozesses der deutschen Verfassungsrechtsprechung trotz des bestehenden Beratungsgeheimnisses ein wenig zu öffnen. Forschungsleitend waren dabei die folgenden Fragen:
  • In welcher Weise – insbesondere wie autonom – gestalten sich der gerichtsinterne Willensbildungsprozess und die Entscheidungsfindung?
  • Wie gestalten sich die Einflussmöglichkeiten – insbesondere die des gerichtsintern zuständigen Berichterstatters – in diesem Prozess?
  • Wie sichert das BVerfG seine Entscheidungsautonomie gegenüber seiner Umwelt ab? Auf welche Weise sucht es die Akzeptanz seiner Judikate zu sichern? Welchen internen Regeln haben sich die Richter zu unterwerfen?
Uwe Kranenpohl
Backmatter
Metadaten
Titel
Hinter dem Schleier des Beratungsgeheimnisses
verfasst von
Uwe Kranenpohl
Copyright-Jahr
2010
Verlag
VS Verlag für Sozialwissenschaften
Electronic ISBN
978-3-531-92242-3
Print ISBN
978-3-531-16871-5
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-531-92242-3