7.3.1 Mobilitätssituation
Die befragten Geflüchteten nutzen grundsätzlich eine Vielzahl an Transportmöglichkeiten, um im Alltag in ländlichen Regionen und darüber hinaus mobil zu sein: Sie sind zu Fuß oder mit dem Fahrrad unterwegs, nutzen den ÖPNV sowie erweiterte Angebote wie das Anruf-Sammeltaxi (AST), Fernbusse und individuelle Transportmittel, sowohl gemeinsam mit anderen (Mitfahrgelegenheiten) als auch alleine (Taxi), verstärkt auch den eigenen Pkw/Roller. Dabei suchen sie im Alltag eine Vielzahl von Orten auf: Orte sozialer Kontakte, der Bildung, der Versorgung, der Arbeit, der Freizeit, der Religion/Kultur, der Gesundheit sowie Behörden. Die Orte befinden sich sowohl in Deutschland als auch im benachbarten EU-Ausland, z. B. in den Niederlanden oder in der Tschechischen Republik.
Die Mobility Maps zeigen, dass beispielsweise der Weg zur Arbeit im Allgemeinen zu ähnlich großen Teilen mit dem ÖPNV, zu Fuß, mit dem eigenen Auto oder dem Fahrrad zurückgelegt wird. Liegt der Arbeitsort am Wohnort, gehen Geflüchtete überwiegend zu Fuß zur Arbeit oder nutzen das Fahrrad, müssen sie zum Arbeitsort pendeln, fahren sie in der Regel mit dem ÖPNV oder dem eigenen Auto. Soziale Kontakte, Orte der Lebensmittelversorgung, der Gesundheitsversorgung und der Bildung werden meist zu Fuß aufgesucht oder mit dem ÖPNV. Auffällig ist, dass Paare eher als Einzelpersonen das eigene Auto benutzen, um soziale Kontakte zu besuchen oder einzukaufen. Bei Orten der Gesundheitsversorgung und der Bildung besteht dieser Unterschied nicht bzw. ist deutlich geringer. Insgesamt zeigt sich aber, dass für weibliche Einzelpersonen der ÖPNV in allen Bereichen die größte Rolle spielt.
Die
Wahl des Verkehrsmittels treffen die befragten Geflüchteten basierend auf einer Vielzahl an Faktoren. Dazu zählen
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die Distanz zwischen Start- und Zielort,
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das Relief der Landschaft,
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die Witterung,
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die mitzutransportierenden Personen oder Dinge,
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die ihnen zur Verfügung stehenden zeitlichen Ressourcen (s. Diskussionen über time sovereignty, Cass et al.
2005),
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die ihnen zur Verfügung stehenden Verkehrsmittel und deren Annehmlichkeiten, z. B. Möglichkeit für Kinder, zu spielen, kostenloses WLAN und
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die persönlichen Präferenzen für bestimmte Verkehrsmittel.
Neben der Wahl der Verkehrsmittel berichten Geflüchtete auch von Erfahrungen auf dem Weg zu den Zielorten. So lernen sie unterwegs beim Spazieren gehen, im Fernbus oder im Zug neue Leute kennen oder genießen bei Bahnfahrten oder Fahrradausflügen in der Umgebung die Landschaft.
Nicht oder schlecht erreicht werden können von den Geflüchteten entsprechend der Mobility Maps insbesondere folgende Orte:
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Orte im Ausland, hierunter besonders Orte in den Herkunfts-, Nachbar- sowie Transitländern der Geflüchteten, Wohnorte von Verwandten, Freund*innen und Bekannten sowie Urlaubsziele,
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Orte sozialer Kontakte und Orte der Versorgung, hierunter insbesondere (Groß-)Städte in Deutschland, in denen Verwandte, Freund*innen und Bekannte leben oder in denen bestimmte Produkte gekauft und Dienstleistungen in Anspruch genommen werden können sowie
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Orte der Freizeit, hierunter z. B. Fitnessstudios, Kinos, Zoos oder Diskotheken.
Generell wird die schlechte Erreichbarkeit in den Interviews und Fokusgruppen u. a. mit der weiten Entfernung von Zielen, der fehlenden Anbindung mit dem ÖPNV zur gewünschten Zeit, der fehlenden finanziellen oder zeitlichen Ressourcen bzw. rechtlichen Hindernissen begründet.
7.3.2 Mobilitätsspezifische Hindernisse und Probleme
Mobilitätsspezifische Hindernisse und Probleme werden im folgenden Abschnitt bezogen auf die unterschiedlichen (genutzten) Verkehrsmittel der Geflüchteten präsentiert.
In Bezug auf den
Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) berichten die teilnehmenden Geflüchteten zunächst, dass Starthaltestellen oder -bahnhöfe weit von den Wohnorten entfernt liegen, insbesondere wenn Geflüchtete in peripheren Ortsteilen leben. Ebenso liegen die Ziele, die Geflüchtete erreichen wollen, in
großer Distanz zu den nächstgelegenen Haltestellen und Bahnhöfen (z. B. B_III_GEF_040, 048; B_IV_GEF_052, 063; D_VIII_GEF_128), wie folgendes Beispiel unterstreicht:
„Bis zum Kinderarzt müssen wir auch noch sehr lange zu Fuß laufen, nachdem wir aus dem Bus ausgestiegen sind und dann müssen wir auch sehr lange bis zur Bushaltestelle zurücklaufen.“ (C_V_GEF_069)
ÖPNV-Verbindungen an Wohnorten fehlen entweder generell oder sind auf wenige Fahrtangebote beschränkt (s. auch Bose
2014; Marks
2014; Fang et al.
2018; Rösch et al.
2020). Konkret erwähnen Geflüchtete, dass es entweder nur 2–3 Verbindungen pro Tag, nur zweistündliche oder stündliche Verbindungen gebe, die zu langen Wartezeiten, z. B. nach dem Ende des Sprachkurses führen. Sie nehmen dabei relationale Bewertungen vor, indem sie sich auf die vergleichsweise bessere Situation an anderen Orten beziehen, wo häufigere Verbindungen bestehen würden. Die wenigen Fahrtangebote sind zudem auf bestimmte Tageszeiten bzw. Wochentage beschränkt. Fehlende Verbindungen in den Abend- und Nachtstunden werden negativ bewertet, da deshalb insbesondere Rückfahrten aus Städten sehr früh angetreten werden müssen. An Wochenenden, wenn Geflüchtete meist mehr (Frei-)Zeit haben, gibt es ebenfalls oft keine Fahrten – oder diese sind mit zusätzlichem Zeitaufwand verbunden, etwa durch längere Wartezeiten bei Umstiegen. Fehlende Direktverbindungen (über Landkreisgrenzen hinweg), häufige Umstiege und zu lange oder zu knappe Umsteigezeiten zwischen verschiedenen Verkehrsmitteln werden in den Interviews häufiger als generelles Hindernis im Alltag thematisiert, da sich dadurch lange Reisezeiten für Geflüchtete ergeben. Ein Beispiel illustriert dies (z. B. A_II_GEF_027; B_III_GEF_040, 048; B_IV_FOK_1; C_V_GEF_071, 072; C_VI_GEF_101; D_VII_GEF_108, 110 ; D_VIII_GEF_128; s. auch SVR
2017; Fang et al.
2018; Mann et al.
2018):
„Die Fahrt nach GROSSSTADT (Anm.: zum Weiterbildungszentrum) gefällt mir nicht. Die Fahrt dauert zweieinhalb Stunden, genau. Ich muss dreimal umsteigen, in KLEINSTADT, dann in GROSSSTADT. Dann fahre ich mit der U-Bahn und dann mit dem Bus.“ (B_III_GEF_047)
Verspätungen führen zudem zu zusätzlichen Wartezeiten und resultieren in Problemen mit Arbeitgeber*innen. Schließlich wird von einigen auch die
lange Fahrtdauer bei relativ kurzer Entfernung kritisch gesehen – insbesondere, wenn Geflüchtete diese in Relation zur kurzen Fahrtdauer mit dem Pkw setzen.
Ein weiterer negativer Aspekt des ÖPNV liegt in den
hohen Kosten, die zum Teil auf geringe finanzielle Ressourcen der Geflüchteten treffen. Hohe Kosten erschweren nicht nur die Erreichbarkeit von individuell bedeutsamen Orten im Nahraum, sondern betreffen auch weit entfernte Ziele, etwa Großstädte (s. „nicht-erreichbare Ziele“ oben). Geflüchtete setzen die Kosten dabei insbesondere ins Verhältnis zum Nutzen und zu anderen Verkehrsträgern, wie das folgende Zitat zeigt:
„Und dann fahren wir so häufig nach KLEINSTADT und jedes Mal zahlen wir zehn Euro oder so für die Hinfahrt und zehn Euro für die Rückfahrt. Und dann setze ich mich hin und überlege – egal wo ich hinfahren möchte. Ich muss ja mindestens 20 oder 30 Euro allein an Fahrtkosten in meiner Tasche haben. […] Und dann haben wir so Termine, die gehen vielleicht nur 15 Minuten oder 20 Minuten und dafür müssen wir dann 20 Euro für die Fahrt bezahlen.“ (C_VI_GEF_093)
Zusätzlich erschwert wird die Fahrt mit dem ÖPNV für Geflüchtete – gerade in der Anfangszeit in Deutschland – durch
komplizierte Tarif- sowie Buchungssysteme, die von Geflüchteten entsprechendes Wissen voraussetzen und eine Vorabplanung erfordern, z. B. in Form von Platzreservierungen. Zu beliebten Tageszeiten können bestehende
Kapazitäten unzureichend sein und dazu führen, dass die Kinder von Teilnehmenden während der Fahrt zur Schule stehen müssen. Schließlich berichten Geflüchtete in Einzelfällen auch von
gesundheitlichen Risiken im ÖPNV, etwa Übelkeit (C_V_GEF_069, 078) oder Angst vor Ansteckung mit COVID-19 (B_III_FOK_2) sowie
Diskriminierungen durch Fahrer*innen und andere Mitreisende (z. B. C_VI_FOK_1; D_VII_FOK_1; s. Kap.
8).
Bei der Nutzung von Privat-Pkws stellt die Tatsache, dass
ausländische Führerscheine von Drittstaatler*innen in der Regel sechs Monate nach Zuzug nach Deutschland ihre
Gültigkeit verlieren, eine Herausforderung dar. Ein Geflüchteter berichtet von den Konsequenzen des unwissentlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis. Er wurde vor Gericht gestellt und erhielt ein einjähriges Fahrverbot (D_VIII_GEF_126 , im Gegensatz zu Freispruch bei A_I_GEF_012). Der Erwerb des Führerscheins in Deutschland ist für Geflüchtete aber aus unterschiedlichen Gründen erschwert, etwa wegen
individueller körperlicher Einschränkungen oder
Angst aufgrund fehlender Erfahrungen mit dem Autofahren im Herkunftsland. Andere Teilnehmende erwähnen
fehlende zeitliche Ressourcen wegen Vollzeitbeschäftigung oder
sprachliche Hürden aufgrund bislang unzureichender Deutschkenntnisse oder fehlenden Möglichkeiten, Prüfungen in der Muttersprache ablegen zu können, z. B. auf Persisch. Schließlich nehmen Geflüchtete auch
hohe Kosten für den Führerschein als Barriere wahr, insbesondere in Fällen, in denen Wiederholungen von Prüfungen notwendig sind (D_VII_GEF_104, 108; D_VIII_GEF_130):
„Ich (musste ihn) viermal (machen) und meine Frau fünfmal. Dabei hatten wir in Syrien beide den Führerschein.“ […] (IP a)
„Als wir die Frage gestellt haben, wieso wir durchgefallen sind, wurde uns gesagt: ‚Naja, ist einfach so.‘“ […] (IP b)
„Das kostete viel Geld. […] Kostete für die zwei ungefähr 4000 Euro, ja.“ (IP a) (A_II_GEF_020)
Da sich Jobcenter unterschiedlich stark für die (Teil-)Finanzierung von Führerscheinen einsetzen, erfordert dies aus Sicht der Geflüchteten oft zunächst, arbeiten zu gehen, um sich das nötige Geld zu verdienen.
Der
Autokauf und die Instandhaltung des Pkw inklusive Steuern und Versicherung stellt einige Geflüchtete ebenfalls vor eine
finanzielle Herausforderung, insbesondere, wenn sie ausschließlich von Sozialleistungen leben. Die tatsächliche Nutzung des Pkw im Alltag kann für Geflüchtete schließlich eingeschränkt sein, wenn das Fahrzeug nicht genügend Platz für alle Familienmitglieder bietet, an Zielorten kein Parkplatz zur Verfügung steht oder das Fahren mit dem Auto als stressig wahrgenommen wird. Dies wird u. a. auf kurvige Strecken, Nebel oder Schneefall sowie Tiere auf der Fahrbahn zurückgeführt. Frauen profitieren nur geringfügig von der Verfügbarkeit eines eigenen Autos im Haushalt, sofern Männer das Auto zum Pendeln an die Arbeitsstätte nutzen oder sie selbst keinen Führerschein besitzen (s. auch Correa-Velez et al.
2013; Gilhooly und Lee
2017):
„Meistens sind die Männer bei der Arbeit und sie haben das Auto mit. Und die meisten der Frauen, die aus Syrien und solchen Ländern sind, haben keinen Führerschein.“ (D_VIII_GEF_128)
Fahrradfahren und Laufen wird insbesondere in den Landkreisen, die in Mittelgebirgen gelegen sind, aufgrund der
Steigungen als sehr
anstrengend empfunden. Dies wirkt sich beispielsweise negativ auf das Einkaufsverhalten eines jungen Geflüchteten aus:
„Hier ist alles bergig. Das hasse ich (lacht). Wenn ich zum Einkaufen gehe, kann ich nicht so viele Sachen mitbringen. Deswegen muss ich jede Woche zum Einkaufen.“ (B_IV_GEF_055)
Hinzu kommt im Bayerischen Wald, im südwestdeutschen Schichtstufenland und im niedersächsisch-hessischen Bergland die ausgeprägte Saisonalität mit
vielen Niederschlägen in Form von Regen sowie Schnee in den Wintermonaten (s. auch Bose
2014; Fang et al.
2018), wodurch der morgendliche Weg zur Schule oder die Fahrradfahrt zum Praktikum erschwert wird. Aufgrund des Geländes, des hohen Verkehrsaufkommens und fehlender bisheriger Erfahrungen haben Frauen Angst, mit dem Fahrrad zu fahren oder verbieten es ihren Kindern. Andere Teilnehmende hingegen fürchten Pannen oder Diebstähle.
Auf Probleme mit anderen Verkehrsträgern wie etwa Fernbussen oder Mitfahrgelegenheiten in institutionalisierter/kommerzieller (z. B. BlaBlaCar) und nicht-institutionalisierter Form wird in den Interviews selten eingegangen. Bei ersteren wird lediglich deren generelles Fehlen auf dem Land thematisiert, bei letzteren die Abhängigkeit von Zeitplänen und Zielen anderer. Taxis werden als teuer wahrgenommen.
7.3.3 Agency Geflüchteter in Bezug auf Alltagsmobilität
Wie können sich Geflüchtete trotz mobilitätsspezifischer Hindernisse und Probleme ihre eigene Handlungsmacht (Agency) in Bezug auf ihre Mobilitätssituation bewusst machen und darüber reflektieren? Wie setzen sie ihre Handlungsmacht ein und in konkrete Alltagspraktiken um, um mit der bestehenden Mobilitätssituation pragmatisch umzugehen oder ihre Mobilitätssituation zu verbessern?
Geflüchtete stellen bei der
Bewertung ihrer Mobilitätssituation relationale, räumliche Bezüge her und bewerten die verschiedenen Verkehrsmittel im Vergleich. So werden von einer Geflüchteten beispielsweise
Unterschiede zwischen dem Herkunftsland und Deutschland festgestellt:
„In meinem Land braucht die Frau nicht den Führerschein zu machen. Es ist auch gefährlich, wenn sie fährt. […] Die Leute fahren nicht richtig. Manche sind verrückt und so. Hier ist es besser. Hier gibt es immer Strafe (lacht).“ (A_I_GEF_012)
In Bezug auf den
Gegensatz (Klein-)Stadt – Landgemeinden sehen Geflüchtete in Großstädten viele Möglichkeiten, ausschließlich mit öffentlichen Verkehrsmitteln mobil zu sein. In Landgemeinden, in denen weder Busse noch Züge fahren, sei die alltägliche Mobilität hingegen schwierig, während man in Kleinstädten Orte auch gut mit dem Fahrrad oder zu Fuß erreichen könne. Schließlich würde man in Städten mit dem Auto nur langsam vorankommen, während Autofahren auf dem Land einfacher sei und man alles gut und deutlich schneller als mit dem ÖPNV erreichen könne.
Die Interviews zeigen deutlich, dass Geflüchtete aufgrund der als unzureichend und unflexibel wahrgenommenen Anbindung mit dem ÖPNV einen großen
Wunsch haben bzw. es als
Notwendigkeit erachten, den
Führerschein zu machen und auf dem Land einen Privat-Pkw zu besitzen (z. B. B_III_FOK_2, 035, 036, 043; B_IV_FOK_2, 054, 061, 063; C_V_GEF_082; C_VI_GEF_093; D_VII_FOK_1, 103, 104, 107, 113).
„Ich muss hier im Dorf ein Auto haben. […] Aber in einer großen Stadt brauche ich das glaube ich nicht. Gibt immer Verkehrsmittel.“ (B_III_GEF_048)
Der in der Literatur auch als Pkw-Abhängigkeit (
car-dependency, Gilhooly und Lee
2017) oder erzwungener Pkw-Besitz (
forced car ownership, Bose
2014) beschriebene Zustand wird auch
innerhalb der befragten Haushalte diskutiert. Dabei unterstreichen einzelne geflüchtete Frauen gegenüber ihren Ehemännern die Notwendigkeit des Führerscheinerwerbs des Partners (B_IV_GEF_059; D_VIII_GEF_122). Daneben stellen einige wenige geflüchtete
Frauen auch fest, dass sie in ländlichen Regionen selbst einen Führerschein benötigen, um unabhängig von ihrem Mann zu sein und die Kinder z. B. selbst zu Ärzt*innen bringen zu können, wenn der Partner bei der Arbeit ist (D_VII_FOK_2; D_VIII_GEF_137). Die Einschätzung, einen eigenen Pkw besitzen zu müssen, teilen insbesondere
Paare mit (kleinen) Kindern (s. Rau und Sattlegger
2017).
Geflüchtete sehen zudem einen Zusammenhang zwischen Individualmotorisierung
und Zugang zum Arbeitsmarkt. Zum einen wird von den Teilnehmenden wahrgenommen, dass ihnen der Führerschein den Zugang zu einem Job überhaupt ermöglicht, etwa weil er für die zukünftige Arbeit benötigt wird – oder aber nur dadurch ein regelmäßiges, pünktliches Erscheinen am Arbeitsplatz gewährleistet werden kann und sie dadurch den Arbeitsplatz entweder bekommen oder behalten (z. B. A_II_GEF_020; B_IV_FOK_2, 053, 057, 064, 066; D_VII_GEF_107; D_VIII_GEF_133):
„Ich glaube, ich werde gefeuert wegen diesem Problem, weil ich nicht immer in die Arbeit kommen kann. Wenn man kein Auto hat, wenn man keinen Führerschein hat, kann man wirklich viele Probleme haben. Dann werde ich wahrscheinlich gefeuert und muss einen Schritt zurückmachen und bin wieder bei dem Jobcenter und muss wieder Hilfe vom Jobcenter bekommen. Und diesen Punkt will ich nicht erreichen, deshalb muss das Problem unbedingt gelöst werden.“ (B_III_GEF_043)
Zum anderen antizipieren Geflüchtete, dass sie durch den Führerschein und ein eigenes Auto ihren Suchradius für einen geeigneten Arbeitsplatz erheblich ausweiten und dadurch auf dem Land wohnen bleiben können und nicht umziehen müssen (s. Kap.
6).
Im Laufe der Zeit können geflüchtete Neuzugewanderte mobilitätsspezifische Hindernisse und Probleme durch eigene Handlungsfähigkeiten und Praktiken und mit Unterstützung ihres sozialen Umfeldes teilweise überwinden (s. Spenger und Kordel
2022). Zunächst kann hierbei ein
pragmatischer und sehr individueller Umgang mit der bestehenden Mobilitätssituation festgestellt werden. Dies zeigt sich etwa, wenn Teilnehmende sich aus Angst vor Verspätungen des ÖPNV bereits sehr früh auf dem Weg zu ihrem Ziel machen und dafür Wartezeiten in Kauf nehmen oder während ihrer alltäglichen Wege verschiedene räumliche Praktiken miteinander verknüpfen, z. B. den Kursbesuch und den Einkauf im arabischen Lebensmittelgeschäft (s. auch Kordel und Weidinger
2017). Drei andere Beispiele verdeutlichen zudem die Bedeutung für den Bereich Arbeit: So passt eine junge Geflüchtete ihren Berufswunsch aufgrund der weiten Entfernung zur Berufsschule an (D_VIII_FOK_1), ein Paar versucht, sich mit den Arbeitsschichten abzuwechseln, sodass beide das Auto benutzen und sie mit „nur“ einem Pkw im Haushalt auskommen können (D_VII_FOK_2), während ein Familienvater immer Nachtschichten macht, damit er seine Kinder morgens noch in die Schule bringen kann, solange seine Frau noch über keinen Führerschein verfügt (B_IV_GEF_065). Schließlich sehen Geflüchtete in der Weiterwanderung insbesondere in gut angebundene und durch kurze Wege gekennzeichnete Kleinstädte mit stärkeren zentralörtlichen Funktionen eine Möglichkeit, mit der als unzureichend wahrgenommenen verkehrlichen Anbindung in Landgemeinden umzugehen und näher an individuell bedeutsamen Orten wie Schulen oder Arbeitsplätzen leben zu können (s. Kap.
6).
Daneben lassen sich auch Maßnahmen und Praktiken identifizieren, die explizit auf die
Verbesserung der Alltagsmobilität von Geflüchteten abzielen, z. B. indem ihnen
Mitfahrgelegenheiten angeboten werden bzw. sie diese gezielt anfragen. Dabei bestätigen unsere Ergebnisse die in der Literatur bereits belegte, wichtige Rolle von Familienmitgliedern und Freund*innen bzw. Bekannten, Nachbar*innen, Arbeitgeber*innen oder Arbeitskolleg*innen, Vereinstrainer*innen und Mitarbeiter*innen von Asylunterkünften und Ehrenamtlichen (s. auch Ziersch et al.
2020, für Australien; Fang et al.
2018, für Kanada; SVR
2017; Mann et al.
2018; Rösch et al.
2020, für Deutschland). Zusätzlich fragen Geflüchtete in wenigen Fällen aber auch Fremde als Fahrer*innen an, etwa im Fall einer Mitfahrerbank oder beispielsweise abends am Bahnhof (z. B. B_III_GEF_033; D_VIII_GEF_122).
Eine selbstbestimmtere Möglichkeit, über die eigene Mobilität im Alltag zu entscheiden, stellen (gebrauchte) Fahrräder dar, die Geflüchteten häufig kurz nach ihrer Ankunft durch Ehrenamtliche, Wohlfahrtsorganisationen oder Unterkunftsbetreiber*innen zur Verfügung gestellt wurden. Besonders geflüchtete Frauen berichten stolz davon, wie sie sich in Deutschland Fahrradfahren meist autodidaktisch beigebracht haben. Daneben spielt aber insbesondere der (erstmalige) Erwerb des Führerscheins und der Kauf eines eigenen Pkws eine zentrale Rolle, um mit schwierigen Erreichbarkeitssituationen umzugehen. Der Führerscheinerwerb wird dabei wesentlich durch die Prüfungsabnahme in der Landessprache ermöglicht. Bei der Finanzierung von Führerschein und eigenem Pkw können Geflüchtete auf eigene Ersparnisse z. B. durch Erwerbsarbeit, aber auch auf unterschiedliche Unterstützer*innen zurückgreifen. So übernehmen Jobcenter die Kosten zum Teil komplett, während beispielsweise Fahrschulen und Autohäuser Geflüchteten Ratenzahlungen oder Stundungen ermöglichen. Wo eigene Ersparnisse nicht ausreichen, helfen auch Familienmitglieder aus. Sie stellen, wie auch Freunde und Bekannte, Geflüchteten auch ihre Autos – zum Teil gegen die Zahlung eines kleinen Unkostenbeitrags – zur Verfügung. In einem Fall mietet eine Familie schließlich für ausgewählte Fahrten einen Pkw bei einer Privatfirma an (C_VI_GEF_089), während ein junger Mann die Zwischenlösung eines Rollers für das Pendeln zum Arbeitsplatz wählte, bis er sich ein eigenes Auto leisten konnte (B_IV_GEF_056).
Diejenigen Teilnehmenden, die es bereits geschafft haben, den Führerschein zu bestehen und sich ein Auto zu kaufen, sind darauf besonders stolz. In der Folge nutzen sie deutlich seltener alternative Verkehrsmittel wie den ÖPNV oder das Fahrrad und gehen auch weniger zu Fuß. Retrospektiv berichten sie, dass sie mit dem Privat-Pkw deutlich flexibler wurden und sich ihr Aktionsradius erheblich vergrößerte (z. B. B_III_GEF_035; C_V_GEF_077; D_VII_GEF_119):
„Das Auto war eine große Erleichterung für uns, zum Beispiel als meine Frau im Krankenhaus war. Mit dem Zug hätte alles länger gedauert und die Zugzeiten sind auch nicht immer gut. Und ja, das Auto ist eigentlich voll gut auch immer in den Ferien, wenn jemand krank wird oder so. Dann ist das Auto besser als ein Zug. Hätten wir jetzt kein Auto, würde ich mit meinen Kindern zum Beispiel nicht zum Schwimmbad fahren oder zum Fußball. Und die Züge haben auch viele Kosten und das Auto ist besser.“ (C_VI_GEF_090)
Die neu gewonnenen Handlungsmöglichkeiten resultieren schließlich teilweise darin, dass Teilnehmende als „Taxifahrer*innen“ fungieren und Mitfahrgelegenheiten für andere Personen anbieten.