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2009 | Book

Bedrohungen der Demokratie

Editors: André Brodocz, Marcus Llanque, Gary S. Schaal

Publisher: VS Verlag für Sozialwissenschaften

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About this book

In dem wunderbaren Bilderbuch „Der Grüffelo“ von Axel Scheffler und Julia Donaldson w- dert eine Maus durch den Wald und trifft dort verschiedene Tiere, die sie allesamt verspeisen wollen. Die Maus entkommt diesen Bedrohungen, indem sie jedem Tier detailliert vom schrecklichen „Grüffelo“ erzählt, den sie genau an diesem Ort und zu dieser Zeit treffen will und zu dessen Lieblingsspeise ausgerechnet das jeweilige Tier gehört. Aus Angst vor dieser - drohung flüchten die Tiere sofort und lassen die Maus in Ruhe. Dann jedoch wird aus der vermeintlich fiktiven Bedrohung ernst. Es gibt ihn doch, den „Grüffelo“. Was die Maus auf ihrer Wanderung durch den Wald vor Bedrohungen geschützt hat, wird nun selbst zur Bed- hung. Ganz ähnliche Erfahrungen machen derzeit Demokratien. Aus Institutionen, Regeln, Prozeduren, die die Demokratie schützen sollen, erwachsen Bedrohungen für die Demokratie selbst. Die Ursachen für diese Transformation sind vielfältig, sie finden sich sowohl innerhalb als auch außerhalb des demokratischen Prozesses. Ob die Demokratien diesen Bedrohungen gewachsen sein werden, wird darum ganz wesentlich davon abhängen, wie sie ihnen begegnen. Das gilt genauso für unsere Maus. Sie erklärt dem Grüffelo, dass sie das am meisten gefürch- te Tier im Wald sei, und wandert mit ihm demonstrativ in den Wald zurück. Dort treffen b- de wieder auf die verschiedenen Tiere, die im Angesicht von Maus und Grüffelo sofort die Flucht antreten. Der Grüffelo ist beeindruckt und schlägt sich selbst in die Büsche, als die Maus ihm von Grüffelogrütze vorschwärmt.

Table of Contents

Frontmatter

Einleitung

Frontmatter
Demokratie im Angesicht ihrer Bedrohungen
Auszug
Die theoretische und empirische Analyse der normativen Begründungen, institutionellen Arrangements, sozio-kulturellen Grundlagen und funktionalen Leistungen von Demokratien gehört zum Kernbestand der Politikwissenschaft. Obwohl die Bedeutung dieser Analysen für das sich selbst als „Demokratiewissenschaft“ (Buchstein 1992) verstehende Fach nie ernsthaft in Frage gestellt wurde, ergab sich durch den Zusammenbruch der realsozialistischen Staaten für eine kurze Zeit ein retardierendes Moment. Es schien, als ob das Ende der Geschichte (Fukuyama 1992) auch die Fragwürdigkeit der Demokratie in Frage stellen würde. Inzwischen ist die demokratietheoretische Diskussion jedoch weitaus intensiver als vor dem Zusammenbruch der osteuropäischen Staaten, und dies nicht nur in der Politikwissenschaft, sondern auch in der Philosophie, der Rechtswissenschaft und der Soziologie. Die Gründe hierfür sind vielfältig. In theoretischer Hinsicht erschien beispielsweise eine Revitalisierung des Diskurses über die normativen Begründungen von Demokratie — und zwar sowohl hinsichtlich ihrer demokratischen als auch ihrer außerdemokratischen Bezugspunkte — als dringend, weil die politischen Systeme des Westens in Folge des Wegfalls der Systemkonkurrenz ihre Legitimation und Normativität fortan nur noch aus sich selbst heraus schöpfen würden. Der akademische Diskurs erfolgte jedoch zu einer Zeit, in der die Gewissheit über die normativen Grundlagen der Demokratie westlichen Typus brüchig geworden war. Während Robert Dahl (1989) noch ohne Zweifel davon ausging, dass Demokratie im Rückgriff auf das Ideal intrinsischer Gleichheit normativ zu begründen ist, argumentiert etwa Judith Shklar (1989), dass der Liberalismus — und damit in der Konsequenz auch das westliche Modell liberaler Demokratie — nicht mehr im Rekurs auf positive Ideale zu begründen sei.
André Brodocz, Marcus Llanque, Gary S. Schaal

Die bedrohte Demokratie

Frontmatter
Zur Leistungsfähigkeit von Demokratien — Befunde neuerer vergleichender Analysen
Auszug
Wie leistungsfähig ist die Demokratie? Verkörpert sie wirklich die beste aller bislang erprobten Staatsformen? Wie viel bleibt von ihrem Glanz übrig, wenn sie nicht aus dem Blickwinkel idealtypisierender normativer Modelle beobachtet wird,1 sondern aus der Perspektive der empirisch-vergleichenden Demokratietheorie?2 Die Antworten auf diese Frage fördern, wie im Folgenden gezeigt wird, unterschiedliche Befunde zutage.3 Nicht wenige von ihnen sprechen erwartungsgemäß für die Demokratie. Davon handelt der folgende zweite Teil dieses Essays. Andere Befunde erzwingen allerdings größere Abstriche am Lob der Demokratie. Ein Teil des Lobes gilt, bei Lichte besehen, gar nicht der Demokratie, sondern günstigen Rahmenbedingungen, beispielsweise einem hohen ökonomischen Entwicklungsstand, oder dem Verfassungsstaat, der die Auswüchse einer unbegrenzten Volksherrschaft bändigen kann. Zudem gibt es nicht eine Demokratie, sondern viele Demokratien mit unterschiedlichem Leistungsprofil. überdies tun sich selbst die Leistungsstärksten unter ihnen mit den Herausforderungen und den systemischen Strukturproblemen einer demokratischen Ordnung schwer. Davon wird im dritten Teil dieses Essays berichtet. Sein vierter Teil bilanziert die Befunde: Zum Leistungsprofil der Demokratien gehören Licht, Schatten und Grautöne.
Manfred G. Schmidt
Political Disaffection as an Outcome of Institutional Practices? Some Post-Tocquevillean Speculations
Abstract
In this essay I proceed as follows. Its first part provides a conceptual map by which we can locate the various symptoms of political malaise and disenchantment, which beset, as it is widely perceived, political life and political developments even in established liberal democracies (and a fortiori in new ones). The second part proposes to invert the chain of causation that is widely used in empirical political science as a model of analysis. Rather than proceeding from opinions to behavior to institutional viability, I propose here, in an admittedly speculative mode, to proceed in a top-down perspective from institutional patterns to the observable “enactment” of institutions and the perceived opportunities, incentives, expectations they inculcate in citizens and finally the opinions, habits, and attitudes people exhibit and which are in turn registered and analyzed by the methods of survey research. In the third and final part of the paper, I propose a taxonomy of the various sorts of “failure of citizenship” (or deficient modes of its practice) that we encounter within established democracies of the OECD world. I conclude with a few remarks on the hypothetical impact of disaffection upon the liberal democratic regime form.
Claus Offe
Undemokratische Assoziationen
Auszug
Vereine sind die zentrale Basis der Demokratie. Mit dieser simplen Aussage, die Almond und Verba schon in den 1950er Jahren formulierten, lässt sich unser Verständnis von der Bedeutung des Vereins in und für die Demokratie umschreiben. Auch wenn dies im Land der Vereinsmeier, deren Kritiker den Verein gerne als Hort provinziellen Denkens, spießiger Attitüden und deutscher Kleingeistigkeit verspotten, ein wenig überraschend klingen mag: Die demokratische Bedeutung freier Assoziationen ist empirisch und theoretisch unbestreitbar. Gründe — aber auch Belege — lassen sich in unterschiedlichster Weise finden (vgl. Warren 2001). Die Assoziation wirkt demokratisch sowohl auf das Individuum, das sich in ihr engagiert, als auch auf die Gesellschaft und das politische System, in dem der Verein agiert. Warum ist das so? Dieser Beitrag wird zunächst Argumente aufführen, die bezeugen, warum der Verein ein wichtiger und unverzichtbarer Baustein demokratischer Systeme ist, um aus diesen Argumenten abzuleiten, warum — unter spezifischen Umständen — das Vereinswesen geradezu demokratieschädliche Charakterzüge annehmen kann.
Sigrid Roßteutscher
Die Konzeptualisierung der Qualität von Demokratie. Eine kritische Diskussion aktueller Ansätze
Auszug
Damit Demokratie zu einem Gegenstand der empirischen und vergleichenden Forschung werden kann, muss sie gemessen werden können. In den letzten Jahrzehnten sind aus diesem Grund eine Reihe von Demokratiemessungen vorgeschlagen worden,1 die in der Regel unterschiedliche Grade von Demokratie erfassen, deren primäres Ziel jedoch darin besteht, Demokratie von politischen Systemen abzugrenzen, die noch nicht Demokratie oder sogar Autokratie sind. Vor allem aufgrund der weltweiten Ausbreitung der Demokratie als einzig legitime Herrschaftsordnung hat sich die Frageperspektive der empirischen Demokratieforschung in den letzten Jahren jedoch dahingehend verändert, dass es nicht nur um die Frage der Einordnung von politischen Systemen als Demokratie oder Autokratie geht, sondern dass vermehrt nach der Qualität der existierenden Demokratien gefragt wird.
Dieter Fuchs, Edeltraut Roller

Bedrohungen durch Entgrenzung

Frontmatter
Entgrenzungen in der Weltgesellschaft. Eine Bedrohung für die Demokratie?
Auszug
Die Grundlagen, die Legitimits und die Reichweite politischen Entscheidens sind, entgegen dem Diktum von der „Souveränität“ des Nationalstaates (vgl. Luhmann 2000: 319–371) und dem Dreiklang von Staatsgebiet, Staatsgewalt und Staatsvolk (Jellinek 1919), immer auch schon ein Hinweis auf die Verfasstheit des politischen Systems der Weltgesellschaft.1 Dies gilt nicht nur für politisches Entscheiden unter dem Schlagwort „global governance“, sondern berührt unter anderem auch die Frage nach der globalen Diffusion des (demokratischen) Nationalstaatsmodells bzw. der Semantik und Struktur von Demokratie im politischen System der Weltgesellschaft (Meyer/Boli/Thomas 1987; Luhmann 2000). Die grundsätzlich weltgesellschaftliche Verortung politischen Entscheidens betrifft daher, so die zentrale These dieses Beitrags, ganz direkt auch die Frage nach den Möglichkeiten und den Gefährdungen von Demokratie. Diese Vermutung speist sich aus drei Beobachtungen.
Stephan Stetter
(Ent-)Demokratisierungsprozesse im europäischen Mehrebenensystem
Auszug
In der wissenschaftlichen und politischen Diskussion über die Europäische Union ist in den letzten Jahren wiederholt und verstärkt von der Legitimationskrise europäischer Politik die Rede. Viele Analysen weisen darauf hin, dass die bisherigen Muster der politischen Kommunikation, Verhandlung und Entscheidungsfindung von der Bevölkerung — wie auch von den politischen Entscheidungsträgern selbst — zunehmend kritischer bewertet werden. Das Scheitern des EU-Verfassungsvertrages, d. h. die negativen Referenden in Frankreich und den Niederlanden im Frühjahr 2005, und die nachfolgenden Schwierigkeiten, die Verfassungskrise zu überwinden, bildeten nur den vorläufigen Höhepunkt einer sich seit längerem abzeichnenden Entwicklung. Die Wende vollzog sich im Prinzip bereits nach dem Abebben der „Europhorie“, die das EG-Binnenmarktprojekt der 1980er Jahre geprägt hatte (vgl. Beckmann et al. 2006: 312–318). So war im Jahr 1992 der Maastricht-Vertrag von der dänischen Bevölkerung in einer ersten Fassung abgelehnt und in Frankreich nur ganz knapp akzeptiert worden. Im Dezember 1992 stimmte die Schweiz gegen den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR); und im November 1994 lehnte die norwegische Bevölkerung — zum wiederholten Mal — den EU-Beitritt ab. Im Juli 2001 folgte das irische „Nein“ zum Nizza-Vertrag; und im September 2003 entschied sich die schwedische Bevölkerung gegen den Beitritt zur WWU. Weitere Indikatoren einer wachsenden Europa-Skepsis sind die nachlassende Wahlbeteiligung zum Europäischen Parlament — diese fiel von 63 Prozent (1979) auf zuletzt 45,5 Prozent (2004) — und die in vielen Ländern, glaubt man den Eurobarometer-Umfragen, zunehmend kritische Einstellung zur EU.
Hans-Jürgen Bieling
„Staatszerfall“ und die Dilemmata der intervenierenden Demokratie
Auszug
Neben dem transnationalen Terrorismus und den „neuen Kriegen“ ist der Zerfall oder wenigstens die Erosion von Staaten zu einem der sicherheitspolitischen Leitthemen sowohl in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union als auch in der Sicherheitsdoktrin der USA geworden. Doch bedeutet die Krise staatlicher Herrschaft außerhalb der OECD wirklich eine Gefährdung der Stabilität und der Funktionsweise moderner Demokratien? Um dieser Frage nachzugehen, werden in diesem Beitrag zunächst die drei Phänomene näher betrachtet, die sich, so eine erste These, in der politischen und politikwissenschaftlichen Debatte zu einem „Syndrom neuer Bedrohungen“ verdichtet haben.
Klaus Schlichte
Antiterrorkampf und die Verteidigung der Grundrechte
Auszug
Nach den Terroranschlägen in New York am 11. September 2001 wurde die Frage, ob die westlichen Staaten eine neue Sicherheitsstrategie nach außen und einen veränderten Sicherheitsschutz im Inneren benötigen, durchweg positiv beantwortet. Nicht nur in den USA, sondern auch in der Europäischen Union sowie in vielen anderen Staaten der Welt wurden politikfeldübergreifende Aktionspläne zur Bekämpfung des Terrorismus ausgearbeitet (EU Rats-Dokument SN 3926/6/01 REV 6). Neben Maßnahmen zur Bekämpfung der Finanzierung des Terrorismus, Verbesserungen der Luftsicherheit und einem stärkeren außenpolitischen Engagement sahen diese Pläne vor allem eine Erweiterung der Kompetenzen sowie Maßnahmen zur Verbesserung der Zusammenarbeit von Polizei, Geheimdiensten und Strafjustiz vor.
Skadi Krause

Bedrohungen durch Leistungsgrenzen

Frontmatter
Andere, Fremde, Feinde: Bedrohungskonstruktionen in der Demokratie
Auszug
Unter den besonderen Leistungsmerkmalen von Demokratie als Herrschaftsform wird neben der Sicherung der inneren Freiheit, des inneren Friedens und eines gewissen Wohlstandes sowie der relativen Responsivität und Lernfähigkeit des politischen Systems oft ein außenpolitisch wirksames Charakteristikum genannt: Demokratien führen keine Kriege gegeneinander (Schmidt 1998: 182–185). Diese statistisch belegbare Verhaltensauffälligkeit von Demokratien hat in den Internationalen Beziehungen seit den 1980er Jahren ein umfangreiches, von US-Forscher/innen dominiertes Forschungsprogramm zum „demokratischen Frieden“ (DF) hervorgebracht.1 Als ideengeschichtliche Standardreferenz für dieses „liberale“ Forschungsprogramm wird regelmäßig Immanuel Kants Schrift „Zum ewigen Frieden“ (1795) bemüht.2 Erklärungen für die Friedlichkeit von Demokratien werden in diversen institutionalistischen, ökonomisch-rationalen und normativ-kulturellen Faktoren vermutet. Demnach wird jenseits von unmittelbarer Selbstverteidigung Krieg als Mittel der Politik von demokratischen Bürger/innen aus eigennützig-materiellen wie aus moralischen Gründen abgelehnt, im Laufe historischer Lernprozesse bilden sich so Präferenzen für friedliche Mittel der Konfliktlösung heraus. Demokratische Verfahren und Institutionen sorgen schließlich dafür, dass kriegsgeneigte Regierungen ihre Absichten nicht in die Tat umsetzen, da sie aus Furcht vor Abwahl auf die Gewaltaversion ihrer Wähler/innen Rücksicht nehmen müssen.
Anna Geis
Demokratische Anforderungen an die Herstellung von Sicherheit
Auszug
Die Herstellung von Sicherheit, im Innern wie nach Außen, gehört nicht nur nach klassisch liberaler Lesart zum Kernbestand legitimer Staatsaufgaben. Sie ist spätestens seit Hobbes der Staatszweck schlechthin. Da sie nach herrschender Auffassung regelmäßig auch mit (zumindest der Möglichkeit der) Gewaltausübung und mehr noch, nämlich einer Monopolstellung legitimer Gewaltanwendung verbunden ist,1 wird allgemein die Notwendigkeit ihrer Begrenzung und Kontrolle anerkannt. Demokratische Institutionen sind insofern seit dem englischen Liberalismus nicht nur kulturell-gesellschaftlicher Selbstzweck, also Ausdruck des gesellschaftlichen Willens nach Selbstbestimmung der insgesamt betreffenden Angelegenheiten, sondern ein zentraler Bestandteil der Bändigung des mit dem Gewaltmonopol ausgestatteten Staates.
Markus M. Müller
Demokratie und demographischer Wandel
Auszug
Politik ist in der ökonomischen Theorie eine Veranstaltung zur kollektiv abgestimmten Bereitstellung öffentlicher Güter (Public Choice). Diese Auffassung passt sich gut als Sonderfall in soziologische Theorien ein, die die Funktion von Politik als das Fällen von kollektiv bindenden Entscheidungen bestimmen.
Birger P. Priddat
Vom Exodus zur Kolonisierung der Natur: Biopolitik als Delegitimierung der liberalen Demokratie
Auszug
„Wir leben in einer wunderbaren Zeit“, sagte der amerikanische Genomforscher Craig Venter anlässlich der Verleihung des Paul Ehrlich- und Ludwig Darmstaedter-Preises 2002 in der Frankfurter Paulskirche. Wir leben „im Zeitalter der Genomforschung“. Craig Venter möchte „die Welt besser verstehen und in einigen kleinen Bereichen vielleicht ein wenig ändern“ — was jedenfalls „zu großen Veränderungen in der Medizin führen“ wird. Er sieht auch die soziale, ethische und politische Dimension seiner Arbeit. Die Naturwissenschaftler an vorderster Front hätten „die Pflicht, die Öffentlichkeit über die sozialen und ethischen Probleme im Gefolge dieser Durchbrüche auf dem Gebiet der Genomforschung aufzuklären.“ „Ich glaube“, sagt Venter, „meine Arbeit am genetischen Code und der menschlichen Variation kann viele Mythen und pseudowissenschaftliche Behauptungen zerstreuen, die zur Rechtfertigung politischer Unterdrückung und Diskriminierung mißbraucht worden sind“ (Venter 2002).
Clemens Kauffmann

Bedrohungen durch funktionale Selbstblockaden

Frontmatter
Zyklizität demokratischen Regierens
Auszug
Die Vorstellung von Zyklen, bezogen auf gesellschaftliche Vorgänge, ist nahezu immer zugleich eine Vorstellung von Sinnlosigkeit, Vergeblichkeit, auch von Verschwendung — Oszillation, wo eigentlich Stabilität herrschen sollte; Wiederholung, wo es eigentlich Veränderung und Fortschritt geben sollte; stattdessen ein Sich-im-Kreise-Drehen ohne Lernen. Speziell für die Demokratie ist das eine regelrecht beleidigende Vorstellung, da sie mit der stolzen Idee der bewussten Beherrschung des eigenen Schicksals durch das souveräne Volk kollidiert — wo Zyklizität besteht, hat es nicht einmal sich selbst im Griff.
Reinhard Zintl
Bedrohungen der Judikative
Auszug
In der politischen Ideengeschichte der Gewaltenteilung ist von einer Bedrohung der Demokratie durch die Judikative zunächst keine Rede. Im Gegenteil: Die Ausdifferenzierung einer autonomen judikativen Gewalt war für Montesquieu, vor allem aber für die Federalists ein zentrales Instrument, um die Demokratie vor einer anderen Bedrohung zu schützen: dem legislativen und exekutiven Machtmissbrauch durch die Mehrheit. Die Macht dieser Gewalten galt es einzuschränken, während die Macht der Judikative im Gegenzug gestänkt werden musste. Dass von einer übermächtigen Judikative eine Bedrohung für die Demokratie ausgehen könnte, schien Montesquieu und den Federalists aus zwei Gründen unmöglich: Zum einen ist die Macht der Judikative durch die Bindung des Richters an den Wortlaut der Gesetze insofern begrenzt, als jede willkürliche Entscheidung durch ihre Lösung vom Gesetzestext sichtbar wäre; zum anderen fehlt es der Judikative an eigenen Sanktionsmitteln, um ihren Willen im Missbrauchsfall auch gegen alle Widerstände selbst durchsetzen zu ksnen (Brodocz 2007). Heute hingegen wird der Judikative nahezu weltweit attestiert, dass sie wie eine regierende Gewalt auf den politischen Prozess einwirkt.1 Voraussetzung dafür ist die materielle Selbstbindung der Demokratie an Verfassungen und deren überprüfung durch eine Verfassungsgerichtsbarkeit (Maus 1994: 274–298; Volcansek 2001). Die Macht der Judikative wird deshalb erst dann zu einem Problem für die Demokratie, wenn sich Demokratien eine über die demokratischen Prozeduren hinausgehende Verfassung geben, an deren Änderbarkeit hohe Anforderungen gesetzt sind, deren Geltung der einfachen Gesetzgebung voran geht und von einem Verfassungsgericht kontrolliert wird.
André Brodocz
Die Demokratie der Bilder. Die Risiken und Chancen der audiovisuellen Demokratie
Auszug
Keine politische Ordnung kann ohne ein komplementäres Kommunikationssystem existieren. Selbst eine Militärdiktatur braucht unter funktionalen Aspekten effiziente Kommunikationswege, auch wenn sie sie nur zu Befehls- und Informationszwecken verwendet. Sie braucht Propagandainstrumente zur Mobilisierung eines unabdingbaren Minimums an politischer Unterstützung durch die Bevölkerung und braucht Zensur zur Immunisierung ihrer Herrschaft gegen gesellschaftlich fluktuierende Kritik. Demokratie als Ordnungsform ist bereits in der Antike durchsetzt von den Imperativen einer normativ aufgeladenen Vorstellung gesellschaftlicher Kommunikation (Bleicken 1991: 248–251). Auch deshalb vermeidet radikale Demokratiekritik selten den Hinweis auf die Defizite der kommunikativen Verfasstheit von Demokratie und hält ihr vor, dass sie ihre eigene kommunikative Leitidee mehr oder weniger täglich aus ideologischen und strukturellen Gründen selber verrät.1 Das spätliberale Paradigma politischer Kommunikation, das für den modernen Verfassungsstaat modellgebend war und bis in die Urteile des Bundesverfassungsgerichtes zu den in Artikel 5 GG geschützten Kommunikationsfreiheiten (Meinung, Verbreitung, Information, Medien) nachwirkt,2 geht davon aus, dass die politische Herrschaft in einer repräsentativen Demokratie durch Kommunikation kontrolliert und orientiert werden kann. Öffentliche Kommunikation verhindert beides: den korrupten Missbrauch der Macht und inhaltliche Fehlentscheidungen. Weil in der liberalen Demokratie potenziell alle Entscheidungen im Medium der öffentlichen Kommunikation gefällt und gerechtfertigt werden müssen, können die am Diskurs beteiligten Bürger ihre Interessen wahren und zugleich ihren Beitrag zur sachlichen Ausrichtung der Politik leisten. Tendenziell verwandelt sich so Macht in einen wahrheitsfähigen Diskurs, der die blinde Willkür früherer Herrschaftsordnungen in eine durch diskursive Verfahren abgesicherte Vernunft überführt: „pro volontate ratio“.
Wilhelm Hofmann
Die ökonomische Bedrohung politischer Selbstbestimmung. Zum Verhältnis von Demokratie und Wohlfahrtsstaat
Auszug
Stellt man die Frage nach dem Verhältnis von Demokratie und Wohlfahrtsstaat, so stößt man unweigerlich auch auf die Spannung, die sich einstellt zwischen dem Streben nach politischer Selbstbestimmung und dem allgegenwärtigen ökonomischen Imperativ, der die Möglichkeiten dieser Selbstbestimmung stets zu beschränken scheint. Der ökonomische Imperativ, d. h. die imperative Denkungsart, Politik und Gesellschaft allein unter dem Gesichtspunkt der zu ermöglichenden Effizienzsteigerung und Kommodifizierung zu betrachten, hat in den vergangenen Jahren demokratisches Entscheiden immer stärker geprägt, kanalisiert, im Extremfall sogar determiniert. Die Terminologie der Alternativlosigkeit angesichts ökonomischer Zwänge ist wenigstens in der Wirtschafts-, Sozial- und Steuerpolitik weit verbreitet. Dass damit der Einrichtung des demokratischen Streits und des konfliktbeladenen politischen Entscheidens zusehends die normative Rechtfertigung entzogen wird, ist einer der zentralen Kritikpunkte, die in jenem Strang der jüngeren Demokratietheorie, der lose mit dem Begriff der Postdemokratie verbunden ist, regelmäßig wiederkehren.1 Die These der Entpolitisierung der Politik findet sich prominent bei Colin Crouch (2004), der sie einerseits an der spektakulären Ritualisierung der Politik, andererseits aber auch am Niedergang des — ohnehin in den westlichen Demokratien großteils eingehegten — Klassenkonflikts festmacht. Radikaler noch als Crouch formulierte der französische politische Philosoph Jacques Rancière bereits einige Jahre zuvor seine Kritik an der konsensuellen Postdemokratie: Indem sie kontinuierlich durch die administrative Maschine produzierte, vermeintlich vernünftige, einzig sinnvolle Konsense vorschütze, schließe die Postdemokratie den Faktor der Erscheinung eines widerständigen Volkes aus: „Es handelt sich um die Idee einer Demokratie ohne demos, die sich im einfachen Spiel von staatlichen Institutionen und Gesellschaft ausbildet“ (Rancière 1997: 109).
Martin Nonhoff

Bedrohungen durch normative Selbstüberforderung

Frontmatter
Das genealogische Verhältnis der konstitutionellen Demokratie zur kosmopolitischen Menschenrechtsidee
Auszug
Alexis de Tocqueville äußerte in seinem Buch „Die Demokratie in Amerika“ die Meinung, dass alle Nationen, und so auch die Demokratien, Teil der „société universelle“ seien bzw. zur „genre humain“ gehörten (Tocqueville 1959/1962, Bd. 1, 2. Teil, Kap. 7). Er bezeichnete die Nation als eine Art Geschworenenkollegium, das die gesamte Menschheit vertritt und ihr allgemeines Gesetz, die Gerechtigkeit, verwirklichen soll; noch über der Souveränität des Volkes liege die Souveränität der Menschheit. Daher kann der Mensch, bedrängt von der moralischen Macht der Mehrheit, die in extremer Form wie ein Tyrann wirken kann, an die Souveränität der Menschheit appellieren. Damit hat Tocqueville das Spannungsverhältnis beschrieben, in dem gegenwärtig die Menschenrechtsidee und die Demokratieidee stehen.
Marcus Llanque
Weder Engel noch Teufel ... Zur Notwendigkeit und den Grenzen von Tugendzumutungen
Auszug
Die Frage, in wieweit eine demokratische Ordnung zu ihrem Erhalt auf entgegenkommende Tugenden angewiesen ist, gehört zu den alten und neuen Streitfragen der politischen Theorie. Besonders in der republikanischen Tradition politischen Denkens wird argumentiert, dass die Realisierung des allgemeinen Wohls einer politischen Gemeinschaft ohne Zumutungen an die subjektive Selbstbindung der Akteure nicht zu haben sei. Dem wird aus liberaler Perspektive entgegen gehalten, dass die öfffentliche Verkündung und Förderung allgemeinverbindlicher Verhaltensforderungen mit einem Pluralismus von Vorstellungen des Guten unvereinbar und nur mit Mitteln illiberalen Zwangs durchzusetzen sei. Republikanische Denker beziehen sich bei ihrer Argumentation meist auf aristotelische, bürgerhumanistische oder Rousseau’sche Grundlagen. So stellen sie etwa den Zusammenhang zwischen öffentlicher Tugend, gutem Leben und politischer Praxis heraus, charakterisieren Machiavellis „virtù“ als Erhaltungsbedingung der Republik oder betonen im Geiste Rousseaus die Notwendigkeit der Verwandlung von eigeninteressierten bourgeoises in gemeinwohlorientierte citoyens.1 Die liberale Tradition sieht die Moderne im Wesentlichen durch eine Absicherung individueller Freiheitsrechte gekennzeichnet, die den Individuen nicht nur ökonomische, sondern auch personale Freiräume zur Verfolgung des eigenen Glücks garantiert. Dieses kann auch unabhängig von öffentlichen Tugendanforderungen verwirklicht werden. Zur Realisierung des Gemeinwohls bevorzugen Liberale ein System von checks and balances, das nicht von der Notwendigkeit der Tugend ausgeht, sondern die Frage nach der guten politischen Ordnung auf die Ebene der institutionellen Organisation verlegt.2
Sandra Seubert
Responsivität — Selbstzerstörerisches Ideal liberaler Demokratie?
Auszug
In dem vorliegenden Aufsatz sollen drei Thesen expliziert werden, die — obwohl in unterschiedlichen Subdisziplinen der Politikwissenschaft verortet — thematisch eng verbunden sind. Die erste These lautet, dass die politische Soziologie — und hier insbesondere die empirische Demokratieforschung — die Einstellung „Vertrauen zur Regierung“ nicht angemessen theoretisch herleitet und deshalb das in den meisten liberalen Demokratien des Westens in den letzten 30 Jahren zu diagnostizierende Phänomen sinkenden Vertrauens in die Regierung theoretisch unzulänglich bewertet.1 Die zweite These lautet, dass eine Quelle des sinkenden Vertrauens die steigende Attraktivität der ökonomischen und politischen Leitideen des Neo-Liberalismus ist. Aus der Verbindung dieser beiden Thesen resultiert die dritte: Die normative Attraktivität des zentralen demokratischen Ideals der liberalen Demokratie — die Responsivität — wird durch die Leitideen des ökonomischen Neo-Liberalismus einerseits zwar gesteigert, andererseits — und überaus problematisch in theoretischer wie empirischer Perspektive — unterminiert der ökonomische Neo-Liberalismus zugleich die empirischen Realisierungsmöglichkeiten von Responsivität. Vor diesem Hintergrund wird in konzeptioneller Perspektive dafür plädiert, eine Quelle des sinkenden Vertrauens in die Regierung in den veränderten ökonomischen Leitideen zu sehen. In theoretisch-normativer Perspektive wird argumentiert, dass der Siegeszug des ökonomischen Neo-Liberalismus — in geradezu paradoxer Art und Weise — eine Transformation zentraler demokratischer Leitideen erfordert. Das liberale Ideal (aggregativer) Responsivität muss um Komponenten deliberativer Formen demokratischer Entscheidungsfindung ergänzt werden.
Gary S. Schaal
Ökonomismus — eine Selbstgefährdung der Demokratie? Über Legitimation durch Wohlstand
Auszug
Als am 30. Oktober 2006 Nicholas Stern seinen Bericht über die ökonomischen Folgen des Klimawandels, den „Stern Review on the Economics of Climate Change“, vorstellte, horchte die Weltöffentlichkeit auf. Erstmals hatte sich ein Ökonom, kein Klimaforscher wie immer wieder betont wurde, in einer umfangreichen Studie zum Klimawandel geäußert. Der Stern-Report kam zu dem Ergebnis, dass der Klimawandel Kosten in Höhe von 5,48 Billionen Euro verursachen könnte. Tony Blair sprach vom wichtigsten Papier, das er während seiner Amtszeit erhalten habe. Die einschlägigen Schlagzeilen lauteten „Klimawandel bedroht Weltwirtschaft“ (Spiegel Online 2006) und fokussierten auf die Gefahren für das weltweite Wirtschaftswachstum. Rund einen Monat später zeigte sich Stern selbst hochgradig überrascht über die heftigen Reaktionen auf seinen Bericht (FAZ 2006).
Felix Heidenreich
Backmatter
Metadata
Title
Bedrohungen der Demokratie
Editors
André Brodocz
Marcus Llanque
Gary S. Schaal
Copyright Year
2009
Publisher
VS Verlag für Sozialwissenschaften
Electronic ISBN
978-3-531-91156-4
Print ISBN
978-3-531-14409-2
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-531-91156-4