Die historische Entwicklung unterteilen wir in drei Phasen, in denen wir je die dominanten Netzwerkkonfigurationen in vier Bereichen beleuchten: Internetinfrastruktur, Digitalwirtschaft, digitale Öffentlichkeit und Internet Governance.
3.1 Phase 1: Ein offenes Netzwerk unter Führung der USA
Schon seit den 1960er-Jahren gab es in unterschiedlichen Ländern und Regionen Ansätze dazu, die Computersysteme von Forschungseinrichtungen miteinander zu vernetzen. Das umfassendste Netzwerk dieser Art war das ARPANET, ein vom US-Verteidigungsministerium gefördertes System zur Vernetzung von Einrichtungen, die Forschung für das Ministerium betrieben. Das Internet, wie wir es heute kennen, entstand zwar erst Anfang der 1990er-Jahre und setzte sich auch erst dann als weltweit dominantes Netzwerk zum Datenaustausch durch. Ein Großteil der technischen Standards und Protokolle, die für den Austausch von Daten im Internet sowie für seine gesellschaftliche Wahrnehmung und die Nutzung seiner Anwendungen grundlegend waren, wurden jedoch bereits in dieser Frühphase entwickelt.
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Die grundlegenden Web- und E‑Mail-Protokolle sind dabei bis heute Beispiele für eine bewusst offen und dezentral angelegte Netzwerkkonfiguration. Eine Website lässt sich von verschiedenen Endgeräten aus lesen, auch werden die Protokolle von verschiedenen Softwarelösungen genutzt, vor allem von den bis heute geläufigen Internetbrowsern. Zudem ermöglicht die gemeinsame Protokollbasis, dass verschiedene Dienstanbieter miteinander kompatibel sind. Die Nutzer können somit unter einer Vielzahl von Anbietern für das Hosting von Webseiten und die Verwendung von E‑Mails wählen, ohne den Anschluss an das weitere Netzwerk zu verlieren (Arkko
2020; Masnick
2019). Zugleich war die frühe Internetinfrastruktur in gewisser Hinsicht durchaus zentral organisiert. So wurde das Domain-Name-System (DNS) – auch bekannt als das „Adressbuch des Internets“, da es von Menschen lesbare Webadressen computerlesbaren IP-Adressen zuordnet – anfangs von einer Person verwaltet, dem amerikanischen Informatiker Jon Postel. Offiziell kam diese Aufgabe der Internet Assigned Numbers Authority (IANA) zu, die ursprünglich von einer dem US-Verteidigungsministerium zugeordneten Behörde verantwortet und finanziert wurde.
8 Da die Anzahl der mit dem Internet verbundenen Entitäten anfangs noch sehr beschränkt war, konnte Postel das System händisch verwalten. Es lag also an ihm, neuen Teilnehmern Adressen zuzuweisen und sie somit in das Netzwerk aufzunehmen. Postel – sowie der von ihm geführten IANA – kam so eine zentrale Machtposition innerhalb des damals noch sehr überschaubaren Netzwerkes zu (Ahlert
2001, S. 70; Weinberg
2011, S. 199). De facto nahm er die Rolle eines „Gatekeepers“ ein, wobei nichts darauf hindeutet, dass er diese Position in problematischer Weise ausgenutzt hätte.
Auch mit Blick auf die Internetanwendungen bzw. die Digitalwirtschaft lässt sich bereits in dieser Frühphase das Spannungsverhältnis von Zentralisierung und Dezentralisierung beobachten. So wurde die Entwicklung des Internets in den USA anfangs durch massive öffentliche Investitionen gefördert; die Nutzung der Netze für wirtschaftliche Transaktionen war nicht erlaubt. Ursprünglich bewusst für eine nichtkommerzielle Nutzung entwickelt, wurde das Internet jedoch zu Beginn der 1990er-Jahre für wirtschaftliche Transaktionen freigegeben (Foster und McChesney
2014). Seine Privatisierung und Kommerzialisierung verlief seitdem in mehreren Schüben und veränderte über die letzten Jahrzehnte nicht nur die Form des Wirtschaftens, sondern auch soziale und technologische Konfigurationen. Im Rahmen der allgemeinen Liberalisierungswelle privatisierte die Clinton-Administration zunächst nicht nur die Internetinfrastruktur, sondern erlaubte privatwirtschaftlichen Anbietern auch, den Zugang zum Internet als Dienstleistung zu verkaufen und kommerzielle Internetanwendungen zu entwickeln (Radu
2019, S. 75 ff.).
9 Mit der bewussten Intention, privatwirtschaftliche Investitionen anzuregen, stellte sie das Internet mit dem „Telecommunications Act“ von 1996 zudem von den für klassische Telekommunikationsanbieter üblichen Regulierungen frei.
Als Konsequenz liegt ein Großteil der Internetinfrastruktur in den USA und in vielen weiteren Staaten, die deren Vorbild folgten, bis heute in den Händen privater Unternehmen. In diesem Sinne war das globale Internet ein Kind seiner Zeit, die geprägt war von neoliberalen Vorstellungen der Überlegenheit der Märkte gegenüber öffentlichen Institutionen (Chenou
2014). Doch während die Kommerzialisierung dazu führte, dass sich das Internet global ausbreiten konnte, und den Weg für Innovationen ebnete, die bis heute seine Nutzung bestimmen, führte sie gleichzeitig zu einer Machtkonzentration in den Händen weniger US-amerikanischer Anbieter und damit zu einer bis dahin unbekannten Zentralisierung innerhalb des globalen Netzes. Die kommerziellen Browser Netscape Navigator und Microsoft Internet Explorer waren für die meisten Nutzer lange das einzige Tor zum World Wide Web, sodass die dahinterstehenden Firmen eine eminente Machtposition innerhalb des Netzwerkes besetzten. Neben dem Geschäft mit Internetzugängen hatte die Einführung von E‑Commerce früh zur Folge, dass die Bedeutung von Onlinewerbung und, eng damit verbunden, der Auswertung von personenbezogenen Daten zunahm. So wurden in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre Unternehmen wie Amazon gegründet, das als Online-Buchhändler begann und heute ein globaler Megakonzern ist.
Gleichzeitig führte das Internet eine neue, stärker dezentrale Form von Öffentlichkeit ein. Traditionelle Medien wie Zeitung, Radio und Fernsehen sind vergleichsweise stark konzentriert: Wenige verfassen Inhalte, die von Vielen rezipiert werden (Shoemaker und Reese
1996). Diese medialen Gatekeeper erfuhren nun zunehmend Konkurrenz durch digital zugängliche Dienste, in denen jeder Nutzer im Prinzip als Empfänger und Sender agieren kann (Pfister
2011, S. 218). In den 1990er-Jahren war das Angebot an Internetanwendungen, die das auch praktisch ermöglichten, jedoch noch sehr beschränkt. Zwar gab es neben E‑Mail schon Chat-Systeme und Newsgroups, doch war deren Bedeutung im Vergleich zu klassischen Medien äußerst gering. Für die Entstehung einer digitalen politischen Öffentlichkeit reichten damals schlicht die Verbreitung von Internetzugängen und die Möglichkeiten des interaktiven Austauschs noch nicht aus. Entsprechend gab es weder von staatlicher noch privatwirtschaftlicher Seite feste Regeln oder Vorgaben, die als Grundlage für öffentliche Onlinekommunikationen und -interaktionen hätten gelten können (Hofmann
1996, S. 20). Vielmehr galt die sogenannte „Nettiquette“, die aus einer Reihe ungeschriebener Verhaltensnormen bestand und deren Nichtbeachtung zu öffentlicher Kritik durch andere Internetnutzer bis hin zum Ausschluss aus bestimmten Foren führen konnte (Ahlert
2001, S. 69). Dies trug ebenfalls zur dezentralen Gestaltung der digitalen Öffentlichkeit bei, da somit nicht nur die Kommunikationsmöglichkeiten, sondern auch Eingriffs- und Kontrollmöglichkeiten auf die verschiedenen Gemeinschaften von Nutzern verteilt waren.
Die Internetpolitik der USA in den 1990er-Jahren wirkte sich nicht nur auf die frühe Digitalwirtschaft, sondern auch auf die frühen Strukturen der Internet Governance aus, die in dieser Zeit entstanden. Trotz aller Bekenntnisse der US-Regierung zum Welthandel diente die privatwirtschaftliche Öffnung primär dazu, einheimische Unternehmen zu fördern. So wurde die zentrale Stellung der USA im globalen Internet gefestigt und die Entwicklung des Internets insgesamt stark liberal geprägt. Nahezu emblematisch zeigte sich die US-amerikanische Vormachtstellung im Kontext der Internet Corporation for Assigned Names and Numbers (ICANN), der neben der bereits erwähnten IETF auch international besondere Aufmerksamkeit zukam. ICANN wurde 1998 mit dem Ziel gegründet, der bis dahin von Postel bzw. IANA betreuten Verwaltung des DNS einen verlässlichen institutionellen Rahmen zu geben. Umstritten war jedoch, wie dieser aussehen sollte. Gemessen an der gewachsenen Bedeutung des Internets hatten einige Staaten gefordert, diese Aufgabe fortan der Internationalen Telekommunikationsunion (ITU) zu übertragen. Mit der Gründung von ICANN setzte die US-Regierung stattdessen eine nichtstaatliche Lösung durch (Hills
2007, S. 140 ff.). Gleichzeitig sicherten sich die USA selbst eine privilegierte Stellung, indem die IANA-Funktion operativ an ICANN übertragen wurde, das US-Handelsministerium aber zunächst weiterhin eine politische Aufsicht ausübte. Auf technisch grundlegender Ebene konnte die US-Administration somit ihre Macht über das Internet behaupten.
Die neu geschaffenen Arbeits- und Entscheidungsstrukturen der ICANN orientierten sich an der Idee der Multi-Stakeholder-Governance, in der staatliche Entscheidungsträger und andere Interessengruppen aus Wirtschaft, Technik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft in einem nichthierarchischen und damit vermeintlich dezentral organisierten Aushandlungsprozess Regeln und Normen entwickelten. Um die Dynamik der technischen Entwicklung nicht zu gefährden, sollte der Selbstregulierung Vorrang gewährt werden. Die Einbeziehung aller am Internet beteiligten Stakeholder sollte dabei einen vielfältigen Input sicherstellen und zugleich dem Zugriff von Regierungen – mit Ausnahme der US-Regierung selbst – auf die zukünftige Konfiguration des globalen Netzwerkes vorbeugen (Hofmann
2016, S. 35 ff.).
10 Damit kann die ICANN als Institutionalisierung des von der US-Regierung angestrebten Internet-Governance-Konzepts gelten. Liberale Ordnungsvorstellungen und ein emphatisches Bekenntnis zur Idee einer dezentral angelegten Multi-Stakeholder-Governance wurden verbunden mit dem Versuch, die zentrale Stellung der US-Regierung und amerikanischer Unternehmen zu wahren. Aus Sicht der US-Regierung stellte dies keinen Widerspruch dar: Vielmehr galt ihr (und gilt vielen bis heute) die starke Stellung der USA als Garant für eine liberale digitale Ordnung. Nicht überraschend stößt die ICANN dementsprechend aber auch seit ihrer Gründung auf anhaltenden Widerstand bei all jenen Regierungen, die gegen diesen Ordnungsentwurf opponieren.
Der Konflikt zwischen liberalen Prinzipien und staatlichen Souveränitätsansprüchen wurde jedoch nicht nur auf globaler Ebene ausgetragen, sondern bestimmte auch schon in den 1990er-Jahren die nationale Internetpolitik vieler Länder, inklusive der USA selbst. Ein prägnantes Beispiel dafür sind die als „Crypto Wars“ bezeichneten hitzigen Auseinandersetzungen um eine mögliche Regulierung von Verschlüsselungstechnologien für Onlinekommunikation, die in mehreren Phasen zwischen westlichen Regierungen und ihren Sicherheitsbehörden einerseits und Vertretern von Digitalwirtschaft und Internetnutzern andererseits ausgetragen wurden (Schulze
2017). Der Protest gegen solche frühen politischen Interventionen speiste sich auch aus dem damals unter internetpolitischen Aktivisten quasi unangefochtenen Mantra, dass sich das Internet letztlich jeglichen – und insbesondere staatlichen – Regulierungsversuchen widersetzen müsse. Die Überzeugung, dass gerade in dieser Unabhängigkeit des Internets von staatlicher Macht die „Freiheit“ des Cyberspace bestehe, stand im Zentrum des sogenannten Cyber-Exzeptionalismus bzw. Cyber-Libertarismus, wie er 1996 von John Parry Barlow in der berühmten „Declaration of the independence of cyberspace“ ausgerufen wurde (Pohle und Thiel
2019, S. 59 ff.).
Führt man sich die verschiedenen Netzwerkkonfigurationen in der Frühzeit der globalen Verbreitung des Internets und seiner beginnenden Kommerzialisierung summarisch vor Augen, so sticht die zentrale Stellung der US-Regierung sowie US-amerikanischer Unternehmen klar hervor. US-Akteure kontrollierten nicht nur die wenigen zentralen Punkte im Netzwerk, sondern hielten auch entscheidende Gatekeeper-Positionen inne und nutzten die daraus resultierende Macht, um sich eine gute wirtschaftliche Startposition zu sichern und neue Märkte zu erschließen bzw. geopolitische Abhängigkeiten zu etablieren. Zwar gab es bis weit in die 1990er-Jahre hinein parallele Ansätze zum Aufbau von Computernetzwerken auch in anderen Ländern, doch konnte sich keines dieser alternativen Systeme lokal oder gar weltweit durchsetzen. Russland befand sich in einer Phase des radikalen Umbruchs, und China war noch weit entfernt davon, wirtschaftlich und technologisch mit den USA konkurrieren zu können. Ebenso wenig konnten sich die staatlich forcierten und zentralistischer ausgerichteten Systeme in Europa, wie das französische Minitel-Netz (Gonzalez und Jouve
2002) oder das deutsche BTX-System (Schneider
1989), gegenüber dem US-amerikanischen Internet behaupten.
Das Ausbleiben größerer Konflikte um das Internet in dessen Frühphase lässt sich wohl vor allem durch dessen noch vergleichsweise geringe wirtschaftliche wie politische Bedeutung erklären. Den Regierungen vieler Staaten war das gesellschaftsverändernde Potenzial dieser neuen Technologie noch kaum bewusst. Zugleich hatte sowohl die cyberlibertäre Vision eines von staatlichen Herrschaftsansprüchen losgelösten Cyberraums, in dem jeder Nutzer gleichermaßen willkommen ist, als auch die Idee einer selbstverwalteten Infrastruktur eine sehr hohe Überzeugungskraft. Dass die USA sich eine zentrale Stellung innerhalb des Netzwerkes des Internets sicherten und in uneinholbarer Weise Macht über das globale Internet ausübten, wurde so weder von den frühen Internetnutzern und jungen Unternehmen der Internetwirtschaft noch von den meisten liberalen Staaten als Problem wahrgenommen. Bis heute hält sich hartnäckig das Narrativ, dass diese Konstellation historisch begründet und damit gerechtfertigt sei sowie de facto keine nennenswerten Einschränkungen des Internets als offenem Netzwerk mit globaler Reichweite mit sich bringe. Die Vorstellung, das Internet komme ohne zentrale Akteure oder Kontrollpunkte aus, ist noch immer weit verbreitet.
3.2 Phase 2: Globale Ausweitung des Internets und Pluralisierung
Spätestens ab der Jahrtausendwende begünstigten sinkende Preise für den Onlinezugang sowie für die entsprechenden Endgeräte die Ausweitung des Internets auf weitere gesellschaftliche Bereiche. Auch immer mehr Wirtschaftszweige wurden erfasst und durch neue technische Netzkonfigurationen – beispielsweise Peer-to-Peer-Netzwerke – nachhaltig beeinflusst. So leitete etwa die massive Nutzung des Peer-to-Peer-Dienstes Napster, über den Nutzer Musikdateien weltweit kostenlos austauschen konnten, den bis heute anhaltenden Wandel der Musikbranche ein. Zudem erweiterten sich die Zugangsmöglichkeiten zum Internet. War in den Anfangsjahren ein meist recht klobiger Computer nötig, um Internet-Anwendungen zu nutzen, so läutete das erste iPhone von 2007 die Zeit des mobilen Internets ein. Neu war daran auch, dass diese Geräte per Mobilfunk permanent mit dem Internet verbunden waren. Damit multiplizierten sich nicht nur die Verbindungspunkte, sondern das virtuelle Netzwerk wurde auch immer mehr Teil der physischen Welt. Spätestens ab diesem Moment wurde die Unterscheidung zwischen online und offline immer schwieriger.
Die Internetinfrastruktur wurde aber nicht nur anders, sondern auch von immer mehr Menschen in immer weiteren Teilen der Welt genutzt. Bis 2010 stieg der Anteil der Internetnutzer auf etwa ein Drittel der Weltbevölkerung. Entsprechend wuchs das Bewusstsein, dass die zunehmende globale Vernetzung eben nicht alle Teile der Welt bzw. der Weltbevölkerung gleichermaßen erreicht. Denn das Netzwerk der Internetinfrastruktur und ihrer Anwendungen dehnte sich nicht lückenlos aus; zugleich waren die nicht oder schlecht integrierten Bevölkerungsgruppen durchaus von den Veränderungen, die die digitale Vernetzung mit sich brachte, betroffen.
11 In Reaktion auf diese Entwicklung – bis heute als „digital divide“ diskutiert – entstanden in den 2000er-Jahren etliche Technologietransfer- und Infrastrukturprojekte mit dem Ziel, den Entwicklungsländern durch die digitale Einbindung zu wirtschaftlichem und gesellschaftlichem Aufschwung zu verhelfen und sie – nicht zuletzt als Konsumenten und Wirtschaftspartner – in das globale Netzwerk des Internets einzubinden. Die Konzentration dieser Projekte auf die technische und kommerzielle Dimension des Internets wurde aber gleichzeitig dafür kritisiert, die geopolitischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Hintergründe struktureller globaler Ungleichheit, die sich bis heute in den Machtkonfigurationen des globalen Internets widerspiegeln, auszublenden (Stevenson
2009).
Die globale Ausbreitung des Internets zeigte sich auch in den Strukturen der Digitalwirtschaft. Zwar erfuhr die Euphorie für internetbasierte Geschäftsmodelle mit dem Platzen der „Dotcom Bubble“ im Jahr 2000 einen kurzzeitigen Dämpfer. Zugleich gelang es jedoch US-Technologieunternehmen, gewissermaßen im Fahrwasser des Internets neue Märkte zu erschließen und dabei zentrale Machtpositionen im globalen Internet bzw. in neuen Teilnetzen einzunehmen. Alleine der weltweite Markt für Endgeräte bescherte Hardwareherstellern wie Intel oder Softwareanbietern wie Microsoft immense Verkaufszahlen. Eine Erweiterung der Digitalwirtschaft fand hingegen auf der Ebene der Internetinfrastruktur statt: Ein Großteil der Internet-Service-Provider dieser Zeit waren lokale Unternehmen, nicht selten frühere Telefonmonopolisten wie die Deutsche Telekom, die ihre Vormachtstellung innerhalb nationaler Teilnetzwerke sicherten und so zu einer Diversifizierung der Internetzugangsmöglichkeiten beitrugen. Zugleich entstanden auf der ganzen Welt, und damit auch außerhalb der USA, Internetknotenpunkte, was ebenfalls zu einer Pluralisierung und Dezentralisierung der globalen Internetinfrastruktur beisteuerte.
Die 2000er-Jahre waren auch die Zeit, in der genuin neue Geschäftsfelder entstanden, die sich mit Produktion und Vertrieb digitaler Dienstleistungen und Güter befassen, wie etwa IT-Sicherheitsdienstleistungen für Unternehmen oder Musikstreamingdienste für Endverbraucher. So begann zu dieser Zeit auch der Aufstieg von Firmen wie Facebook und Google, die sich explizit auf Internetanwendungen spezialisierten. Im Westen oft übersehen wurde zu dieser Zeit ebenso das Fundament der chinesischen Digitalwirtschaft gelegt: Baidu, Alibaba und Tencent, unter dem Akronym BAT oft als Gegenpart der US-amerikanischen GAFAM (Google, Apple, Facebook, Amazon und Microsoft) bezeichnet, wurden alle um die Jahrtausendwende gegründet. Trotz der anhaltenden Dominanz einiger US-Unternehmen entwickelte sich die Digitalwirtschaft somit in dieser Phase vielfältiger und internationaler; auch hier kam es also zu einer Form von Dezentralisierung.
Das Aufkommen einer Reihe von neuartigen Internetanwendungen und Plattformen hatte direkte Auswirkungen auf die politischen Öffentlichkeiten im Internet. So erlaubten Anwendungen wie Blogs oder Videoportale den Nutzern, eigene Inhalte zu erstellen und in Echtzeit interaktiv und kollaborativ zu bearbeiten. Was heute selbstverständlich erscheint, galt damals als Umbruch und wurde in der Logik technischer Versionierungssysteme als Schritt hin zum „Web 2.0“ beschrieben. Zu den bis heute bekanntesten Beispielen gehört das kollaborative Projekt Wikipedia, das 2001 gestartet wurde. 2004 ging eine frühe Version von Facebook in Betrieb und leitete – vorerst in den USA, später weltweit – das Zeitalter der „Sozialen Netzwerke“ ein, die dezentrale Nutzerkommunikationen mit zentraler Gestaltungsmacht durch die dahinterstehenden privatwirtschaftlichen Anbieter kombinieren. Zugleich stand die Konzentration dieser Öffentlichkeiten in den Händen weniger Unternehmen noch aus, sodass die neuen Möglichkeiten zur Interaktion und Kollaboration auch die Hoffnung auf eine so dichte wie dezentrale digitale Öffentlichkeit katalysierten. Vor allem westliche Beobachter antizipierten einen per se demokratisierenden sozialen Impuls durch digitale Vernetzung und sahen sich durch die oft als „Facebook-“ und „Twitter-Revolutionen“ bezeichneten Proteste des „arabischen Frühlings“ ab 2010 bestätigt. Auch wenn die Rolle der sozialen Medien in diesen Konflikten Gegenstand bis heute anhaltender Kontroversen ist (Morozov
2011; Transfeld und Werenfels
2016), führten die neuen dezentralen Vernetzungstechniken hier ohne Zweifel zu einer neuartigen digitalen Öffentlichkeit.
Mit seiner zunehmenden wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Bedeutung wurde das Internet in den 2000er-Jahren zudem erstmals explizit zum Gegenstand internationaler Politik. Im Versuch, eine Lösung für das Problem der „digital divide“ zu finden, organisierten die Vereinten Nationen in den Jahren 2003 bis 2005 den Weltgipfel zur Informationsgesellschaft (World Summit on the Information Society, kurz WSIS), der auch mit Elementen von Multi-Stakeholder-Governance verbunden wurde. Während des WSIS kam es zu einem ersten offen ausgetragenen Konflikt zwischen Befürwortern des damaligen Status Quo der Internet Governance unter US-amerikanischer Führung und Verfechtern einer Verwaltung des Internets durch eine zwischenstaatliche Organisation, wie etwa der ITU (Kleinwächter
2004; Raboy
2004). Doch erneut konnten sich die USA und ihre westlichen Verbündeten durchsetzen. So ging aus dem WSIS das Internet Governance Forum (IGF) hervor, das seit 2006 jährlich unter Schirmherrschaft der UN stattfindet. Die Hoffnung dabei war, durch ein globales, inklusives Forum die strittigen Fragen über die Zukunft der globalen digitalen Ordnung auf dem Wege freiwilliger Koordination und Kooperation lösen zu können. Der für die UN damals noch sehr ungewohnte Beschluss, das IGF als Multi-Stakeholder-Prozess zu gestalten, sollte dafür Sorge tragen, dass die Zukunft des Internets nicht einseitig von den Staaten vorgegeben werden würde (Hofmann
2016, S. 37 ff.).
Schon damals war diese Vorstellung jedoch höchst umstritten. Zumindest einige Staaten erkannten die politische Bedeutung des Internets und versuchten, ihren Herrschaftsanspruch nun auch hier zur Geltung zu bringen (Deibert et al.
2010). Ein extremes Beispiel hierfür ist der Aufbau der „Great Chinese Firewall“: Ab 2003 bemühte sich die chinesische Regierung durch ein umfangreiches technisches Programm feingliedrig zu steuern, welche Informationen in das chinesische Teilnetzwerk des Internets gelangen und dieses verlassen können. Das Ziel war und ist bis heute, das wirtschaftliche Potenzial des Internets zu nutzen, ohne die Kontrolle über die politische Öffentlichkeit in China zu verlieren. Seit 2010 nutzt die chinesische Regierung prominent den Begriff der „Cybersouveränität“, verstanden als Übertragung des klassisch-westfälischen Verständnisses von Staatlichkeit auf den digitalen Raum und gerichtet gegen die von den USA dominierte globale digitale Ordnung (Arsène
2016). Zu dieser Zeit war die chinesische Politik indes vor allem defensiv ausgerichtet und zielte nicht darauf, die globale Ordnung strukturell zu transformieren. Vielmehr bezweckte sie primär, die chinesische Regierung als Gatekeeper und ultimative Machtinstanz innerhalb des inländischen Teilnetzwerkes zu etablieren. Prominente Unterstützung auf der internationalen Ebene erhielt Peking dabei aus Russland, dessen Führung ebenso frühzeitig den machtpolitischen Aspekt digitaler Vernetzung erkannte und sich dafür einsetzte, Nationalstaaten eine zentrale Verfügungsgewalt über das globale Internet einzuräumen (Nocetti
2015).
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Doch auch im Verhältnis zwischen den USA und der Europäischen Union zeichneten sich zu dieser Zeit erste Konfliktlinien ab. Die verschiedenen neuen Ermächtigungen zur digitalen Datensammlung und -auswertung von Internetnutzern infolge der Terroranschläge des 11. September 2001 betrachteten zivilgesellschaftliche Akteure und Datenschutzbehörden in Europa von Beginn an kritisch. Seit dieser Zeit schwelt an dieser Stelle eine transatlantische Auseinandersetzung, die sich letztlich an der zentralen Stellung der USA und damit der US-amerikanischen Nachrichtendienste entzündet: Aufgrund der Dominanz US-amerikanischer IT-Anwendungen in Europa werden digitale Datenströme oftmals über zentrale Knotenpunkte in den USA geleitet. Da man seit langem davon ausgehen musste, dass dort US-Behörden und -Nachrichtendienste auf die Daten zugreifen, erhielt die Frage, unter welchen Bedingungen Daten von EU-Bürgern in die USA übertragen werden dürfen, für staatliche wie nichtstaatliche Akteure dauerhafte Brisanz (Farrell und Newman
2019a).
Netzwerktheoretisch gesprochen kam es mit der globalen Ausbreitung des Internets also zu ersten Anzeichen einer möglichen Machtverschiebung. Zwar konnten die USA ihre zentrale Stellung und damit ihre Macht über das Internet behaupten – allein weil mit dessen weltweiter Ausbreitung ihre ohnedies einflussreiche liberale Wirtschafts- und Technologiepolitik zusätzlich an Einfluss gewann. Dies manifestierte sich etwa in dem um die Jahrtausendwende – nicht nur im nordatlantischen Raum – virulenten Diskurs über die „Informationsgesellschaft“ und den damit vermeintlich assoziierten Fortschritt durch Technologie und Deregulierung (van Audenhove et al.
2003). Auch die bis heute mit dem Silicon Valley verbundene Vorstellung, dass das freie und offene Internet automatisch zu mehr Gleichheit, Gerechtigkeit, Demokratie und Freiheitsrechten führen werde, übte auf Internetnutzer und Entscheidungsträger in vielen Ländern der Welt eine kaum hinterfragte Attraktivität aus (Khiabany
2003). So war anfangs der Wunsch, Teil des Netzwerkes zu sein, stärker als der Wunsch nach seiner Rekonfiguration. Zugleich etablierten China und andere Staaten bereits zu Beginn des neuen Jahrtausends alternative digitale Ordnungen und eigene technologisch-ökonomische Strukturen, die sich der US-amerikanischen Hegemonie entzogen. Aber auch in der Digitalwirtschaft entstanden neue Knotenpunkte im globalen Netzwerk in Form von international oder national operierenden Firmen außerhalb der USA, die wachsenden Einfluss auf das Nutzungs- und Kommunikationsverhalten ausübten. Dies führte zu einer Pluralisierung des Internets und in gewissem Maße auch bereits zu einer Dezentralisierung auf der Anwendungsebene.
3.3 Phase 3: Dezentralisierung sowie wirtschaftliche und politische Machtkonsolidierung
Auch in den 2010er-Jahren setzte sich die globale Ausbreitung des Internets fort.
13 Der Anteil derjenigen, die über mobile Geräte auf das Internet zugreifen, stieg insbesondere in den Entwicklungsländern rasant, wo der Mobilfunk bis heute das gängige Tor zum Internet darstellt. Neben der verstärkten mobilen Internetnutzung war die Entwicklung in den 2010er-Jahren von einem weiteren Megatrend geprägt: dem Wandel hin zum „Internet der Dinge“. Das Internet ermöglicht nun nicht mehr nur menschliche Interaktionen über maschinelle Infrastrukturen, sondern lässt Letztere auch autonom interagieren. Es wird erwartet, dass sich dieser Trend der immer stärkeren Vernetzung unserer menschlichen Umwelt weiter intensivieren und eine noch stärkere Pluralisierung und Dezentralisierung mit sich bringen wird.
Mit der Zunahme und Diversifizierung der Internetnutzung wuchs auch das Bewusstsein vieler Staaten, von den digitalen Infrastrukturen und ihren Anwendungen zunehmend abhängig zu sein. Nicht zuletzt aus diesem Grund nahmen seit den 2010er-Jahren die Konflikte um die zukünftige Gestalt des Internets an Schärfe zu. So spitzte sich 2012 der Streit um die Position von staatlicher Entscheidungs- und Handlungsmacht in der globalen Internet Governance im Rahmen der World Conference on International Telecommunications derart zu, dass Beobachter bereits von einem „digital cold war“ sprachen: Eine Reihe von Staaten, maßgeblich angeführt von Russland, versuchten ein weiteres Mal darauf hinzuwirken, der ITU die Verantwortung für die Verwaltung des Adresssystems des Internets zu übertragen (Kennedy
2013, S. 16; Musiani und Pohle
2014). Wie in der Vergangenheit gelang es den USA, diesen Vorstoß zu blockieren. Der Konflikt ist damit jedoch nicht beendet. So erklärten Putin und Xi am Rande der Eröffnung der olympischen Winterspiele 2022 ihre Absicht, die Zusammenarbeit bei Fragen der Digitalpolitik zu intensivieren, und forderten erneut eine „Internationalisierung“ der Internet Governance (TASS
2022) – zu verstehen im Sinne einer Stärkung staatlicher bzw. zwischenstaatlicher Kompetenzen.
Eine deutliche Verschärfung und Ausweitung erfuhr dieser Konflikt, als Edward Snowden im Sommer 2013 interne Dokumente der US-amerikanischen National Security Agency (NSA) öffentlich machte, aus denen hervorging, wie umfassend US-Behörden und Geheimdienste digitale Datenströme auswerten, um politische Gegner und Verbündete zu überwachen. Es zeigte sich, dass die US-Regierung die „Big Tech“-Konzerne dazu verpflichtete, ihre Gatekeeper-Funktion in bestimmten Teilnetzen auszunutzen, um Informationen über ihre Nutzer zur Verfügung zu stellen (Bauman et al.
2014).
14 So wurde erstmals für alle Welt sichtbar, dass die USA von ihrer digitalen Machtposition auch tatsächlich Gebrauch machen
15 – was jene Stimmen bestätigte, die schon zuvor die Kontrolle der USA über die globale Internetinfrastruktur problematisiert hatten. Es folgte ein Bewusstseinswandel: Selbst Staaten, die sich bis heute als Anhänger eines liberalen Multi-Stakeholder-Modells für die globale Internet Governance verstehen, kritisierten nun die US-Hegemonie und forderten alternative Ordnungen (Ni Loideain
2015).
Ein Zugeständnis der USA war in der Folge ein gewisser Rückzug bei der nominalen Kontrolle über die IANA und deren Aufgaben bezüglich des Internet-Adresssystems. In einem mehrjährigen Prozess wurde die Aufsicht über die IANA-Funktionen an eine neugeschaffene Multi-Stakeholder-Struktur innerhalb der ICANN übergeben (Hofmann
2016, S. 39). Damit wurde die von der US-Regierung bereits 1998 bei der Gründung von ICANN in Aussicht gestellte Übergabe der DNS-Verwaltung an den Privatsektor vollzogen und die Möglichkeiten der direkten Einflussnahmen durch die US-Regierung auf dem Papier verringert. Als kalifornisches Unternehmen untersteht ICANN jedoch der US-Jurisdiktion, sodass die USA auch weiterhin über eine außergewöhnliche Machtposition hinsichtlich des Adresssystems und damit des Internets insgesamt verfügen. Zugespitzt wurde dies deutlich, als die Trump-Administration 2018 öffentlich mit der Idee liebäugelte, die IANA wieder direkt der Kontrolle durch die Regierung zu unterstellen (McCarthy
2018): Zwar kam es nicht dazu, aber allein die reale Möglichkeit machte die latente Macht der US-Regierung für alle sichtbar. Wenig überraschend mehrte sich folglich in den letzten Jahren auch die Kritik unter Vertretern der Zivilgesellschaft und Wissenschaft, die im Multi-Stakeholder-Verfahren von ICANN eine Verfestigung bestehender Machtstrukturen zugunsten der Vereinigten Staaten und eine unzureichende Inklusion weiterer Perspektiven ausmachen (Carr
2015, S. 650 ff.; Milan und Hintz
2014).
Selbst angesichts des durch die Snowden-Enthüllungen ausgelösten Vertrauensverlusts gelang es den USA also, den Status Quo mit Blick auf die technische Verwaltung der globalen Internetinfrastruktur weitgehend zu verteidigen. Zugleich verlagerten sich in den letzten zehn Jahren eine Reihe von Staaten auf neue Strategien, um ihren digitalen Hoheitsanspruch mit verstärkter Vehemenz durchzusetzen. Sie wählten dabei einen Weg, der keine internationale Abstimmung voraussetzt, indem sie versuchten, die Kontrolle über „ihren“ Teil des Internets auszuweiten und diesen somit der staatlich-territorialen Logik unterzuordnen. Besonders umfassend sind hierbei die Bemühungen der Russischen Föderation. So machte die russische Regierung Ende 2019 ein Maßnahmenpaket öffentlich, das auf die Herstellung eines „souveränen Internets“ zielt. Im Rahmen der angekündigten Maßnahmen soll dabei die Kontrolle über die Internetinfrastruktur innerhalb des Landes so ausgebaut werden, dass sie im Krisenfall vom globalen Netz abgekoppelt werden könnte. Bis hinunter zum DNS, also der grundlegendsten Ebene der Internetinfrastruktur, versucht Russland so eine zentrale und souveräne Kontrollinstanz in „seinem“ Internet zu schaffen (Epifanova
2020; Soldatov
2019). Mit dem Angriff auf die Ukraine im Frühjahr 2022 hat die Regierung diese Aktivitäten noch einmal verstärkt, zumal die Sanktionen des Westens die Verletzlichkeit Russlands und die Abhängigkeit von US-Technologie in Schlüsselbereichen der digitalen Infrastruktur offenkundig gemacht haben. Das Putin-Regime nutzt diese Schwäche nun als Vorwand, sich weiter gegenüber Technologie aus dem Westen abzuschotten (Lakshmanan
2022).
Die chinesische Regierung hat das Ziel einer umfassenden Kontrolle des „eigenen“ Teilnetzes des Internets hingegen bereits erreicht. Ihre Ambitionen gehen jedoch mittlerweile darüber hinaus und zielen darauf ab, auch die globale Ordnung auf proaktive Weise neu zu gestalten. Digitale Technologien werden von der chinesischen Führung auch über die Landesgrenzen hinaus als Mittel gesehen, die eigene Macht nicht nur innerhalb von Teilnetzen, sondern über das globale Netz auszubauen. Der erklärte Anspruch ist es, zu einer „Cyber-Supermacht“ im globalen Maßstab aufzusteigen. Ähnlich wie in den USA besteht die dahinterliegende strategische Überlegung darin, die eigene politische und wirtschaftliche Vormachtstellung durch technologischen Vorsprung auszubauen (Schulze und Voelsen
2020).
16 Praktisch wirksam wird dies etwa in dem umfangreichen Bemühen um die Entwicklung und Verbreitung technischer Standards (Godehardt und Voelsen
2020; Rühlig
2020) sowie der Vielzahl von digitalen Infrastrukturprojekten in asiatischen und afrikanischen Ländern im Rahmen der „One Belt One Road“-Initiative (Eder et al.
2019). Auch an den Diskussionen über Fragen der digitalen Ordnung im Rahmen der UN ist China aktiv beteiligt. Zudem stellt das Land seit 2015 den Direktor der ITU. Bei den nächsten Wahlen für diesen Posten im Herbst 2022 stehen sich eine US-amerikanische Kandidatin und ein russischer Kandidat gegenüber.
Doch das Streben nach mehr Souveränität im Digitalen ist nicht auf autoritäre Staaten beschränkt. Unter dem Eindruck der Snowden-Enthüllungen versuchen auch liberale bzw. demokratische Staaten seit einigen Jahren, ihrem Anspruch auf digitaltechnologische Selbstbestimmung Geltung zu verschaffen. Auch dies sollte nicht überraschen, liegt es doch im Selbstverständnis liberaldemokratischer Staaten, nach selbst gesetzten Normen zu leben. Insbesondere in Brasilien, Indien und Europa – hier allen voran in Frankreich, Deutschland und auf Ebene der EU-Kommission – mehren sich seit 2013 die politischen Forderungen nach einer Stärkung der eigenen digitalen bzw. technologischen Souveränität, beispielsweise durch Wettbewerbsförderung und Kompetenzaufbau (Pohle und Thiel
2019, S. 73). Neben der Anwendungsebene betrifft das Streben nach digitaler Souveränität dabei auch in liberal geprägten Ländern die Ebene der Internetinfrastruktur, wenn auch in anderer Weise rechtsstaatlich eingehegt als in Russland oder China. So sehen Regelungen zur Datenlokalisierung in verschiedenen Ländern vor, dass bestimmte sensible Daten, die beispielsweise Gesundheit oder Finanzen betreffen, über nationale bzw. regionale Netzwerkverbindungen geleitet und nur in Datenzentren innerhalb der eigenen Grenzen gespeichert werden dürfen (Hill
2014; Panday und Malcolm
2018). Von US-Entscheidungsträgern oft als eine Form des „digitalen Protektionismus“ kritisiert (Hill
2014, S. 23), zielen viele dieser Initiativen und Regeln darauf ab, die Daten vor ungewolltem Zugriff aus dem Ausland zu schützen. Datenlokalisierung ist jedoch bei weitem nicht der einzige Bereich, in dem Regierungen durch gesetzliche Vorgaben versuchen, klare Regeln zu setzen und somit ihre digitale Selbstbestimmungs- und Handlungsfähigkeit zu stärken. Insbesondere die EU setzt in den letzten Jahren verstärkt auf Regulierung, um in Europa, aber auch weltweit, Standards zu etablieren und einheimischen sowie ausländischen Behörden und Unternehmen Grenzen zu setzen (Bradford
2020, S. 131 ff.). Weltweite Aufmerksamkeit kam etwa der 2018 in Kraft getretenen Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) zu (Bendiek und Römer
2018). Einen ebenso großen Effekt auf die Digitalwirtschaft, insbesondere die Plattformwirtschaft, könnten zwei europäische Regulierungsvorhaben haben, die derzeit noch verhandelt werden: der Digital Services Act und der Digital Markets Act.
Während sich genau an dieser Vielzahl von aktuellen Initiativen, die auf die Regulierung der Internetinfrastruktur und ihrer Anwendungen in bestimmten Teilbereichen des Internets abzielen, die Debatte um die Fragmentierung des Internets entzündet, waren die 2010er-Jahre mit Blick auf die Entwicklungen in der Wirtschaft und der politischen Öffentlichkeit von erheblichen Konzentrationsprozessen begleitet, die zu einer starken Zentralisierung etlicher Teilnetzwerke geführt haben. In der immer stärker integrierten globalen Digitalwirtschaft, die oft als Plattform- oder Überwachungskapitalismus beschrieben wird (Srnicek
2017; Foster und McChesney
2014; Zuboff
2019), gelang es einigen Technologieunternehmen in besonderer Weise, sich die enormen Skalen- und Netzwerkeffekte des Internets und der globalen Märkte zunutze zu machen. Dies erlaubt ihnen, Einfluss auf die Struktur der Märkte selbst zu nehmen und auch die hier wirkenden Netzwerklogiken zu ihren Gunsten zu verändern. Insbesondere die GAFAM-Unternehmen gelten mittlerweile im Westen als technologisch wie wirtschaftlich uneinholbar. Die einzige echte Konkurrenz im globalen Maßstab sind derzeit Baidu, Alibaba und Tencent. Die Auseinandersetzungen ab 2018 um die Beteiligung der Firma Huawei beim Aufbau von 5G-Netzen zeigten öffentlich, für wie bedeutsam sowohl die US-amerikanische als auch die chinesische Regierung die technologiepolitische Führerschaft in diesem Feld halten (Voelsen
2019b).
Die wirtschaftliche Konzentration hat dabei auch Rückwirkungen auf die Strukturen des globalen Internets. Die großen Techkonzerne bemühen sich kontinuierlich darum, ihre zentrale Stellung im Netzwerk abzusichern. Zugespitzt zeigt sich dies darin, dass Firmen wie Alphabet, Amazon, Facebook und Microsoft aus den USA sowie Huawei aus China in erheblichem Maße in die Entwicklung von Standards (ten Oever
2021, S. 346) und den Aufbau eigener physischer Infrastrukturen investieren – von Rechenzentren (Lehr et al.
2019) bis hin zu Unterseekabeln (Mauldin
2017). Insbesondere bei den physischen Infrastrukturen ist eine verstärkte Aktivität auch von Firmen aus Asien und den BRICS-Staaten zu beobachten, wodurch sich hier eine weitere Pluralisierung der Machtverhältnisse im globalen Maßstab feststellen lässt (Winseck
2017, S. 262). Das Äquivalent auf Anwendungsebene sind Bemühungen, innerhalb des Internets Subsysteme in Form von Plattformen zu schaffen, die unhintergehbar, in sich geschlossen und damit vor Konkurrenz geschützt sind – von Betriebssystemen über soziale Netzwerke bis hin zu Handelsplätzen und App-Stores.
Die „Plattformisierung“ hat nicht nur Auswirkungen auf die Netzwerkkonfiguration der Digitalwirtschaft, sondern beeinflusst auch das Kommunikations- und Nutzungsverhalten sowie das Informationsangebot im Internet. Zwar haben die interaktiven Internetanwendungen des Web 2.0 der Hoffnung auf einen egalitären Zugang zur Öffentlichkeit neuen Aufschwung verliehen. Zugleich zeigt sich in den letzten Jahren aber immer stärker, dass es auch in diesen digitalen Öffentlichkeiten zu einer neuerlichen Machtkonzentration kommt. Denn auch die Bereitstellung der meisten medialen Angebote erfolgt über zentrale Plattformen wie Google, Facebook, Twitter etc. (Couldry und Turow
2014, S. 1716). Dies führt zu einer Konzentration der Kontrolle über die digitale Öffentlichkeit in der Hand weniger Konzerne, deren nahezu hegemoniale Position es ihnen erlaubt, Nutzerdaten umfassend zu sammeln und auszuwerten. Schon dies verleiht ihnen entscheidenden Einfluss auf die Strukturierung politischer Öffentlichkeiten (Habermas
2021; Staab und Thiel
2021). Neben großen US-Unternehmen wie Facebook und Alphabet haben in anderen Teilen der Welt chinesische Plattformen wie WeChat oder das ursprünglich in Russland entstandene und nun von Dubai aus betriebene Telegram eine zentrale Stellung eingenommen. Sie agieren als Intermediäre, die als Gatekeeper durch ihre Algorithmen und Terms of Services bestimmen, welche Inhalte für welche Nutzer auffindbar, sichtbar und wahrnehmbar sind. Die Regeln, wie und unter welchen Bedingungen Nutzer sich über diese zentralen Plattformen austauschen können, werden also durch die Betreiber selbst gesetzt. Wünsche der Nutzer oder Vorgaben bestimmter Staaten werden meist nur infolge großen öffentlichen Drucks berücksichtigt (Katzenbach
2021).
Auch in westlich-liberalen Ländern wird der Journalismus davon massiv gefährdet, denn die Regeln der Intermediäre definieren die Priorisierung und Sichtbarkeit medialer Inhalte. Werbetreibende müssen hier nicht länger darauf hoffen, dass ihre Zielgruppen die Werbung während des Nachrichtenkonsums wahrnehmen, sondern können sie unabhängig davon zu jeder Zeit an jedem Ort gezielt anvisieren (Foster und McChesney
2014, S. 20). Zudem wird oft kritisiert, dass die Konzentration des Informations- und Kommunikationsflusses auf marktdominierenden Plattformen zunehmend zu einer Polarisierung der digitalen Öffentlichkeit führt. Der Grund dafür wird in den ihnen zugrundeliegenden Geschäftsmodellen gesehen (Christl und Spiekermann
2016), die der Logik der Aufmerksamkeitsökonomie folgen: Inhalte, die impulsive Reaktionen provozieren, werden gegenüber solchen privilegiert, die intentionale, reflektierte Reaktionen hervorrufen (Williams
2018, S. 17 ff.). Spätestens seit den Polarisierungen im Vorfeld des Brexit-Referendums 2016 sowie der Wahlen der letzten Jahre in den USA, Indien und Brasilien ist ein gewisser Druck auf politische Entscheidungsträger entstanden, digitale Öffentlichkeiten – und damit vor allem die Plattformen, die diese ermöglichen – verstärkt zu regulieren. Während viele Länder dabei auf eine freiwillige Selbstregulierung der Plattformanbieter setzen, lässt sich gerade auch in demokratischen Ländern die Tendenz beobachten, dass Regierungen durch Gesetze stärker in das Kommunikationsverhalten der Internetnutzer in „ihrem“ Teilnetz eingreifen und damit auch ihre eigene Machtposition innerhalb dieser Netze ausbauen bzw. ausnutzen. Das deutsche Netzwerkdurchsetzungsgesetz ist dabei nur eines von vielen prominenten Beispielen.
Zusammenfassend lassen sich aus Sicht der Netzwerktheorie für die Phase ab 2010 zwei Tendenzen festhalten: Eine Pluralisierung des globalen Internets ermöglichte das Entstehen mehrerer Netzwerkteile, die jeweils von einzelnen Staaten oder Unternehmen dominiert werden. Gleichzeitig erlaubt gerade diese dezentrale Entwicklung auf globaler Ebene die stärkere Zentralisierung von Macht auf nationaler und regionaler Ebene. Diese Entwicklungen – Pluralisierung und Dezentralisierung des Netzwerkes auf der einen Seite und Zentralisierung auf der anderen – fanden dabei unter verschiedenen politischen Vorzeichen statt, die oftmals auf den „neuen Systemkonflikt“ zwischen den USA und China zugespitzt werden. Dass eine Vielzahl weiterer Länder, von liberalen Demokratien wie Frankreich und Deutschland bis hin zu autoritären Staaten wie Russland, Iran oder Kambodscha, nach mehr Souveränität im Digitalen streben und durch Regulierung zu einer immer stärkeren Diversität des Regelwerks für das globale Internet beitragen, wird bei der Fokussierung auf diesen Konflikt nicht selten ausgeblendet. Auch diese Länder versuchen, die Netzwerklogik ihrer Teilnetze zu ihren Gunsten und nach ihren politischen Zielen und Traditionen zu verändern und tragen damit bewusst oder unbewusst zur Rekonfiguration des globalen Internets bei. Denn während ihre Bemühungen die Entstehung neuer zentraler Kontrollpunkte innerhalb dieser Teilnetze zur Folge haben, führt die Diversifizierung der Macht auf globaler Ebene zu einer dezentraleren Netzstruktur des Internets als Ganzes.