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2008 | Book

Das politische System der Europäischen Union

Author: Wolfgang Wessels

Publisher: VS Verlag für Sozialwissenschaften

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Frontmatter

Zu diesem Buch: Orientierungs- und Lesehilfen

Zu diesem Buch: Orientierungs- und Lesehilfen

Die Europäische Union (EU) wird für unser wirtschaftliches, soziales und politisches Leben immer wichtiger, aber leider auch immer unverständlicher. Der Auf- und Ausbau dieses politischen Systems kann damit sowohl Faszination als auch Frustration auslösen. Die Erfassung und Erklärung der institutionellen Evolution dieses Gebildes „sui generis“ bilden daher einen zentralen Schlüssel zum Verständnis Europas zu Beginn des 21. Jahrhunderts.

Die Europäische Union: Bedeutung und Ansatz

Frontmatter
1.. Eckpunkte im Überblick: Faszination und Frustration

Wer am Anfang des 21. Jahrhunderts die politischen Realitäten Europas verstehen will, muss einen beträchtlichen Teil seiner Aufmerksamkeit dem System der Europäischen Union (EU) und dessen institutioneller Architektur widmen. Dabei gilt es insbesondere, unterschiedliche Formen des „Regierens“ zu verstehen, d. h. wie die Institutionen der EU für die Mitgliedstaaten und Unionsbürger

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verbindliche Entscheidungen vorbereiten, verabschieden, durchführen und kontrollieren. Somit stellt sich auch die immer relevante Grundsatzfrage nach der Form politischer Herrschaft: Wer trifft in der EU nach welchen Verfahren verbindliche Beschlüsse? Wie werden diese Entscheidungen und ihre Wirkungen auf die Mitgliedstaaten und deren Bürger legitimiert?

2.. Zur politischen Bedeutung: Auf- und Ausbau eines politischen Systems

Trotz vieler politischer und wissenschaflicher Kontroversen um die Europäische Union und deren institutionelle Architektur ist eine Erkenntnis Allgemeingut: Dieses seltsam anmutende Gebilde ist für Regierungen wie für Bürger der Union von wachsender Bedeutung.

3.. Zur wissenschaftlichen Relevanz: Zunahme an Pluralität

Insgesamt beobachten wir anhand der ausgewählten (Makro-)Indikatoren einen in vielerlei Hinsicht bemerkenswerten Auf- und Ausbau eines neuartigen politischen Systems, dessen Erscheinungsformen vielfältiger werden. Der Gegenstand der Analyse bleibt so nicht konstant, sondern verändert sich gleichzeitig in mehrere Richtungen. Unsere Kenntnisse müssen deshalb regelmäßig überprüft werden, ob sie angesichts der häufigen Veränderungen noch der wirklichen Lage entsprechen.

4.. Zum Ansatz und Vorgehen: Die Institutionenanalyse als zentraler Fokus

Die Möglichkeiten, das EU-System zu erfassen, sind — wie der kurze Blick auf wissenschaftliche Beiträge zeigte — zahlreich. Der hier gewählte Zugang, Entwicklungen der institutionellen Architektur mit Hilfe von Kategorien der Systemtheorie

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und neo-institutionalistischer Ansätze

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zu beschreiben, ist nicht neu. Für eine theoretisch basierte und auch politisch anschlussfähige Analyse erweisen sich diese Angebote jedoch immer wieder als hilfreich. Jenseits von manchmal im politischen und wissenschaftlichen Diskurs doktrinär erstarrten Grundsatzdebatten über die Rolle einzelner Organe können damit reale Entwicklungen des EU-Systems insgesamt erfasst werden. Ausgangspunkt des Lehrbuches ist damit die Grundannahme, dass Institutionen nicht nur generell von Bedeutung sind, (im einschlägigen Sprachgebrauch: „Institutions matter“), sondern in der EU noch mehr als in anderen politischen Systemen.

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5.. Zur Wiederholung und Vertiefung
6.. Literaturhinweise

Entstehung und Entwicklung der institutionellen Architektur: historische Wegmarken

Frontmatter
1.. Eckpunkte im Überblick: historische Entscheidungen und Entwicklungstrends in der Diskussion

Das EU-System zu Beginn des dritten Jahrtausends ist nicht die einfache und vollständige Umsetzung eines sorgfältig vorbereiteten, allseits akzeptierten Bauplans einer institutionellen oder gar konstitutionellen Gesamtarchitektur. Vielmehr wurde die institutionelle Entwicklung durch mehrere historische Weichenstellungen mit erheblich divergierenden Vorstellungen über einen möglichen Endzustand (im politischen Sprachgebrauch: Finalität bzw. „finalité politique“) geprägt. Der schrittweise, aber bewusst nicht zielgerichtete Auf- und Ausbau nach der „Monnet Methode“ — benannt nach dem Gründungsvater und europäischen „Erzheiligen“

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Jean Monnet — gilt sogar als wesentliches Charakteristikum der europäischen Konstruktion.

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Auch bei einem möglichen Inkrafttreten des Reformvertrags kann dieser Suchprozess noch nicht als abgeschlossen gelten.

2.. Historische Argumentationsmuster und Modelle

Visionen, Konzepte und Strategien für eine Einigung Europas reichen weit in die Geschichte des Kontinents bis zu antiken Europabildern zurück.

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Dokumente zum „gewollten” bzw. „gedachten Europa”

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zeigen beträchtliche Variationen an politischen Leitbildern und dazu entwickelten institutionellen Leitideen. Insbesondere aufgrund von verheerenden Kriegen, Hegemonieansprüchen einzelner Dynastien oder Staaten sowie äußeren Bedrohungen wurden immer wieder Visionen für ein geeintes Europa präsentiert, das nach innen Frieden garantieren und nach außen kollektiven Schutz gewähren sollte.

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Zu Grundmotiven und Interessen wurden und werden in vielfältigen Argumentationssträngen und mit unterschiedlichen Prioritäten?? gezählt:

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Frieden in Europa;

Sicherheit gegen Bedrohungen von „außen” aus dem internationalen System;

Selbstbehauptung im internationalen System;

Abkehr von totalitären Herrschaftssystemen;

Freiheit;

kulturelle Selbstverständigung und Identitätssuche;

wirtschaftlicher Wohlstand;

und weltpolitischer Einfluss als globale Macht.

3.. Die vierziger Jahre: Vorläufer und Vorschläge

Die als „Selbstzerstörung Europas“

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wahrgenommene Katastrophe des ersten und zweiten Weltkriegs führte zu einer breiten und intensiven Debatte über die Neuordnung des Kontinents und das zukünftige Miteinander der europäischen Staaten.

4.. Die fünfziger Jahre: Wege und Irrwege der Gründergeneration

Die Historischen Wegmarken der fünfziger Jahre sind in einem welt- und europapolitischen Kontext zu sehen, der durch einen Niedergang der weltpolitischen Rolle der europäischen Mächte Frankreich und Großbritannien gekennzeichnet war. Dies manifestierte sich deutlich durch den Rückzug der beiden ehemaligen Großmächte in der Suezkrise 1956. Der Ost-West-Konflikt

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bildete weiterhin das zentrale Strukturmerkmal des internationalen Systems. Deutsch-französische Konfliktherde — insbesondere die Zukunft des Saarlands — konnten dagegen in den fünfziger Jahren einvernehmlich geregelt werden.

5.. Die sechziger Jahre: Anläufe ze alternativen Entwürfen

Die sechziger Jahre waren durch die Parallelitäten mehrerer Entwicklungen und intensiver Kontroversen bei der Gestaltung der EU-Architektur geprägt. Durch den Bau der Berliner Mauer wurde die Teilung Europas zementiert. Mit der Wahl De Gaulles zum französischen Staatspräsidenten betrat ein Akteur die europäische Bühne, der offen nationale Machtpolitik in den Vordergrund seiner europapolitischen Strategie stellte.

6.. Die siebziger Jahre: Konzeptionelle Weichenstellungen und begrenzte Schritte zur Systemgestaltung

Für die weitere Entwicklung der integrationspolitischen Konstruktion waren die politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen des Jahres 1968 von nachhaltiger Bedeutung. Der Einmarsch von Truppen des Warschauer Pakts in Prag und die Verschärfung des Kriegs in Vietnam verringerten Hoffnungen auf eine systemübergreifende Annäherung zwischen den Blöcken und eine von De Gaulle propagierte Rolle Europas als dritte Macht unabhängig von den beiden Supermächten USA und UdSSR. Die Studentendemonstrationen und Streiks von 1968 schwächten insbesondere die wirtschaftliche, damit aber auch die politische Stellung Frankreichs in Europa und die Autorität De Gaulles.

7.. Die achtziger Jahre: Erste umfassende Vertragsänderungen

Prägend für die integrationspolitische Phase zu Beginn der achtziger Jahre war erneut eine „Dialektik von Krise und Reform“.

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Wie häufiger bei den Vertiefungs- und Erweiterungsvorhaben begann auch diese Periode mit dem allgemeinen Gefühl einer krisengestimmten „Eurosklerose“

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: die Mitgliedstaaten fanden weder zum Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan (1979) noch zur Erklärung des Kriegsrechts in Polen (1980) eine gemeinsame tragfähige Position. In Bezug auf die Verschlechterung des Ost-West-Verhältnisses fanden die Regierungen keine gemeinsame Strategie. Die Anträge auf Mitgliedschaft der südeuropäischen Staaten stellten die „Altmitglieder“ vor ein Dilemma, das sich dann verschärft bei den Anträgen der mitteleuropäischen Staaten in den neunziger Jahren wiederholen sollte: zwischen der Erweiterung zur Unterstützung und Stabilisierung junger Demokratien und ihrer wirtschaftlichen und politischen Transformationsprozesse einerseits und einem möglichen Ausbau des bestehenden Systems in einer Gruppe möglichst homogener Staaten andererseits wurden tiefe Spannungen gesehen.

8.. Die neunziger Jahre: fundamentale Weichenstellungen nach der Wende

Die historische Wende 1989 brachte das Ende der Bipolarität im internationalen System und damit auch der gesamteuropäischen Teilung. Sie wirkte sich zusammen mit der deutschen Vereinigung nachhaltig auf die Entwicklung der Integrationskonstruktion und deren institutionelle Architektur aus. Die Möglichkeiten zur Gestaltung des Vertragswerks veräderten sich grundlegend: Die Zäsur in den internationalen und europäischen Rahmenbedingungen provozierte und produzierte neue und überraschende Optionen und Strategien für den Ausbau des bisherigen ausschließlich westeuropäischen Systems und für den Beitritt weiterer europäischer Staaten.

9.. Nach 2000: Schritte zur Vertiefung und Erweiterung

Die Rahmenbedingungen der ersten Jahre des 3. Jahrtausends waren durch wachsende wirtschaftliche Schwierigkeiten der europäischen Wohlfahrtstaaten infolge des Globalisierungsdrucks geprägt. Das vom Europäischen Rat 2000 in Lissabon verabschiedete Programm „Gemeinsame Maßnahmen für Wachstum und Beschäftigung“ war ein Signal der EU, auch diese Kategorie von Herausforderungen verstärkt anzugehen.

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Besondere Aufmerksamkeit widmete die EU auch den Folgen der Terroranschläge in New York und Washington vom September 2001 und den darauf folgenden Reaktionen der USA. Nachhaltige Rückwirkungen auf die EU hatten dabei unterschiedliche Reaktionen europäischer Staaten auf die amerikanische Irak-Politik.

10.. Wegmarken im Rückblick: Interpretationen

Im Rückblick auf die vergangenen sechzig Jahre ist eine Abfolge von Weichenstellungen zur Vertiefung und Erweiterung zu beobachten. Vertragsänderungen haben ein sektorübergreifendes und differenziert gestaltetes Regelwerk über fünf Jahrzehnte auf- und ausgebaut. Die nun behandelten Politikbereiche decken weite Bereiche der nationalstaatlichen Aufgabenkataloge ab. Die Mitgliedstaaten haben Institutionen und Verfahren immer wieder überprüft und angesichts von Erfahrungen mit einer größer werdenden Union im Vertrag ergänzt und revidiert. Der Prozess des quasi-konstitutionellen Ausbaus der institutionellen Architektur kann 2007 nicht als abgeschlossen gelten (siehe auch Kapitel V). Ein Endzustand — eine „Finalität“ — ist so auch nach einem halben Jahrhundert weder im Hinblick auf die geographischen Grenzen noch bei der quasi-konstitutionellen Systemgestaltung erreicht bzw. vereinbart.

11.. Zur Wiederholung und Vertiefung
12.. Literaturhinweise

Institutionen in Nahsicht

Frontmatter
1.. Das Europäische Parlament

Bei der Erfassung und Erklärung der institutionellen Architektur des EU-Systems nimmt das Europäische Parlament eine besondere Rolle ein. Zunächst mehr als demokratisches Feigenblatt bzw. „Alibi“

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an die institutionelle Architektur der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) angefügt,

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hat das Europäische Parlament in den letzten 30 Jahren durch seine mittlerweile direkte Wahl durch den Unionsbürger erheblich an vertraglichen Beteiligungsrechten gewonnen. Mit wachsender Intensität nutzen die Abgeordneten ihre Rechte und ihre Macht als „Veto-Spieler“

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gegenüber anderen Organen. Ausgehend von einer Liste an parlamentarischen Rechten und Aufgaben

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können wir zunehmend beobachten, wie das Europäische Parlament in einem institutionellen Dreieck

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bei Legislativ- und Haushaltsverfahren der EG sowie bei zentralen Wahlakten zu einem „starken“ Mit- und gegebenenfalls auch Gegenspieler des Rats und der Kommission geworden ist.

2.. Der Europäische Rat

Keine andere Institution hat die Entwicklung der europäischen Integration seit den siebziger Jahren so nachhaltig geprägt wie der Europäische Rat.

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Dieses rechtlich

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und politikwissenschaftlich schwer fassbare „oberste“ Gremium der EU wird — im vertragsrechtlichen Sinne — nicht als ein Organ der EG (siehe Art. 5 EUV und Art. 7 EGV) verstanden, sondern in einem eigenen Artikel (Art. 4 EUV) eingeführt. Nach dieser Formulierung „(gibt) der Europäische Rat der Union die für ihre Entwicklungen erforderlichen Impulse und legt die allgemeinen politischen Zielvorstellungen für diese Entwicklung fest“. Dieser Wortlaut lässt jedoch den Stellenwert dieser Institution für die Politik- wie für die Systemgestaltung nicht erkennen; zugeschrieben werden dem Treffen der Staats- und Regierungschefs jedenfalls eine Reihe von spezifischen Charakterisierungen als „gemeinsames Entscheidungszentrum“

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, als „konstitutioneller Architekt“

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sowie als „System kollektiver Führung“

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, als „hohe Vormundschaft“ („haute tutelle“)

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und als „Gipfel der institutionellen Architektur“

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.

3.. Der Rat der Europäischen Union

Der Rat, der in der Literatur und im Text des Verfassungsvertrags (Art. I-19 (1) VVE) auch häufig „Ministerrat“ genannt wird, bildet einen spezifischen Eckstein in der institutionellen Architektur des EU-Systems. Im Hinblick auf Zuständigkeiten, Zusammensetzung und Beschlussfassungsregeln weist dieses Organ Charakteristika auf, die weder einen einfachen Vergleich mit dem Bundesrat nach deutschen Erfahrungen noch mit einem bei internationalen Organisationen üblichen Ministerkomitee — so dem Nato-Rat oder dem UN-Sicherheitsrat — zulassen.

4.. Die Europäische Kommission

Zu den auffälligen Erscheinungen der institutionellen Architektur der EU zählt die Europäische Kommission. Sie wird als eine der „merkwürdigsten Verwaltungen“

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oder auch als die „originellste“ Gründung

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in der institutionellen Architektur des EU-Systems bezeichnet.

5. Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH)

Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften — oft auch als Europäischer Gerichtshof bezeichnet, kurz: EuGH — spielt eine tragende Rolle in der institutionellen Architektur der EG. Er entscheidet letztinstanzlich über Rechtsfragen und sichert damit den Charakter der EG als „Rechtsgemeinschaft“

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. Allgemein sind der Gerichtshof sowie das Gericht erster Instanz mit der „Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung“ des EG-Vertrags betraut (Art. 220 EGV). Damit sind Kompetenzen der Gerichtsbarkeit im Wesentlichen auf die erste Säule der Union beschränkt (Art. 46 EUV). Seit den Verträgen von Amsterdam und Nizza wurden dem EuGH auch begrenzte Zuständigkeiten im Bereich der Polizeilichen und Justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen (PJZS, 3. Säule) zugesprochen. Der Kompetenzbereich des Gerichtshofs umfasst nicht die Politikbereiche der GASP (2. Säule) oder das Handeln des Europäischen Rats.

6. Mitspieler und beratende Ausschüsse in der institutionellen Architektur

Zur Analyse der institutionellen Architektur der EU gehören, wie zum Studium anderer politischer Systeme,

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Aktivitäten von Akteuren, die nicht unmittelbar innerhalb der Institutionen wirken, aber als Mitspieler in den realen Entscheidungsprozessen der Politik- und Systemgestaltung von nachhaltiger Bedeutung sind oder zumindest sein können. In dieses Untersuchungsfeld zur politischen Infrastruktur gehören auch die vertraglich verankerten „beratenden Ausschüsse“ (Art. 7(2) EGV), d. h. der „Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss“ (EWSA) (Art. 257–262 EGV) und der „Ausschuss der Regionen“ (AdR) (Art. 263–265 EGV), auch wenn sie die relevanten Beziehungen zwischen ihren Mitgliedsorganisationen und den Organen nur begrenzt bündeln. In vielen Bereichen der Politikgestaltung sind zudem Vertreter der Zivilgesellschaft in beratenden Gremien der Kommission aktiv (siehe Tabelle III.6.1).

7.. Der Europäische Rechnungshof (EuRH) und das Amt für Betrugsbekämpfung (OLAF)

Der Europäische Rechnungshof (EuRH), gegründet 1977, und das Amt für Betrugsbekämpfung („Office européen de lutte anti-fraude“ (OLAF)), gegründet 1999, bilden Innovationen in der institutionellen Architektur der EU. Sie haben notwendige Aufgaben in der Kontrollphase des EU-Politikzyklus übernommen. Angesichts eines jährlichen EG-Haushalts in Höhe von über 106 Mrd. Euro

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(2005) mit einem breit gefächerten Ausgabenkatalog ist eine unabhängige

Abbildung III.7.1

Europäischer Rechnungshof — Institutioneller Steckbrief

Instanz erforderlich, um die „Rechtmäßigkeit“ und „Ordnungsmäßigkeit“ der Einnahmen und Ausgaben sowie die „Wirtschaftlichkeit der Haushaltsführung“ zu überprüfen (siehe Dokument III.7.1). Der Rechnungshof ist somit ein wichtiges Organ, das zur Transparenz und parlamentarischen Verantwortlichkeit des Haushaltsverfahrens beiträgt.

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Die Arbeit des EuRH wird ergänzt durch das Amt für Betrugsbekämpfung. Die Gründung von OLAF ist das Resultat mehrerer Skandale innerhalb der EU-Organe, aber auch unsachgemäßer Verwendung von EG-Mitteln durch Mitgliedstaaten.

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Verkürzt werden diese Institutionen als Reaktion des „rechtsstaatlichen Europas“ gegen das „kriminelle Europa“ verstanden.

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8.. Die Europäische Zentralbank (EZB)

Die Gründung der Europäischen Zentralbank (EZB) 1998 markiert eine gravierende Entwicklung im Aufbau der institutionellen Architektur des EU-Systems. Die EZB als Auftragnehmer des „Europäischen Systems der Zentralbanken“ (ESZB) (Art. 110 EGV) übernimmt zentrale Aufgaben für die Geld- und Währungspolitik der Eurozone; die dreizehn EU-Mitgliedstaaten (Stand 2007) der „Eurogruppe“

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haben einen zentralen Teil ihrer staatlichen Souveränität auf Gremien dieser Institution übertragen.

Verfahren in der institutionellen Architektur — Formen der Politik- und Systemgestaltung

Frontmatter
1.. Eckpunkte im Überblick: Variationen und Komplexität

Im Mittelpunkt jeder Untersuchung des EU-Systems stehen die geschriebenen und gelebten Verfahren, die zwischen den Organen, Gremien und Ausschüssen in der institutionellen Architektur stattfinden.

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Zu betonen ist, dass für das Erfassen und Erklären von Verfahrensprofilen sowohl Interpretationen des Vertragstextes als auch Beobachtungen in der täglichen Anwendung notwendig sind. Eine wesentliche Lehre für die Nahsicht von Verfahren besteht somit darin, die relevanten Vertragsartikel konkret zu identifizieren und die „gelebte Praxis“ realitätsnah heranzuziehen. Zum Einstieg und gleichzeitig als Warnung vor einfachen Formeln ist unmittelbar anzumerken, dass Regelwerk und reale Nutzungsmuster durch einen hohen Grad an Vielfalt und Komplexität geprägt sind.

2.. Gesetzgebung und Rechtsetzung

Einen Schwerpunkt in der politischen und wissenschaftlichen Aufmerksamkeit zum EU-System bilden die Entscheidungsverfahren der Europäischen Gemeinschaft (EG), die für die Mitgliedstaaten und die Unionsbürger verbindliches Recht setzen. Der EG-Vertrag als „Primärrecht“ bietet im Hinblick auf die Reichweite und Unmittelbarkeit gestaffelte Möglichkeiten für die Setzung von „sekundärem Recht“ (Art. 249 EGV); die vertraglichen Instrumente sehen danach folgenden Katalog vor:

Die „Richtlinie“ ist für jeden Mitgliedstaat hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich, überlässt jedoch den nationalen Organen die Wahl der Form und der Mittel zur Umsetzung.

Die „Verordnung“ hat allgemeine Geltung. Sie ist in all ihren Teilen verbindlich und gilt in jedem Mitgliedstaat unmittelbar. Die „Entscheidung“ ist in allen Teilen für diejenigen verbindlich, an die sie gerichtet ist.

„Empfehlungen“ und „Stellungnahmen“ sind nicht verbindlich.

Diese Formen der Rechtsetzung wurden seit dem Inkrafttreten der Einheitlichen Europäischen Akte (1987) um weitere Rechtsakte erweitert, die in Form von (Programm-)Beschlüssen gefasst werden (z. B. Bildungsprogramm SOKRATES).

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3.. Haushalt

Für die Politikgestaltung in der EU hat der Haushalt der EG

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seit den sechziger Jahren auf einer Vielzahl von Sektoren staatlichen Handelns nachhaltig an Bedeutung gewonnen. Die Bestimmungen des Vertragstextes bildeten und bilden gleichzeitig einen zentralen Baustein für das EU-System insgesamt. Mit der zunehmenden Relevanz wächst gleichzeitig das politische Gewicht der entsprechenden vertraglichen und außervertraglichen Regelwerke. Festzustellen ist zunächst eine erhebliche prozedurale Komplexität, die sich insbesondere aus einem Spannungsfeld zwischen stärker supranational ausgerichteten und eher intergouvernmental geprägten Leitideen für die institutionelle Architektur der EU-Finanzverfassung ergibt.

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4.. Wirtschaftspolitische Koordinierung

Als einen Schwerpunkt der Politikgestaltung im EU-System haben die Regierungen der Mitgliedstaaten in den letzten Jahrzehnten hoch differenzierte Regelwerke zur Zusammenarbeit in der Wirtschafts-, Fiskal- und Beschäftigungspolitik sowie in anderen Sektorpolitiken entwickelt. Insbesondere der Europäische Rat hat seit seiner Gründung 1974 und speziell nach der Etablierung der Wirtschafts- und Währungsunion mit dem Maastrichter Vertrag immer wieder zusätzliche Verfahren zur Koordination national angesiedelter Instrumente in diesen zentralen Feldern nationaler Politik vereinbart, an denen Institutionen der EG in unterschiedlichen Formen beteiligt sind. Als Bezugspunkt und als Stichwort für viele Aktivitäten ist die „Lissabonner Strategie“ zu nennen, die der Europäische Rat im Jahre 2000 verabschiedet hat.

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Aber auch die Anwendung des Stabilitäts- und Wachstumspakts (SWP) zur Einhaltung fiskalpolitischer Disziplin der Euro-Mitgliedstaaten steht immer wieder im Lichte politischer und wissenschaftlicher Aufmerksamkeit.

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5. Auswärtiges Handeln: Außenbeziehungen und die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik

Zu wesentlichen Entwicklungen der EU gehören zunehmende Aktivitäten der EU als „globaler Akteur“.

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Das „Auswärtige Handeln der Union“

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— so die durchaus für das bestehende System zu nutzende Formulierung des Verfassungsvertrags — beruht auf einem umfassenden Katalog an primärrechtlichen Zielen, Instrumenten und Verfahren. Dieser Politikbereich steht hoch auf der Prioritätenliste der EU-Institutionen.

6. Innen- und Justizpolitik — der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts

Mit zentralen Bereichen der Innen- und Justizpolitik haben die Mitgliedstaaten weitere Felder traditionellen staatlichen Handelns als Aufgabengebiete der Europäischen Union definiert. Die EU soll Grundfunktionen des Staates unterstützen und damit den Unionsbürgern nicht nur ökonomisch nützen, sondern diese auch vor Risiken schützen. In der schwerfälligen Vertragssprache werden diese Aufgaben mit der Bezeichnung „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ (RFSR) (vgl. Dokument IV.6.1) zum Gegenstand der Politikgestaltung des EU-Systems. Der Vertrag siedelt die Bereiche dieses Raums teils in der ersten (EG-)Säule (Art. 61–69 EGV) und teils in der dritten Säule an, die nach dem Amsterdamer Vertrag als „Polizeiliche und Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen“ (PJZS) (Art. 29–42 EUV) ausgeschildert wird. Obwohl eng mit Schritten der wirtschaftlichen Integration verbunden, bildet der RFSR ein neues — wenn auch weniger klar ausgeprägtes — Integrationsziel der EU, das der Amsterdamer Vertrag neben das häufig dominierende Konzept des Binnenmarkts setzt.

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Dieses Regelwerk ist ausdrücklich auf den „Unionsbürger“ und nicht „Marktbürger“ ausgerichtet.

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7.. Vertragsänderungen

Entstehung und Entwicklung der Integrationskonstruktion sind wesentlich geprägt durch die Schaffung, Ergänzung und Revision der Gründungsverträge: Auf der Grundlage entsprechender primärrechtlicher Vorgaben haben die Mitgliedstaaten nicht zuletzt auch die Bestimmungen zur institutionellen Architektur festgelegt, ergänzt und reformiert.

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Die Verfahren zur Vertragsänderung (Art. 48 EUV) sind deshalb sowohl von grundsätzlicher als auch — wie die langjährige Debatte um den Verfassungs- bzw. Reformvertrag dokumentiert

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— von aktueller Bedeutung für die Gestaltung des EU-Systems. Wenn auch das Regelwerk für dieses Vorgehen seit der Gründung der Europäische Wirtschaftsgemeinschaft weitgehend gleich geblieben ist, so zeigt die Praxis doch erhebliche Variationen, die insbesondere bei der Vorbereitung der Regierungskonferenzen bis hin zum „Europäischen Konvent zur Zukunft Europas“ zu beobachten sind. Festzustellen sind aber auch einige Konstanten — so fällt insbesondere die durchgängig zentrale Rolle der Staats- und Regierungschefs bei der Vorbereitung und Verabschiedung der jeweiligen politischen Grundentscheidungen auf.

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8.. Beitrittsverfahren

Für den europäischen Konstruktionsprozess war und ist das Thema der Mitgliedschaft in der EG bzw. EU von zentraler Bedeutung. Nicht erst seit der ersten Verhandlungsrunde, die mit der Gipfelkonferenz von Den Haag 1969

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begann, ist die (Nach-)Frage nach Beitritten von hoher integrationspolitischer Bedeutung. Die bisherigen fünf Erweiterungsrunden haben nicht nur die Gestalt Europas insgesamt, sondern auch das politische System der Europäischen Union selbst und dessen institutionelle Architektur wesentlich verändert. Als zentraler Bestandteil der Gestaltung des EU-Systems bedarf deshalb das Vertragswerk, das den Beitritt weiterer europäischer Staaten regelt, und insbesondere dessen konkrete Nutzung, entsprechende Aufmerksamkeit.

9.. Flexibilisierung: das Regelwerk zur Verstärkten Zusammenarbeit

Überlegungen zu Formen der Flexibilisierung gehören immer wieder zu den wesentlichen (Mode-)Themen der europa- und integrationspolitischen Debatte. Mit wachsender Mitgliederzahl der EU warnen Politiker und Wissenschaftler regelmäßig vor Risiken einer Selbstblockade der Institutionen in den konsensorientierten Entscheidungsverfahren.

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Neben Bemühungen um Reformen der Institutionen wurden und werden immer wieder — nicht zuletzt von deutscher Seite — Vorschläge vorgelegt,

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die ein Vorangehen einiger integrationswilliger und -fähiger Mitgliedstaaten sowohl innerhalb als auch notfalls außerhalb des Vertragsrahmens ermöglichen sollen.

Zur Zukunft des EU-Systems

Frontmatter
1.. Eckpunkte im Überblick: Strategien und Szenarien

Die in diesem Buch vorgenommene Erfassung des politischen Systems der Europäischen Union anhand von

historischen Wegmarken und Weichenstellungen,

Nahsicht von Organen und

Profilen wesentlicher Verfahren

lässt einen hohen Grad an relevanten Veränderungen sowohl im Vertragstext als auch in der beobachteten Praxis erkennen. Innerhalb der institutionellen Architektur wird Herrschaft über den Unionsbürger in Formen ausgeübt, die sich je nach Politikbereich unterscheiden und gleichzeitig einem beträchtlichen Wandel unterworfen sind. Die weitere Gestaltung des EU-Systems stand und steht deshalb regelmäßig hoch auf der Tagesordnung politischer und wissenschaftlicher Debatten. Neben umstrittenen Schwerpunkten in zentralen Politikbereichen der Union werden insbesondere Vorhaben der Vertiefung und Erweiterung kontrovers diskutiert.

2.. Ein Schema zur Einordnung und Analyse

Angesichts einer Vielzahl von politischen und wissenschaftlichen Angeboten schlägt der Autor vor, die Vielfalt an Beiträgen anhand der konventionell genutzten Dimensionen „Vertiefung“ und „Erweiterung“ zu ordnen (siehe Abbildung V.2.1). Die Abfolge und die Wechselwirkungen dieser beiden Aspekte des Ausbaus des EU-Systems stehen — seit der Gründungsphase

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— regelmößig im Mittelpunkt europäischer Diskussionen um die Zukunft der Integrationskonstruktion.

3.. Ein Drei-Elemente-Ansatz

Eine Analyse und Diskussion des Katalogs an Strategien und Szenarien reduziert nicht den hohen Grad an Unsicherheit, Ungewissheit und Unübersichtlichkeit in der politischen Landschaft. Angesichts unterschiedlicher Erwartungen und offener Umfeldbedingungen kann aus dieser Übersicht keine eindeutige Prognose abgeleitet werden. Jedoch können aufgrund der vorgestellten Analysen mehrere Faktoren und Bedingungen skizziert werden, die weitere Entwicklungen des EU-Systems beeinflussen können.78

4.. Zur Wiederholung und Vertiefung
5.. Literaturhinweise
Backmatter
Metadata
Title
Das politische System der Europäischen Union
Author
Wolfgang Wessels
Copyright Year
2008
Publisher
VS Verlag für Sozialwissenschaften
Electronic ISBN
978-3-531-91007-9
Print ISBN
978-3-8100-4065-7
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-531-91007-9