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2014 | Book

Der gute Staat

Politische Ethik von Platon bis zur Gegenwart

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About this book

Die Würde des Menschen zu achten und seine Rechte zu schützen: Das ist der heute weltweit anerkannte Anspruch, vor dem staatliche Gewalt sich zu legitimieren hat. Ihm wohnt ein komplexer geschichtlicher und begrifflicher Hintergrund inne, den dieses Buch zu rekonstruieren und auf seine vernünftige Begründung hin zu durchdenken unternimmt. Dabei zeigt sich, dass der Bruch mit der antiken und mittelalterlichen Tradition, der das moderne Denken zur Idee der vorstaatlichen Rechte und des Republikanismus geführt hat, auf vielfache Weise auf Ideen fußt, die er dieser Tradition verdankt und die in ihm auf indirekte Weise präsent und wirksam sind, so insbesondere der Naturrechtsgedanke und der Topos des objektiv glücklichen, gelingenden menschlichen Lebens. Die Aufklärung dieses Beziehungsgefüges ist das Ziel, um das es diesem Buch geht.

Table of Contents

Frontmatter
1. Zur Stellung von Ethik und Politik innerhalb der Philosophie
Zusammenfassung
Ethik hat Moral zum Gegenstand. Das heißt sie setzt Moral so voraus, wie der Physiker Planeten und der Biologe Lebewesen voraussetzt. Ethik ist die systematische Reflexion der Moral mit dem Ziel, sie rational zu begründen und, wo nötig, zu kritisieren. Aber auch Politik im theoretischen Sinne ist nicht nur die Darlegung tatsächlicher politischer Strukturen. Sie ist im Zusammenhang der Philosophie eine normativ orientierte Disziplin. Sie ist allerdings nicht mehr, wie noch bei Aristoteles, ein im gleichen Sinne normativ orientiertes Gebiet wie die Ethik. Sie ist eine eigene Wissenschaft mit empirischen und historischen Methoden. Aber wir können ihr Einheitsprinzip immer noch, in gewissem Sinne aristotelisch, in dem Interesse des Politikers erblicken, das zu lernen, was zur Führung der Staatsgeschäfte notwendig ist. In einer demokratischen Konzeption von Politikwissenschaft ist dieses Interesse des Politikers zugleich als dasjenige all derer zu betrachten, die die Staatsgeschäfte gar nicht selbst führen, aber von ihnen betroffen sind, über sie mitzubestimmen haben und die Wahl haben, wem sie die politische Aufgabe übertragen wollen.
Walter Schweidler
2. Platon: Der Staat als Urbild der Seele
Zusammenfassung
Die Basis der Verknüpfung von Ethik und Politik im griechischen Denken, so wie PLATON es in seiner Politeia auf den Weg gebracht hat, bildet der Begriff der Gerechtigkeit. Die Politeia steht, indem sie nach der Gerechtigkeit fragt, noch im Kontext der frühen platonischen Dialoge, die der Diskussion und Definition einzelner persönlicher Tugenden gewidmet sind, sprengt aber nach dem ersten Buch Thrasymachos, das noch auf der Linie dieser früheren Dialoge liegt, in den folgenden neun Büchern den Rahmen all dessen, was Platon zuvor an Analysen gelingenden menschlichen Lebens gegeben hatte. Für die gesamte antike Staatstheorie richtungweisend ist, dass der Begriff der Gerechtigkeit als Bezeichnung einer persönlichen Tugend verstanden wird. Primär sind es nicht die Strukturen gesellschaftlicher Organisationen, sondern die Grundhaltung und Richtung des Lebens eines menschlichen Individuums ist dasjenige, was gerecht oder ungerecht genannt werden kann. Erst in sekundärer abgeleiteter Weise kann man Verhältnisse, die durch gerechte oder ungerechte Menschen geprägt werden, auf ihre Gerechtigkeit hin beurteilen.
Walter Schweidler
3. Aristoteles: Der Bürger als Seele des Staates
Zusammenfassung
ARISTOTELES hat gegenüber Platon eine Haltung eingenommen, die bis heute in der Philosophie gerne praktiziert wird: Er spitzt eine Reihe gedanklicher Motive seines Lehrers so zu, dass er in kritischer Absetzung gegen sie seine eigenen Ideen umso plausibler einzuführen vermag, so beispielsweise in seiner Kritik der Ideenlehre, die Platon in Spätdialogen wie dem Parmenides durchaus schon vorweggenommen hatte. Was die politische Philosophie angeht, muss man Aristoteles jedoch eine substanziell neue Wendung zugestehen, die auf eine grundlegende Problematik der platonischen Denkfigur des »Philosophenstaates« aufmerksam macht. Selbst wenn man diese – was Aristoteles freilich nicht tut – in ihrer metaphorischen Dimension belässt, bleibt doch die Schwierigkeit bestehen, dass die spezifisch politische Struktur des staatlichen Lebens, das Gefüge des Ausgleichs von Interessen und des Streits der Meinungen, mit dem Anspruch absoluten philosophischen Wissens schwer vereinbar ist.
Walter Schweidler
4. Konfuzius: Die Rolle der Menschlichkeit
Zusammenfassung
So deutlich die altchinesische politische Philosophie mit der altgriechischen das tiefe Bewusstsein einer Krise und des Verlusts traditioneller Autoritäten und Lebenssicherheiten teilt, so signifikant unterscheidet sie sich doch von dieser in ihrer geschichtlichen Genese. Das Denken Platons und Aristoteles’ entsprang einer geschichtlichen Situation, in der eine erlebte und als Grundlage des menschlichen Zusammenlebens erfahrene Epoche freien Bürgertums, die geschichtlich dem Untergang entgegen ging, in ihrer Substanz Inhalt einer Theorie und als solche gewissermaßen aufbewahrt wurde. Für die altchinesische Ethik hingegen steht von vornherein ein politisches Ziel im Mittelpunkt, von dem her sie sich legitimiert, nämlich das Ziel eines durch richtiges Denken und seine Umsetzung in Handeln zu erreichenden Friedens, einer zu sichernden und denkerisch erst zu findenden Ordnung.
Walter Schweidler
5. Augustinus: Der Staat als Heimstatt zweier Seelen
Zusammenfassung
Wir haben, wie Peter BROWN resümiert, nur »eine schwache Vorstellung vom Umfang und vom Abenteuer jener Veränderung, die unter der täuschend einfachen Überschrift vom Aufstieg des Christentums im spätrömischen Reich bekannt geworden ist« (202). Auch für die politische Theorie ist der Umschwung, dessen Angelpunkt die Bekehrung Kaiser Konstantins 312 darstellt und der sich vor allem in dem darauf folgenden Jahrhundert abgespielt hat, von einer Bedeutung, die zweifellos weltgeschichtliche Maße hat, aber dennoch nur schwer zu ermessen ist. Wie die im Ursprung griechische und später die modern-aufklärerische, so ist auch die christliche Wendung der politischen Geschichte durch die Philosophie, und zwar vor allem und exemplarisch durch die Philosophie des hl. Augustinus (354 – 430), zu einer Schicht unseres politischen Bewusstseins gewendet worden, die unweigerlich mit darüber entscheidet, wie wir die ethischen Begriffe, auf denen das Verhältnis zu unserem Leben beruht, verstehen.
Walter Schweidler
6. Hobbes: Der Bürger als Produkt des Staates
Zusammenfassung
Mit dem Schlagwort der »Entdeckung des Ich« (Richard Friedenthal) in Renaissance und Reformation ist ein mindestens ebenso komplexer Vorgang bezeichnet wie die christliche Wendung des Politikverständnisses im spätrömischen Reich. »Entdeckt« wurde natürlich keine Tatsache, sondern eine neue Möglichkeit der Betrachtung des Menschen und seines Verhältnisses zur Wirklichkeit. In erster Linie wurde ein neues Kriterium entdeckt, von dem her zu bestimmen ist, woran und wie Wahrheit zu erkennen ist. Und für dieses Kriterium gab es durchaus wieder ein außerhalb des »Ich« gelegenes Paradigma, nämlich die Evidenz mathematischer Einsicht. Die eigentliche Innovation, die zu einer Neubestimmung dessen zwang, als was wir uns selbst zu betrachten haben, lag in der Freilegung der ungeahnten Möglichkeiten der Beherrschung natürlicher Zusammenhänge durch die Anwendung mathematischer Strukturen auf sie.
Walter Schweidler
7. Das legitimatorische Vakuum des modernen Rechtsstaates und seine Kompensation: Locke und Rousseau
Zusammenfassung
Mit der Bekräftigung der ethischen Grundlage des positiven Gesetzes ist die größtmögliche Annäherung des hobbesschen Modells an die ethische Tradition erreicht – und mit ihr der Punkt, an dem es seinen entscheidenden Grundgedanken, nämlich den Kontraktualismus, ad absurdum zu führen droht. Die ganze Pointe des Vertragsgedankens im Gegensatz zur Begründung des Staates aus der Natur des Menschen besteht ja in der These, dass der Grund der Geltung unserer Gesetze und also ihr Rechtscharakter gerade erst durch die Staatsgründung entsteht.
Walter Schweidler
8. Kant: Menschsein als Bürgertum
Zusammenfassung
Wie für eine ganze Reihe zentraler Termini Kants, die von juristischem Ursprung sind, so gilt auch für seine Charakterisierung des Menschen als »Bürger zweier Welten«, dass es sich bei ihr nicht um eine bloße Metapher, sondern um einen Hinweis auf die strukturelle Eigenart der Vernunft handelt. Als Vernunftwesen gehören wir nach Kant einem »Reich der Geister« an, in dem es keine Untergebenen, sondern nur Oberhäupter gibt und das wesentlich durch ein von uns selbst gegebenes Gesetz konstituiert ist. Autonomie bedeutet präzise, dass wir diesem von uns selbst gegebenen Gesetz unterworfen sind, es also als Grund unseres Handelns zu den Naturgesetzen als den ohnehin gültigen Erklärungsfaktoren noch hinzutritt.
Walter Schweidler
9. Hegel: Bürgertum als Ziel der Geschichte
Zusammenfassung
Kants Geschichtsphilosophie schließt noch an die traditionelle Auffassung an, dass es etwas Natürliches an uns ist, das uns zwingt, über unsere und die Natur aller anderen Wesen hinauszugehen, und er nennt diese in unserer Natur angelegte Spannung die »ungesellige Geselligkeit« des Menschen. »Dank sei also der Natur für die Unvertragsamkeit, für die mißgünstig wetteifernde Eitelkeit, für die nicht zu befriedigende Begierde zum Haben, oder auch zum Herrschen! Ohne sie würden alle vortrefflichen Naturanlagen in der Menschheit ewig unentwickelt schlummern.« (Idee A 393 f.) Der Schritt aus der Natur in die Vernünftigkeit, durch den wir erst zu unserer wirklichen Willensbestimmung fähig geworden sind, muss sich in bestimmtem Sinne gegen unsere ursprünglichen Willensregungen vollzogen haben; vernünftiges Menschsein resultiert aus geschichtlichen Prozessen der Selbstüberwindung und Selbstüberschreitung, die den Individuen, welche sie getan haben, in ihrer ganzen Bedeutung gar nicht erwünscht und nicht durchschaubar sein konnten.
Walter Schweidler
10. Marxismus: Bürgertum als Klassenstandpunkt
Zusammenfassung
MARX lernte den Hegelianismus in Berlin bereits in der Form kennen, die durch die »Linkshegelianer« (u. a. Heine, Börne, Bruno Bauer) und die Religionskritik Feuerbachs entwickelt worden war. Feuerbach sah die Religion als einen Selbstverrat, durch den die Menschen das, was an humanen Fortschrittschancen in ihren Beziehungen angelegt ist, in eine unerreichbare jenseitige Welt projizieren, um sich mit einer Realität abzufinden, die hinter diesen eigentlichen Möglichkeiten zurückbleibt. Gegen Ideale wie den kantischen »homo noumenon« die wahren Möglichkeiten des Menschen, die sich in ihnen zugleich äußern und verkennen, zurückzugewinnen: das ist das über Hegel auf Rousseau zurückverweisende ideologiekritische Programm, mit dem der junge Marx an Feuerbach angeknüpft hat.
Walter Schweidler
11. Die gesellschaftliche Kompensation: Geschichte als Fortschritt
Zusammenfassung
Für das Scheitern des Marxismus als konkret-geschichtlichen Legitimations- und Repräsentationsentwurfs muss man neben der Naturalisierung des Geschichtsbegriffs noch eine zweite, die ökonomische Achillesferse des marxschen Denkens verantwortlich machen: Marx ging von einer objektiven Preistheorie, der Arbeitswertlehre, aus. Nach ihr hängt der Wert einer Ware »objektiv« vom in ihr verarbeiteten Material und der für ihre Herstellung aufgebrachten Arbeit ab, während die subjektive Preistheorie davon ausgeht, dass es so etwas wie einen »wirklichen« Wert der Ware einfach nicht gibt; Angebot und Nachfrage sind es, die den Preis bestimmen. Marx’ Begriff des Mehrwerts als desjenigen Teils des Wertes einer Ware, der dem sie produzierenden Arbeiter vorenthalten und vom Unternehmer zur Erhaltung des entfremdenden Produktionssystems verwendet wird, hat nur im Rahmen einer objektiven Preistheorie Sinn.
Walter Schweidler
12. Die ökonomische Kompensation: Geschichte als globale Modernisierung
Zusammenfassung
Der Vertragsgedanke sollte ursprünglich den Streit um Gerechtigkeit aus der philosophischen Grundlegung des Staates heraushalten. Weil, so Hobbes, »der Ursprung der Gerechtigkeit im Abschluß von Verträgen liegt«, kann es »solange keine Ungerechtigkeit geben […], solange die Menschen im natürlichen Kriegszustand leben.« Und »deshalb ist nichts ungerecht, wo es keinen Staat gibt.« (L XV, 110) Dass die Prinzipien des bürgerlichen Rechtsstaates nicht aus einer ihm vorgegebenen gerechten Ordnung ableitbar sind, ist die Grundauffassung, hinter die man nicht zurückgehen kann, wenn man auf dem Boden der modernen Staatsbegründung bleiben will. Zu den Kompensationsprodukten dieser Auffassung gehört aber auch die Politisierung der Ethik, zu deren Exponenten neben Habermas vor allem RAWLS zählt.
Walter Schweidler
13. Die gemeinschaftliche Kompensation: Geschichte als Lebenssinn
Zusammenfassung
Der Kommunitarismus hat eine wesentliche Einsicht in die Problematik der kompensatorischen Vermittlung von Ethik und Politik in Erinnerung gebracht, die uns letztlich bis zum platonischen Ausgangspunkt zurückführt, nämlich dass der vernünftig begründete Staat auf einem Repräsentationsanspruch beruht, der sich auf das überindividuelle Gute bezieht und dem die auf dem Ausgleich individueller Interessen beruhende Gesellschaft allein nicht gerecht werden kann. Es ist die Einsicht, die Hegel neuzeitlich, das heißt mit Perspektive auf die Geschichtlichkeit des Guten, in seinem Begriff des Patriotismus festzuhalten versucht hat: Der Mensch trägt die bürgerliche Gesellschaft mit, wenn er einsieht, dass er sich in (irgend) eine Gesellschaft begeben muss, aber er trägt seinen Staat nicht deshalb mit, weil er einsieht, dass er in einem Staat leben muss. Die bürgerliche Gesellschaft beruht auf einem Selbstverhältnis der ihr angehörenden Personen, welches diese wiederum mit- und untereinander so verbindet, dass jede von ihnen noch einmal Maß der Anforderungen ist, an denen die Gesellschaft gemessen werden kann und muss.
Walter Schweidler
14. Die Ordnung des Dissenses
Zusammenfassung
Wir haben im Durchgang durch die großen geschichtlichen Schwellen, aus denen sich die ethischen Substrukturen bürgerschaftlichen Bewusstseins im modernen Rechtsstaat verstehen lassen, dasjenige Grundverständnis von staatlichem Zusammenleben zum Leitfaden genommen, das Kant als das »republikanische« definiert. »Damit man die republikanische Verfassung nicht (wie gemeiniglich geschieht) mit der demokratischen verwechsle«, unterscheidet Kant in Zum ewigen Frieden strikt zwischen den »Regierungsarten« und dem, was er als die »Form der Regierung« bezeichnet. »Regierungsarten« sind Fürstengewalt, Adelsgewalt und Volksgewalt, also gerade das, was wir heute Regierungsformen nennen würden.
Walter Schweidler
Backmatter
Metadata
Title
Der gute Staat
Author
Walter Schweidler
Copyright Year
2014
Electronic ISBN
978-3-658-03127-5
Print ISBN
978-3-658-03126-8
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-03127-5

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