In den folgenden Unterkapiteln werden die für die EC zentralen Konzepte der Situation und der Koordination vorgestellt. Zentral für das Verständnis beider eng miteinander verwandten Konzepte ist die Dezentrierung des handelnden Subjekts in der EC. Der Ursprung von „Handlung“ wird folglich nicht mehr alleine in den Intentionen von Subjekten gesucht, „Handlung“ wird vielmehr als Ergebnis eines Prozesses der Auseinandersetzung mit einer materialen und sozialen Umwelt verstanden (Eymard-Duvernay et al. 2011). Laurent Thévenot schlägt aus diesem Grund den Begriff der Koordination vor, da damit der Prozess der Auseinandersetzung mit der materiellen und sozialen Umwelt betont wird (Thévenot 2011c). Die Dekonstruktion des handelnden Subjekts als Analyseeinheit führt zu einem methodologischen Fokus auf Situationen als grundlegender Analyseeinheit (Diaz-Bone 2018). Denn die Rückweisung von Subjekten als alleiniger Handlungsinstanz macht einen erweiterten Fokus der Analyse auf weitere Situationselemente (Objekte, Formen und Konventionen) notwendig.
3.1.1 Regime des Engagements
Ein für die EC zentrales Werk stellt „Über die Rechtfertigung“ von Luc Boltanski und Laurent Thévenot dar (2007). In diesem Werk stellen die beiden Autoren sechs sog. Rechtfertigungsordnungen vor, welche als kollektive Handlungsgrammatiken verstanden werden können (vgl. hierfür ausführlich Abschn.
3.1.1). Diese dienen als Basis für die (öffentliche) Handlungskoordination und Rechtfertigung. Bereits kurz nach dem Erscheinen von „Über die Rechtfertigung“,
7 arbeitete Thévenot an der Konzeptualisierung von Handlungslogiken, welche nicht auf die durch Boltanski und ihn identifizierten Rechtfertigungsordnungen Bezug nehmen und somit nicht einem Rechtfertigungsdruck ausgesetzt sind.
8 Theoriehistorisch stellt das Konzept der Regime des Engagements eine Fortführung von „Über die Rechtfertigung“ dar. Die Unterscheidung von verschiedenen Regimen des Engagements stellt jedoch einen zentralen Beitrag zur Handlungstheorie der EC dar und wird aus diesem Grund hier entgegen der Theoriehistorie eingeführt.
9 Thévenot unterscheidet in der Regimetheorie zwischen verschiedenen sog. „Regimen des Engagements“.
10 Thévenot führte neben dem Rechtfertigungsregime das Regime des planenden Handelns und das Regime des Vertrauten ein (2011c, d).
11 Nicolas Auray führte anschließend an Thévenot das Regime der Exploration ein (Auray 2011). Jede Person ist zu verschiedenen Zeitpunkten in den Regimen engagiert.
12 Handlungsregime sind durch eine eigene Realität gekennzeichnet. Diese spezifische Realität ist gekoppelt an ein spezifisches „Gut“, d. h. an ein spezifisches Versprechen, welches im jeweiligen Handlungsregime erreicht werden will (Thévenot 2011c, S. 232 f.).
13 Das jeweilige Gut ist für Thévenot das Prinzip, das in einer Situation verwirklicht werden soll. Zur Erreichung der spezifischen Güter der verschiedenen Regime sind unterschiedliche Arten des Engagements notwendig. Thévenot benutzt bewusst den Begriff des Engagements anstelle des Handelns. Denn das Engagement drückt das „In der Welt sein“ von Akteuren aus (Centemeri 2015, S. 305), das heißt die Auseinandersetzung mit der durch Objekte strukturierten Umwelt und die in den verschiedenen Regimen unterschiedliche Agency (Thévenot 2011d, S. 256).
14 Zentral ist für Thévenot in allen Regimen die Abstützung durch Objekte. Insbesondere im Regime des Vertrauten sieht er die Agency als sehr eng zwischen Objekten und Subjekten verflochten an (Thévenot 2011c, S. 238). Zudem ergibt sich durch die Konzeption von verschiedenen Regimen des Handelns ein diskontinuierlicher Unterschied zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen (Thévenot 2011a, S. 391).
Die Theorie der Handlungsregime ist für die vorliegende Arbeit aus drei Gründen ein wichtiges theoretisches Konzept. Zunächst sind die unterschiedlichen in den verschiedenen Survey-Welten existierenden Survey-Qualitäten eng mit dem Potenzial von Daten für die Handlung in unterschiedlichen Regimen des Engagements verknüpft. Die Theoretisierung von unterschiedlichen Survey-Qualitäten in dieser Arbeit hängt folglich eng mit dem Konzept der Handlungsregime zusammen. Zusätzlich basieren jedoch auch die Koordinationsprozesse in den verschiedenen Survey-Welten auf unterschiedlichen Regimen des Engagements. Wie zu zeigen sein wird, ist die Unterscheidung von unterschiedlichen Orientierungen der Handlung aber auch hilfreich beim Verständnis von Artikulationshürden bei der Beantwortung von Survey-Fragen.
Thévenot kritisiert auf der Basis der Regime des Engagements das klassische Informationsverständnis. Denn damit etwas als Information wahrgenommen werden kann, bedarf es zuerst entsprechender bereits bekannter Formen, auf welche sich eine Mitteilung beziehen kann, um folgend auch als Information wahrgenommen zu werden. Informationen sind so gemäß Thévenot breit verstehbare und legitime Formen des Wissens (Thévenot 1997). Um von einer breiten Masse verstanden zu werden, müssen persönliche Erlebnisse auf weitreichende Formen Bezug nehmen (Thévenot 2006a, S. 134).
15 Bei dieser Übersetzung gehen jedoch Eigenheiten der spezifischen persönlichen Erfahrung verloren, da diese quasi normiert werden müssen. Regime können auch im Konflikt zueinanderstehen. So zeichnet sich die staatsbürgerliche Rechtfertigungsordnung gerade durch einen Verzicht auf Partikularinteressen aus. Der Bezug auf das Regime des Vertrauten in dieser Rechtfertigungsordnung würde abgestraft (Thévenot 2006a, S. 221).
16
Thévenot sieht in der Kritik des klassischen, kognitionswissenschaftlichen Informationsbegriffs den Ausgangspunkt der EC (Thévenot 2011d, S. 260). Denn aus Sicht der EC benötigt jede Information auch eine In-Formation, das heißt jede Information muss ins Verhältnis einer Formationslogik gestellt werden, um als solche erkannt werden zu können.
Das implizite Versprechen des
Rechtfertigungsregimes ist es, eine allgemein gültige Ordnung zu erreichen. Die Kommunikation ist dadurch eine weit verstandene politische, welche sich auf Objekte von großer Bedeutungsreichweite stützten kann. Koordination in diesem Regime hat dadurch eine sehr große Reichweite (Thévenot 2006a, S. 129). Dieses Regime wird folglich immer dann angestrengt, wenn es um (öffentliche) Fragen der Wertigkeit und Legitimation geht (Thévenot 2011d). Konflikte und Dispute sind in diesem Regime folglich hoch „politisch“, d. h. stark durch Fragen einer kollektiven Moral gekennzeichnet. Es ist dieses Handlungsregime, welches in der für die EC zentralen Monografie „Über die Rechtfertigung“ ausführlich thematisiert wird (Boltanski und Thévenot 2007). Die verschiedenen Rechtfertigungsordnungen dieses Handlungsregimes werden in Abschn.
3.1.1 ausführlicher dargestellt.
17
Das implizite Versprechen des Regimes des
planenden Handelns liegt im Erreichen eines Ziels. Das Regime des planenden Handelns ist gemäß Thévenot so alltäglich, dass es als analytisches Konzept für die Soziologie droht, vergessen zu werden (Thévenot 2011c, S. 240). Es ist charakterisiert durch ein funktionales Verhältnis zur Umgebung, welche durch autonome Akteure auf Ressourcen für die Erfüllung eines Ziels (eines Interesses) befragt wird. Die Kommunikation orientiert sich hier funktional an der Erreichung dieses vorgenommenen Plans und basiert auf verbaler Sprache (Thévenot 2006a, S. 119). Deswegen findet sich dieses Regime auch im Herzen einer industriellen Organisation (Thévenot 2006a, S. 114).
18 Die Einführung des Regimes des planenden Handelns kann als Korrektur einer „übermoralisierten“ Handlungskonzeption im Nachgang von „Über die Rechtfertigung“ gelesen werden. Denn dem Handlungsmodell der Rechtfertigungstheorie folgend, ist Handlung generell auf weitreichend legitimierte Rechtfertigungsordnungen aufgebaut. Mit Bezug auf das Regime des planenden Handelns lässt sich dagegen auf die Besonderheit des rechtfertigenden Handelns im alltäglichen Handlungsstrom verweisen.
Das implizite Versprechen des
Regimes des Vertrauten liegt in der Annehmlichkeit, bzw. im Komfort des Bekannten und Vertrauten. Das Regime des Vertrauten zeichnet sich durch ein Suchen nach Annehmlichkeit aus, bzw. durch den Eindruck der höchst subjektiven eigenen Erfahrung. Die Handlung in diesem Regime ist stark durch Objekte mitstrukturiert durch die enge, vertraute Beziehung zwischen Akteur und Objekten.
19 Agency kann deshalb kaum mehr klar einzelnen Akteuren oder Objekten zugeschrieben werden (Thévenot 2006a, S. 120).
20 Marc Breviglieri spricht deshalb von der „Handhabung“ als der Agency-Form dieses Regimes (Breviglieri 2004).
21 Die Kommunikation im Regime des Vertrauten ist größtenteils nonverbal
22 und geht weit über das diskursive Sprechen hinaus. Denn zusätzlich zum Sprechen kommt hier der Körper als Kommunikationsmedium zum Einsatz (Thévenot 2011c, S. 240). Thévenot weist darauf hin, dass das gesprochene Wort die Intimität des Vertrauten bereits beträchtlich abwandelt (Thévenot 2011d, S. 267). Denn das hier gewonnene Wissen wird durch einen Trial-and-Error-Prozess gewonnen (Thévenot 2011d, S. 266). Der Grund für die Schwierigkeit der verbalen Kommunikation liegt in den von Person zu Person unterschiedlichen Sozialisierungserfahrungen (Thévenot 2007, S. 416).
23
Die spezifische Kommunikationsart des
Regimes des Vertrauten lässt sich auch durch den Bezug auf das ethnomethodologische Konzept des „Groundings“ aufschlüsseln. Das Konzept des Groundings verweist auf den Umstand, dass Sinn immer situativ hergestellt, das heißt ein gemeinsamer Grund erarbeitet werden muss (Clark und Brennan 1991). Dies kann abhängig von der Situation in unterschiedlichem Masse notwendig sein. Bezieht man das Konzept des Groundings auf die unterschiedlichen Kommunikationsarten in Regimen, so werden die unterschiedlichen Voraussetzungen der Kommunikation deutlich. Denn es ist gerade das intime Verständnis der eigenen Persönlichkeit durch jemand Vertrauten, welche das Versprechen der Annehmlichkeit im Regime des Vertrauten auch in Anwesenheit weiterer Personen ermöglicht. Indexikalität als kommunikative Herausforderung (Garfinkel 1984, S. 4 ff.) wird in diesem Regime folglich durch die gegenseitige Vertrautheit von Erfahrungen und das gegenseitige Verstehen
24 und sich davon speisenden Begriffen zumindest teilweise umgangen. Es ist dieser Umstand, der die fast sprachlose Kommunikation in diesem Regime ermöglicht.
Mit Karl Mannheim lässt sich argumentieren, dass in diesem Regime eine konjunktive Erfahrung
25 stattfindet (Bohnsack 2014, S. 61 ff.; Mannheim 1980, S. 211 ff.). Mannheim bezeichnet das Nachvollziehen von konjunktiver Erfahrung als „Verstehen“, während er das Nachvollziehen von generellen Begriffen als „Interpretieren“ bezeichnet (Mannheim 1980, S. 272 f.). Das Regime des Vertrauten ist dementsprechend der Ort der Einzelmeinungen, der Subjektivitäten, also das Regime mit dem geringsten Anteil an gemeinsamen kognitiven Rahmen (Basto und Centemeri 2014, S. 171). Dies ist durch einen für jede Person individuellen und lokalen Habitualisierungsweg begründet (Thévenot 2015, S. 209).
Das
Regime der Exploration wurde von Nicolas Auray eingeführt (2007). Das hier investierte Gut stellt die Spannung für Neues dar. Das Informationsformat dieses Regimes ist die Überraschung, d. h. Handlung wird hier danach bewertet, inwiefern sie Überraschungen ermöglicht. Es ist dadurch nicht überraschend, dass Auray dieses Regime anhand moderner Kommunikations- und Informationstechniken wie Google, Wikipedia, usw. entworfen hat (Auray 2011). Denn diese ermöglichen es mit wenig Aufwand, neue Welten zu entdecken. Die Voraussetzung hierfür ist es jedoch, die Gedanken schweifen zu lassen und nicht auf geplante Handlungen fokussiert zu sein (Auray 2011, S. 331). Kompetenzen in diesem Regime stellen Kreativität und das Verfügen über einen Entdeckergeist dar (Thévenot 2014a, S. 134). Auch wissenschaftliches Arbeiten weist Bezüge zu diesem Regime auf. Denn die Erkenntnis von Neuem lässt sich nicht im Vornhinein planen.
26
Die verschiedenen Regime des Engagements können anhand mehrerer Unterscheidungsdimensionen miteinander verglichen werden. In Tab.
3.1 wird ein Überblick über die Unterschiede zwischen den verschiedenen Regimes des Engagements dargestellt.
Tab. 3.1Die verschiedenen Regime des Engagements
Investiertes Gut
| Beitrag zum Gemeinwohl | Erreichter eigener Wille | Persönliche Annehmlichkeit, Komfort | Spannung für Neues |
Informationsformat
| Rechtfertigungsbasiert | Funktional | Teilnahmsvoll | Überraschung |
Form des Tests/Realitätszugang
| Feststellen der Größe im Hinblick auf Rechtfertigungsordnungen | Feststellen des normalen Funktionierens von Handlungen/Prozessen | Lokal und persönlich | (-) |
Zeitlichkeit
| Unterschiedlich, abhängig von der jeweiligen Rechtfertigungsordnung | Zukunftsprojektion | Vergangenheitsorientierung | (-) |
Gegenseitiges Engagement
| Kollektiv für das gemeinsame Gut | Gemeinsames Projekt, durch Absprachen, Verträge | Einfühlsam (liebend, freundlich, intim), in Freundschaft | Spielend |
Anderen helfen sich zu engagieren
| Auf öffentlichen Test Vorbereiten | Den Willen von jemandem stärken, das Vertrauen in jemandes Plan stärken | Vertrauen geben durch persönliche Aufmerksamkeit | (-) |
Kompetenz
| Rhetorik; Arrangement-Fähigkeiten | „Handeln“; Umsetzen; Macherqualitäten besitzen | Empathie; persönliche Kenntnis | Kreativität; Entdeckergeist |
Thévenot konzipiert ein Stufenmodell der Regime: Für ein souveränes Handeln in „höheren“ Regimen ist eine stabile Erfahrung der „niedrigeren“ Regime notwendig (Thévenot 2011c, S. 237). Zudem sind Situationen nicht zwingend nur durch den Modus eines Regimes charakterisiert. Nebst dem, dass Akteure stets den Koordinationsmodus festlegen müssen, können Situationen auch auf unterschiedlichen Regimen basieren im Sinne einer Bricolage
27 (Thévenot 2013, S. 163). Thévenot nennt als Beispiel das Gericht, welches nebst der rechtfertigungsbasierten Rechtsprechung auch auf den Modus des autonomen Handelnden als Orientierungsfigur Bezug nimmt (Thévenot 2006a, S. 180).
Die verschiedenen Handlungsregime unterscheiden sich im Hinblick auf ihre Bewertung von Mitmenschen und Objekten. Sie unterscheiden sich jedoch auch im Hinblick auf ihre Lernprozesse und Sozialisierungen (Thévenot 2011c, S. 253). Die Frage nach der Sozialisation eines Menschen stellt sich damit nicht in einer Gesamtschau für eine Person, sondern muss Thévenot folgend für jedes Regime einzeln gestellt werden (Thévenot 2006a, S. 237). Damit folgt, dass Lernprozesse in einem Regime nicht automatisch Anpassungsprozesse in einem anderen Regime mit sich ziehen. Akteure sind dadurch potentiell intern stark differenziert.
Die Ausführungen Thévenots zur Regimetheorie zielen maßgeblich auf die Schwierigkeiten der Übersetzung zwischen Regimen. Analytisches Potential hat die Theorie der Handlungsregime entsprechend maßgeblich im Darstellen der Transzendierung von Logiken über Regime hinweg mit entsprechenden Brüchen in der Transformation (Thévenot 2006a, S. 129). Als Beispiel verweist er auf die Herausforderung der Sozialen Arbeit, Rechtfertigungskonventionen nicht nur in effektive Handlungsprogramme zu übersetzen, sondern diese auch in der vertrauten Umgebung der Klienten wirksam werden zu lassen, ohne dabei den ursprünglichen politischen Auftrag zu vergessen (Thévenot 2011c, S. 245). Zwei Hürden sind also zu überwinden: Einerseits müssen Regeln gefunden werden (bzw. Formen bei Thévenot), um eine Handlungsorientierung für Sozialarbeitende zu schaffen, das heißt greifbar zu machen. Andererseits müssen diese Formen auch an die Klienten herangetragen werden, wobei auf das Gut des Vertrauten der Person eingegangen werden muss. Hier ist es insbesondere das soziale Fingerspitzengefühl der Sozialarbeitenden, das dazu beiträgt, dass die Soziale Arbeit nicht als „kalte Technokratie“ wahrgenommen wird.
28 Aus der Perspektive der Regime des Engagements wird so insbesondere der Prozess der Beantwortung von Survey-Fragen problematisiert. Denn hierbei werden nicht lediglich Informationen „abgerufen“, sondern der Prozess der Artikulation von Informationen stellt vielmehr eine komplexe Koordination zwischen verschiedenen Regimen des Engagements dar. So müssen insbesondere die Eigenheiten und Subjektivitäten des Regimes des Vertrauten in das Regime der Rechtfertigung übersetzt werden. Dies wird erforderlich durch die Notwendigkeit des Bezugs der individuellen Verhältnisse auf die allgemeinen Kategorien der Befragung. Es muss zudem eine Koordination mit dem Regime des Plans stattfinden im Hinblick auf das praktische Ausfüllen des Fragebogens. Zudem wird die Koordination mit dem Regime der Exploration zunehmend zu einem Thema in der Survey-Forschung. Durch die sinkende Teilnahmebereitschaft an Surveys werden neue Wege gesucht, Personen zur Teilnahme an Befragungen zu bewegen. Eine Strategie stellt hierbei die sog. „Gamification“ dar, d. h. der spielerische Gestaltung der Beantwortung von Fragebögen (Unger 2015).
3.1.2 Konventionen
Wie in der Einleitung dieses Kapitels deutlich gemacht wurde, ist die EC durch eine gewisse interne Heterogenität gekennzeichnet. Sie ist deswegen eher eine Wissenschaftsbewegung, denn ein Forschungsparadigma.
29 Das zentrale integrierende Konzept ist dabei das der Konvention (Diaz-Bone 2018, S. 3 f.). Die Konzeptualisierung des Konventionenkonzepts weist dabei einige Unterschiede zur alltagssprachlichen Verwendung des Konventionenbegriffs auf. So sind Konventionen aus der Perspektive der EC nicht einfach Bräuche oder Regeln für das Handeln. Sie stellen vielmehr kollektiv geteilte Handlungslogiken dar, welche für die Überwindung von Unsicherheiten referenziert werden. Zudem unterscheidet sich das Konventionenkonzept der EC deutlich vom alltagssprachlichen Gebrauch von Konventionen im Hinblick auf die Reichweite von Konventionen. Konventionen werden aus der Perspektive der EC nicht lediglich für lokale Unsicherheiten zu Rate gezogen, sondern werden als Grundlage der Koordination und der Organisation von weitreichenden gesellschaftlichen Prozessen aufgefasst. Der Begriff der Konvention wird jedoch in der EC unterschiedlich gehandhabt und es wurden unterschiedliche Differenzierungen vorgeschlagen (Diaz-Bone 2016; Favereau 2008). Der gemeinsame Startpunkt stellt jedoch das Problem der kollektiven Koordination in durch Unsicherheit charakterisierten Situationen dar (Dodier 1994, S. 490). Konventionen existieren zudem aus der Perspektive der EC nur in deren pragmatischer Verwendung (Gomez 2006, S. 223). Im Folgenden werden unterschiedliche Konventionenkonzepte vorgestellt und es soll insbesondere das die Forschung anleitende Konventionenkonzept dargestellt werden. Dieses setzt sich maßgeblich aus Elementen des Konzepts der Rechtfertigungsordnung (Boltanski und Thévenot 2007), der Produktionswelten (Storper und Salais 1997), bzw. entsprechender Konventionen und den Regimen des Engagements (Thévenot 2011d) zusammen.
Die Konventionenkonzepte der EC lassen sich aufgrund von drei Dimensionen unterscheiden: Hinsichtlich ihres Miteinbezugs einer moralischen Dimension, hinsichtlich ihrer Reichweite und hinsichtlich ihrer methodologischen Verwendung in EC-basierten Arbeiten. Im deutschsprachigen Raum wird das Konventionenkonzept immer noch stark mit dem der Rechtfertigungsordnung gleichgesetzt. Wie zu zeigen sein wird, ist dieses Konventionenkonzept stark moralisiert, das zentrale Momentum dabei ist die Gleichsetzung von „Justice“ (Gerechtigkeit) und „Justesse“ (Richtigkeit), das heißt das Parallellaufen von Gerechtigkeit und Richtigkeit. Die Zuweisung von Größe hat bei Boltanski und Thévenot nicht nur eine moralische Dimension, da die Moral immer auch der Situation angepasst sein muss. Sie sprechen deswegen von einer Gleichzeitigkeit von „justice“ und „justesse“ (Boltanski und Thévenot 2007, S. 184). Denn was in einer Situation moralisch erscheinen mag, kann in einer anderen Situation wiederum als unmoralisch einzustufen und unpassend sein. Im Gegensatz dazu stehen stärker aus der ökonomischen Ausrichtung der EC stammende Konventionenkonzepte, welche stärker die pragmatische Unsicherheitsbewältigung durch Konventionen betonen. Die verschiedenen Konventionenkonzepte unterscheiden sich jedoch auch hinsichtlich ihrer Reichweite. Hier lässt sich wiederum zunächst auf das Konzept der Rechtfertigungsordnung verweisen, welches Konventionen mit einer sehr hohen Reichweite beschreibt, welche minimal eine Gültigkeit für viele westliche Länder beanspruchen können (Lamont und Thévenot 2000) und in der Folge werden Konventionen stärker als strukturalistische Tiefenstruktur betrachtet (Diaz-Bone 2015a; Gomez und Jones 2000).
Dagegen existieren jedoch auch Positionen, welche einen stärker pragmatischen Einfluss haben. Dodier fasst Konventionen stärker als Handlungspotential für die situative Problembewältigung auf (Dodier 1994, 2011). Mit der Unterscheidung von Konventionen im Hinblick auf deren Reichweite hängt auch die methodologisch unterschiedliche Verwendung der verschiedenen Konventionenkonzepte zusammen. Das Konzept der Rechtfertigungsordnung wird in Studien auf Basis der EC stark als inhaltliche Heuristik an den Forschungsgegenstand herangetragen, während Konzepte mit weniger Reichweite stärker als methodologische Konzepte für ein Verständnis und eine analytische Aufarbeitung des Untersuchungsgegenstandes dienen.
Ein zentrales Konzept der EC ist das der Rechtfertigungsordnungen. Rechtfertigungsordnungen sind kollektive Handlungslogiken, welche sich historisch herausgebildet haben und eine unterschiedlich große Reichweite besitzen. In ihrem Werk „Über die Rechtfertigung“ beschreiben Boltanski und Thévenot insgesamt sechs Rechtfertigungsordnungen als fundamentale Sozio-Logiken in Frankreich. Prominent wurde eine siebte Rechtfertigungsordnung, die projektbasierte, von Luc Boltanski und Ève Chiapello in „Der neue Geist des Kapitalismus“ eingeführt (Boltanski und Chiapello 2006). Die grüne Konvention ist die achte, oft referenzierte Rechtfertigungsordnung. Diese wurde von Claudette Lafaye und Laurent Thévenot eingeführt (Lafaye und Thévenot 1993).
30 Rechtfertigungsordnungen sind kollektive Handlungslogiken, welche jedoch nicht intentional oder deliberativ durch eine Gemeinschaft begründet und definiert wurden (Bessy 2011, S. 179). Sie sind vielmehr das Produkt eines sozio-evolutionären Prozesses, in welchem Rechtfertigungsordnungen als kollektiv geteilte und stabilisierte Koordinationslogiken entstanden sind und ihre Wirkmächtigkeit entwickelt haben. Rechtfertigungsordnungen sind jedoch nicht an Personen, sondern an Situationen gebunden. Damit sind auch die Eigenschaften von Personen nur bis auf weiteres festgelegt, da diese Eigenschaften stets abhängig von der Perspektive der verschiedenen Rechtfertigungsordnungen sind. Rechtfertigungsordnungen sind nicht als rein diskursive Logiken gedacht. Damit ist gemeint, dass eine Rechtfertigungsordnung mit einem ganzen Ensemble an sogenannten Wesen verknüpft ist. Für Boltanski und Thévenot sind dabei Personen und Objekte gleichermaßen Wesen (Boltanski und Thévenot 2007, S. 65 f.). Diese Verbindung ist historisch gewachsen und dadurch nicht ohne weiteres zu trennen (Dodier 2011, S. 84). Die tiefe soziokulturelle Verankerung von Rechtfertigungsordnungen im Handeln ergibt sich also nicht durch die Eigenschaft von Rechtfertigungsordnungen als reinem Diskursphänomen, sondern durch die enge Vernetzung zwischen Objekten, Handlungslogiken und Wesen. Rechtfertigungsordnungen werden folglich erst durch die Vernetzung mit Objekten zu pragmatischen Handlungswelten (Nachi 2006, S. 128). Beides, Objekte wie Wesen, funktionieren als Dispositive, welche Rechtfertigungsordnungen in Situationen auf Dauer stellen und stabilisieren. Denn der Bezug auf ein Dispositiv führt zum Bezug auf die gesamte das Dispositiv fundierende Konvention (Dodier 2011, S. 84).
Boltanski und Thévenot identifizieren insgesamt sechs Axiome, welchen gesellschaftliche Logiken entsprechen müssen, um als Rechtfertigungsordnung beschrieben werden zu können:
1.
Das Prinzip des gemeinsamen Menschseins setzt eine grundsätzliche Äquivalenz zwischen den verschiedenen Personen eines Gemeinwesens voraus. Dieses erste Axiom schließt dadurch politische Modelle aus, welche die Sklaverei oder die Unterscheidung zwischen Über- und Untermenschen befürworten.
2.
Das Prinzip der Verschiedenartigkeit besagt, dass sich ein Gemeinwesen durch minimal zwei unterschiedliche Merkmalszustände charakterisieren lässt. Scheinbar im Widerspruch zum ersten Prinzip stehend, wird hier folglich davon ausgegangen, dass trotz der prinzipiellen Äquivalenz zwischen den verschiedenen Mitgliedern des Gemeinwesens unterschiedliche Merkmalszustände erreicht werden können.
3.
Das Prinzip der gemeinsamen Würde impliziert, dass prinzipiell sämtliche Personen Zugang zu den verschiedenen Merkmalszuständen (d. h. zu „Größe“) haben müssen. Damit sind Ordnungen wie etwa das Kastensystem ausgeschlossen, da hier dauerhaft und systematisch unterschiedliche Zugangschancen zu höheren Positionen für untere Kasten bestehen.
4.
Das Prinzip der Rangordnung besagt, dass sich zwischen den unterschiedlichen Merkmalszuständen eine hierarchische Rangordnung erstellen lässt. Dabei gerät dieses Axiom in einen Konflikt mit dem ersten Axiom des gemeinsamen Menschseins. Rangordnungen sind jedoch deswegen notwendig, da die höheren Merkmalszustände mit Vorteilen verknüpft sind und dadurch von einer Vielzahl von Personen angestrebt werden.
5.
Das Prinzip des Investitionsmodus besagt, dass für das Erreichen einer höheren Position Leistung investiert werden muss. Es ist dieses Prinzip, welches die Spannung zwischen den Axiomen des gemeinsamen Menschseins und den unterschiedlichen Merkmalszuständen in Einklang bringt. Das Einnehmen höherer Merkmalszustände muss gemäß diesem Axiom folglich durch Leistung gerechtfertigt sein.
6.
Das Prinzip des Gemeinwohls bedeutet, dass größere Merkmalszustände mit der Zunahme eines Beitrags zum Gemeinwohl verknüpft sein müssen. Die Einnahme von höheren Positionen ist folglich an die Bedingung geknüpft, dass damit ebenfalls ein größerer Vorteil für das Gemeinwesen einhergeht.
Auf der Basis dieser durch Boltanski und Thévenot definierten Axiome wird die moralische Fundierung des Rechtfertigungskonzepts deutlich. Es baut darauf auf, dass „Größe“, d. h. ein höherer Merkmalszustand, auf Leistung beruht und einen positiven Effekt nicht nur für die „Großen“ selbst, sondern auch für das Gemeinwohl mit sich bringt. Zusätzlich zu den sechs beschriebenen Axiomen, entwickelten Boltanski und Thévenot eine Grammatik, mittels derer Rechtfertigungsordnungen systematisiert und miteinander verglichen werden können (Boltanski und Thévenot 2007, S. 196 ff.). Rechtfertigungsordnungen können anhand des übergeordneten Prinzips, das heißt dem grundlegenden Bewertungsprinzip, verglichen werden. Dies schließt eine Trennung in große (das heißt mit einer hohen Wertigkeit ausgestattet) und kleine Subjekte und Objekte ein. Damit einher geht auch der entsprechende Investitionsmodus, das heißt den Weg, den kleine Subjekte einschlagen müssen, um zu großen zu werden. Rechtfertigungsordnungen sind zudem durch typische Wesen charakterisiert. Wesen sind bei Boltanski und Thévenot Formen, welche Menschen annehmen können, wenn sie sich auf eine Rechtfertigungsordnung beziehen (Boltanski und Thévenot 2007, S. 65 f.).
31 Zu beachten ist dabei, dass sie sich auch auf eine Kollektivität von Personen beziehen können. Man könnte hier folglich von einer Akteursform sprechen, welche Menschen einnehmen müssen, um Wesen einer Rechtfertigungsordnung zu mobilisieren. Zudem werden Rechtfertigungsordnungen durch typische Objekte gestützt. Diese Stützung durch Objekte erfolgt, da Objekte viel stärker als Subjekte einzelnen Rechtfertigungsordnungen zugeteilt werden können (Thévenot 2002, S. 189). Zudem verfügt jede Rechtfertigungsordnung über ein eigenes Modell der Prüfung, das heißt über ein eigenes Vorgehen, Größe festzustellen (Boltanski und Thévenot 2007, S. 196 ff.).
32 Folgend werden die bereits vorgestellten acht Rechtfertigungsordnungen umfassender vorgestellt:
Im Hinblick auf die
marktweltliche Rechtfertigungsordnung ist zu bemerken, dass diese vom Begriff des Marktes selber getrennt werden muss.
33 Denn im alltagsweltlichen Begriff des Marktes vermischen sich in der Konzeption von Boltanski und Thévenot im Minimum die markweltliche und die industrielle Rechtfertigungsordnung (2007, S. 264).
34 Zentral bei der Trennung der marktweltlichen von der industriellen Rechtfertigungsordnung ist die zeitliche Dimension: Ist die industrielle Rechtfertigungsordnung auf die langfristige Produktion ausgelegt und orientiert sich demgemäß an einem weiten zeitlichen Horizont, funktioniert die marktweltliche Rechtfertigungsordnung auf der Basis der aktuellen Nachfrage nach Gütern, was die Volatilität von Marktpreisen erklärt. Das Prinzip der marktweltlichen Rechtfertigungsordnung sind aktuelle individuelle Wünsche. Personen sind folglich durch Besitzwünsche angetrieben, was Konkurrenz begründet. Große Personen sind hier Kaufleute und reiche Personen, einen hohen Wert besitzen Produkte, welche auf dem Markt hohe Preise erzielen. Objekte sind hier durch Individuen begehrenswerte Objekte, welche verkäuflich sind. Die Wertprüfung geschieht durch ein Geschäft. Hier wird der tatsächliche Preis festgelegt, welcher der Maßstab der Größe ist (Boltanski und Thévenot 2007, S. 264 ff.).
Die industrielle Rechtfertigungsordnung ist bevölkert von wissenschaftlichen und technischen Objekten, Experten und Standards. Wichtige Prinzipien sind hier Effizienz, Leistung und Produktivität. Bewertet wird auf der Basis von Funktionalität. Es ist diese Funktionalität, welche die Eigenschaften der Gegenwart in die Zukunft transportiert. Große Wesen sind professionell, sie fügen sich in ihre berufliche Funktion ein. Zentral ist in der industriellen Rechtfertigungsordnung die Plan- und Vorhersehbarkeit. Wichtige Objekte sind Instrumente (Maschinen und Werkzeuge) und die Standardisierung. Große Personen sind Experten und Spezialisten. Die Prüfung wird im Hinblick auf die Funktion durchgeführt: funktionieren die Instrumente, erfüllen Personen ihren Zweck (Boltanski und Thévenot 2007, S. 276 ff.)?
Die zentralen Wesen der staatsbürgerlichen Rechtfertigungsordnung sind hier nicht einzelne Personen, sondern Kollektivpersonen. Die Vereinigung von Personen fängt bei wenigen Personen an, die größte Kollektivperson ist die Menschheit insgesamt. Groß sind Personen, welche sich dem Gemeinwillen unterordnen. Es sind folglich beispielsweise Politiker oder Gewerkschaftler, denen in dieser Rechtfertigungsordnung Größe zukommt. Es gilt hier, die Vereinzelung von Menschen zu überwinden und ein Kollektiv zu schaffen. Repräsentanten haben daher die eigenen, partikularen Wünsche dem Willen des Kollektivs unterzuordnen, was den Investitionsmodus in dieser Rechtfertigungsordnung darstellt. Zentrale Elemente sind hier die Legalität und das Mandat. Wichtige Objekte sind das Recht, die Gesetzgebung und Verfahren. Die ideale Form der Organisation ist die Demokratie. Die Prüfung erfolgt hier, indem die Wirklichkeit des Kollektivs getestet wird, das heißt insbesondere in Momenten, in welchen Gerechtigkeit durch die Berufung auf das Gesetz gefordert wird, beispielsweise in der Form von Demonstrationen oder Motionen. (Boltanski und Thévenot 2007, S. 254 ff.).
In der häuslichen Rechtfertigungsordnung ist Größe dadurch definiert, dass das Netzwerk von persönlichen Abhängigkeiten und stets nur relational bestimmbar ist. Zentrale Konzepte sind hier die Abstammung, Tradition und die Hierarchie. Dem Vater als Patron kommt eine wichtige Stellung zu, die häusliche Rechtfertigungsordnung ist patriarchalisch geprägt. Die Investition geschieht durch die Annahme einer Pflicht. Groß sind aber insbesondere auch die Ahnen und Vorfahren, da sich diese in der Generationenhierarchie an höchster Stelle befinden. Durch das Zuschreiben von Größe kommt den Personen die Pflicht zu, respekt- und vertrauensvoll zu handeln sowie mit Taktgefühl aufzutreten. Das gemeinsame Essen ist ein wichtiger Ort, an dem sich die Familie trifft. Objekte sind Manieren, Anstand und der Rang von Personen. Da insbesondere der Rang den Personen nicht ohne Stützen abgelesen werden kann, sind die Kleidung sowie äußere ablesbare Identifikationen wichtig, um die Frage zu ersparen, „wer jemand ist“. Die Prüfung geschieht mittels Familienfeierlichkeiten wie Feiertagen, Geburt, Tod oder Heirat, an denen das Verhältnis der Personen zueinander aufs Neue geklärt und gefestigt wird. Eine wichtige Form der Evidenzherstellung sind in dieser Rechtfertigungsordnung Anekdoten (Boltanski und Thévenot 2007, S. 228 ff.).
In der meinungsweltlichen Rechtfertigungsordnung wird Größe erreicht durch die Meinung anderer Personen. Große Wesen sind Personen mit hoher Bekanntheit und solche, welche allgemein geschätzt werden. Die meinungsweltliche Rechtfertigungsordnung hat dabei ein kurzes Gedächtnis: Wer heute berühmt ist, ist dies morgen vielleicht nicht mehr. Personen treten in dieser Rechtfertigungsordnung als Publikum auf, welche sich eine Meinung über jemanden bilden. Sie werden angetrieben durch eine Eigenliebe, den Wunsch berühmt zu sein. In dieser Rechtfertigungsordnung macht man sich „einen Namen“. Objekte sind hier Marken, Nachrichten, Public Relations und Kampagnen. Die Investition erfolgt durch einen Verzicht auf das Private und das Geheimnis. Alles muss offengelegt werden. Die Kommunikation darf aber nicht zu komplex sein, da sie hier stets auf die breite Masse ausgelegt ist. In dieser Rechtfertigungsordnung wird „beeinflusst“, die Personen „überzeugen“ einander und man achtet auf sein „Image“. Die Prüfung von Größe findet hier durch Veranstaltungen und Pressekonferenzen statt, auf denen der Ruf von jemandem zum Vorschein kommt (Boltanski und Thévenot 2007, S. 245 ff.).
Die Rechtfertigungsordnung der Inspiration ist verhältnismäßig instabil, da sie sich kaum auf äußerliche Objekte stützen kann. Inspiration kann unmöglich gemessen werden und so vollzieht sich Inspiration im Innern, fern jeglicher Standardisierbarkeit: „Wahre Größe ist ein spontaner innerer Zustand der Gewissheit, der von außen über die Wesen kommt und deshalb nicht willentlich herbeiführbar ist“ (Boltanski und Thévenot 2007, S. 222). Große Wesen in dieser Rechtfertigungsordnung sind begeistert und fasziniert. Echte Inspiration kann aber auch furchterregend sein. Größe wird in dieser Rechtfertigungsordnung zudem oft nur negativ definiert, indem gängige Wege, etwas zu tun, kritisiert werden. Objekte sind hier das Unbewusste, Tagträume und allgemein Träumereien. Die Erfahrung der Inspiration betrifft dabei den Geist und Körper zugleich. Die Form der Inspiration geschieht durch den Ausbruch aus dem Gewohnten und dem Infragestellen von Etabliertem. Personen sind hier gekennzeichnet durch eine suchende Haltung. Die Prüfung findet statt durch Abenteuer, Suchen und geistige Reisen, denn dort zeigt sich, ob jemand inspiriert ist (Boltanski und Thévenot 2007, S. 222 ff.).
Die
netzwerkbasierte Rechtfertigungsordnung35 wurde von Luc Boltanski und Ève Chiapello in ihrem Werk „Der neue Geist des Kapitalismus“ eingeführt (Boltanski und Chiapello 2006). Grundlegend ist hier das Projekt. Diese werden ins Leben gerufen, indem man aktiv Netzwerke bildet. Zentral ist in dieser Rechtfertigungsordnung die netzbildende Tätigkeit des Vermittlers. Groß ist hier, wer aktiv Netzwerke zu Projekten verknüpft. In Projekte wird man jedoch nicht eingegliedert, sondern man wählt sie aus. Es ist in der Netzwerkwelt zentral, sich selber unabhängig von Projekten weiterzuentwickeln und so seine „employability“ aufrecht zu erhalten. Das Projekt ist die zentrale Organisationsform der netzwerkbasierten Rechtfertigungsordnung, da hier eine hohe Zahl an Kontakten geknüpft wird und Projekte als flexible Antwort auf Herausforderungen erstellt werden können. Für die Mitarbeit in Projekten ist es wichtig, sich den Gegebenheiten anpassen zu können und die Mitarbeitenden begeisterungsfähig in das Projekt einzubinden. Die netzwerkbasierte Rechtfertigungsordnung sollte jedoch nicht als Rechtfertigung für egoistisches Handeln verstanden werden. Personen sind in dieser Rechtfertigungsordnung eben gerade nicht nur groß, weil sie Projekte für sich nutzen können, sondern weil sie durch dieses Engagement weitere Leute einbinden und als Teamspieler auftreten, denen die restlichen Mitarbeitenden vertrauen können (Boltanski und Chiapello 2006, S. 152 ff.).
Die grüne Rechtfertigungsordnung wurde erst im Nachgang von „Über die Rechtfertigung“ beschrieben (Lafaye und Thévenot 1993). Obwohl grüne Argumentationsweisen zunehmend an Stellenwert gewinnen, taucht die grüne Rechtfertigungsordnung gemäß Thévenot et al. noch häufig in Kompromissformation mit anderen Rechtfertigungsordnungen auf (Lafaye und Thévenot 1993, S. 133). Das zentrale Prinzip ist hier, dass es zum Wohle aller Menschen ist, die Natur zu schützen (Lafaye et al. 2011, S. 157). Allerdings weisen Thévenot et al. auch darauf hin, dass weiterentwickelte Formen der grünen Rechtfertigungsordnung (die Tiefenökologie) das zentrale Axiom von Rechtfertigungsordnungen des Anthropozentrismus (Boltanski und Thévenot 2007, S. 108) hinter sich lassen und sich hin zu einem Ökozentrismus bewegen (Lafaye et al. 2011, S. 157, 163).
In Tab.
3.2 sind die acht beschriebenen Rechtfertigungsordnungen tabellarisch dargestellt.
36
Tab. 3.2Die zentralen Rechtfertigungsordnungen im Überblick
Wertigkeit
| Nachfrageorientierung, freier Tausch | Planung und Standardisier-ung | Vertrautheit, Tradition und Handarbeit | Gleichheit, Fairness, Partizipation | Bekanntheit, Ruhm, Ehre, Prominenz | Kreativität, Genie, Nonkonformität | Ökologische -Integrität | Projektaktivität |
Bewertungskriterium
| Preis | Effizienz | Anerkennung, Reputation | Kollektivität von Anliegen | Menge der Anerkennenden | Kreativität | Umwelt-verträglichkeit | Gelungener Abschluss des Projekts |
Prüfung
| Wettbewerbsfähigkeit | Stabilität und Kompetenz | Vertrauenswürdigkeit | Kollektivität des Anliegens | Anerkennung der Öffentlichkeit | Durchsetzung von Innovationen | Nachhaltigkeit | Gelingen des Projektes |
Informationsformat
| Geldeinheiten | Messbare wissenschaftliche Daten, Statistiken | Mündliche Überlieferung, Beispiele | Formal, offiziell, juristisch | Quoten und Reichweiten, Verkaufszahlen, Symbole, Logos | Neuheit, Emotionalität | Ökologische Diskurse/ Berücksichtigung ökologischer Aspekte | Gespräche (Treffen, Sitzungen) |
Qualifikation von Personen
| Bedürfnisse und Kaufkraft | Professionell-wissen-schaftliche Kompetenz | Autorität und Flexibilität | Vertretung kollektiver Anliegen | Öffentliche Bekanntheit | Erfindungsreichtum, Innovationskraft | Respektierung der Natur | Projektfähigkeit und Teamfähigkeit |
Beziehungslogik
| Tausch | Funktionalität | Vertrauen | Soziales Engagement | Reputation | Glauben an Kreativität | Verantwort-lichkeit für Natur | Projektorientierung |
Auch Michael Storper und Robert Salais beziehen sich in ihrem Werk „Worlds of production“ auf das Konzept der Konvention (vgl. hierzu ausführlich Abschn.
3.2). Diese Monografie stellt dabei ein weiteres Hauptwerk der EC dar (Diaz-Bone 2018, S. 6). Das Konventionenkonzept von „Worlds of production“ ist jedoch zu unterscheiden vom Konzept der Rechtfertigungsordnung von Boltanski und Thévenot. Denn im Gegensatz zu Boltanski und Thévenot ist es nicht das Ziel von Storper und Salais, gesamtgesellschaftliche Rechtfertigungsordnungen darzustellen, sondern vielmehr die den ökonomischen Tauschbeziehungen unterliegenden konventionellen Grundlagen.
37 Sie verweisen in ihrem Konventionenkonzept auf eine frühe, spieltheoretisch inspirierte Konventionendefinition von Lewis (Storper und Salais 1997, S. 16 f.):
Eine Verhaltensregularität R von Mitgliedern einer Gruppe G, die an einer wiederholt auftretenden Situation S beteiligt sind, ist genau dann eine Konvention, wenn bei jedem Auftreten von S unter Mitgliedern von G
(1) jeder R folgt;
(2) jeder von jedem andern erwartet, dass er R folgt;
(3) jeder es vorzieht, R zu folgen, sofern auch die andern es tun, weil S ein Koordinationsproblem ist und die allseitige Befolgung von R in S ein koordinatives Gleichgewicht ergibt (Lewis 1975, S. 43).
Entscheidend für die spezifische Verwendung dieser Konventionendefinition von Lewis ist die pragmatische Weiterführung durch Storper und Salais.
38 Sie stellen die durch eine Konvention bewältigte Unsicherheitsbewältigung in den Vordergrund (Diaz-Bone 2018, S. 214). Eine solcherart verstandene Konvention reduziert folglich Unsicherheit in ökonomischen Transaktionen, da sie einen Rahmen der erwartbaren Handlungen von Anderen schafft (Storper und Salais 1997, S. 20). Zentral für das Verständnis des Konventionenkonzepts ist bei Salais und Storper das Konzept der Produktionswelten. Hier muss bereits ein wenig vorgegriffen werden. Sowohl das Konzept der Rechtfertigungsordnung als auch dasjenige der Produktionswelten stellen Weltenkonzepte dar, wenn sie auch konzeptionell unterschiedlich ausgestaltet sind. Mit Weltenkonzept ist hier gemeint, dass sowohl Rechtfertigungsordnungen, wie auch Produktionswelten, ökonomische Transaktionen umfassen, das heißt mit Bezug auf Akteure, Formen und Objekte organisieren und dadurch ermöglichen.
39 Produktionswelten beziehen sich jedoch, wie bereits erwähnt, auf ökonomische Produktionsprozesse, während Rechtfertigungsordnungen als fundamentale gesellschaftliche Handlungslogiken verschiedenste, auch ökonomische Prozesse, anleiten können
40. Zudem weisen die beiden Konzepte unterschiedliche Konstruktionsprinzipien auf. Beziehen sich Storper und Salais in ihrer Konzeptualisierung von unterschiedlichen Produktionswelten auf verschiedene Distributionsweisen von ökonomischen Transaktionen (standardisiert vs. spezialisiert und gewidmet vs. generisch) (Storper und Salais 1997, S. 26 ff.), so beziehen Boltanski und Thévenot Rechtfertigungsordnungen auf die Ideengeschichte der politischen Philosophie (Boltanski und Thévenot 2007, S. 95 ff.). Die beiden Konzepte unterscheiden sich jedoch in einem Punkt deutlich. Das Konzept der Rechtfertigungsordnung sieht vor, dass in einer ökonomischen Transaktion im Hinblick auf eine Welt sämtliche Aspekte der Transaktion auf
eine die Welt anleitende Konvention bezogen werden kann. Das Konzept der Produktionswelten hingegen ist der konzeptuell integrierende Rahmen für eine Vielzahl an Konventionen. Von diesen verschiedenen Konventionen wird angenommen, dass sie miteinander zusammenhängen müssen, um einen einheitlichen Koordinationsrahmen ergeben zu können.
41 Dadurch findet methodologisch einerseits eine stärkere Öffnung des Konzepts der Konvention statt. Es wird zwar ein integrativer Rahmen angenommen, in diesem Fall ist das die Produktionswelt, jedoch muss dieser im Hinblick auf viele Aspekte in eine Praxis übersetzt werden und es müssen hierzu entsprechende Konventionen etabliert werden. Produktionswelten lassen dadurch methodologisch im Vornhinein ein größeres Maß an Inkohärenzen zu, welche selber zum Gegenstand einer Untersuchung gemacht werden können. Das Konventionenkonzept übergreift gemäß Storper und Salais drei
Dimensionen: Regeln spontanen individuellen Handelns, das Erstellen von Übereinkünften zwischen Personen und Institutionen in Situationen kollektiven Handelns. Diese verschiedenen Dimensionen haben raumzeitlich unterschiedliche Reichweiten und überlappen sich in komplexer Art und Weise (Storper und Salais 1997, S. 17).
Ein Problem, welches sich für auf der EC basierende Arbeiten ergibt, ist die fehlende Integration der verschiedenen Konventionenkonzepte. Dies wird zum Problem, wenn unterschiedliche EC-Studien, bzw. Theoretisierungen als Grundlage für die eigene Arbeit hinzugezogen werden. Klärungsbedürftig ist in einem solchen Fall, wie die verschiedenen Befunde zueinanderstehen. Diese Herausforderung stellte sich auch bei der vorliegenden Arbeit. Die grundlegende Forschungsfrage nach (unterschiedlichen) Koordinationslogiken in der Survey-Produktion war zunächst nicht fest an ein Konventionenkonzept angebunden. Einerseits wurde mit dem Konzept der Größe, bzw. Wertigkeit gearbeitet, andererseits mit demjenigen der Produktionswelten, da hier explizit transorganisationale Produktionsnetzwerke der zentrale Forschungsgegenstand sind. Das Verhältnis dieser beiden Hauptwerke kann hier zwar nicht in der notwendigen Tiefe geklärt werden, es soll jedoch mithilfe der Regimetheorie etwas Klärung zu deren Verhältnis geschaffen werden.
Die Regimetheorie von Thévenot bezieht sich direkt auf die Rechtfertigungstheorie, welche er gemeinsam mit Boltanski begründet hat. Das Rechtfertigungsregime zeichnet sich aus durch systematisierte Rechtfertigungsordnungen. Bezieht man nun die Idee der spieltheoretisch inspirierten Konventionenkonzeptualisierung (Lewis 1975; Storper und Salais 1997, S. 15 ff.) auf Regime des Engagements, so wird deutlich, dass damit ein anderes kognitives Format als bei den Rechtfertigungsordnungen abgedeckt wird. Denn die auf Lewis zurückgehende spieltheoretische Konventionenkonzeption geht gerade nicht von einer moralisch-weitreichenden Konventionenidee aus, sondern davon, dass Konventionen Antworten auf handlungspraktische Koordinationsprobleme sind (Lewis 1975, S. 6 ff.; Favereau 2008, S. 116 f.). Bezieht man diese Konventionenkonzeption auf die Regimetheorie von Thévenot, so lässt sich eine solche Konvention im Regime des planenden Handelns verorten. Es stellt sich damit jedoch die Frage, inwiefern sich auch Konventionen im planenden Handeln festlegen und definieren lassen. Favereau schafft hier Klarheit, indem er eine Auftrennung des Konventionenkonzepts vornimmt. Auf der einen Seite stehen semantisch-moralische Konventionen, auf der anderen Seite Konventionen, welche direkt Handlungsprobleme lösen (Favereau 2008).
42 Folglich lässt sich auch für das Regime des planenden Handelns eine Strukturierung durch Konventionen feststellen. Diese Konventionenart lässt sich als Antwort auf handlungspraktische Koordinationsprobleme verstehen.
43 Durch diesen Bezug der unterschiedlichen Konventionenkonzepte auf die Regimetheorie erfolgt ein Bruch mit einem zentralen Konzept der EC, der „justice et justesse“. Gerechtigkeit geht folglich nicht zwingend mit Richtigkeit einher und vice-versa. Denn es ist gerade der methodologische Fokus der Regimetheorie, Reibungen und Übersetzungsprobleme zwischen den verschiedenen Regimen aufzuzeigen (vgl. Abschn.
4.1). Deutlich wird durch diese Auftrennung des Konventionenkonzepts auf verschiedene Regime auch der unterschiedliche Fokus zwischen Rechtfertigungsordnungen und Produktionswelten. Rechtfertigungsordnungen beziehen sich auf das Rechtfertigungsregime und damit auf moralisch fundierte, weitreichende Qualitätsvorstellungen von Produkten. Im Gegensatz dazu konzentriert sich die Produktionsweltentheorie stärker auf die Organisation der Produktions- und Transaktionsprozesse und folglich auf das Regime des planenden Handelns.
44
In der vorliegenden Arbeit wird konsequent zwischen Konventionen und Rechtfertigungsordnungen unterschieden. Der Begriff der Konvention wird hier als Überbegriff für soziale Logiken der Koordination verwendet, wozu auch Rechtfertigungsordnungen als Konventionen des Rechtfertigungsregimes gehören, aber auch Konventionen des Plans und des Vertrauten.
45 Rechtfertigungsordnungen stellen aus dieser Perspektive einen Sonderfall von Konventionen dar, welche eine hohe Reichweite und so insbesondere eine hohe Relevanz für die öffentliche Koordination besitzen. In der Beschreibung der verschiedenen Survey-Welten wird primär auf produktionsweltliche Konventionen eingegangen wie diese auch von Storper und Salais eingeführt werden (Storper und Salais 1997). Die in der empirischen Ausarbeitung beschriebenen survey-weltlichen Konventionen können so primär dem Regime des Plans zugeordnet werden und stellen interpretative Grundlagen für pragmatische Handlungsprobleme dar. Dieses Konventionenkonzept steht folglich auch demjenigen von Dodier nah, welcher Konventionen ebenfalls als pragmatischen Referenzrahmen für handlungspraktische professionelle Probleme nachzeichnet (Dodier 1994). Dieser unterscheidet weiter zwischen Konventionen, welche als Common Sense einer Gesellschaft gelten und lokaleren Konventionen (Dodier 2011).
46 Die im empirischen Teil der Arbeit beschriebenen survey-weltlichen Konventionen nehmen hier eine mittlere Stellung ein, da sie nicht die Reichweite von Rechtfertigungsordnungen beanspruchen können. Damit haben sie auch keinen Eingang in den gesellschaftlichen Common Sense gefunden. Andererseits gehen sie aber über lokale Konvention hinaus, da sie in einer ganzen Branche etabliert und darüber hinaus durch ihre produktionsweltliche Einbettung auf weitere Branchen übertragbar sind.
Im Hinblick auf die Rolle der Objekte in der EC zeigt sich die geteilte Position der EC zur symmetrischen Betrachtung der Akteur-Netzwerk-Theorie (Belliger und Krieger 2006). Denn Konventionen bedürfen der Abstützung durch Objekte. Erst durch diese Abstützung stabilisiert sich der Bezug auf Konventionen in einer Situation, bzw. bekommt der Bezug auf eine Konvention in einer Situation seine Legitimation. Objekte stellen Situationsevaluationen in Form von Dispositiven auf Dauer. Survey-weltliche Aushandlungen in Survey-Projekten finden folglich stets in einer ausgestatteten Umwelt statt, auf welche durch die verschiedenen Akteure als Stütze zugegriffen wird. Wie bereits dargestellt, sind Rechtfertigungsordnungen nicht lediglich sprachliche Ordnungen, sondern eng mit charakteristischen Wesen und Objekten verwoben. Während jedoch Personen in mehreren Rechtfertigungsordnungen auftreten können, sind Objekte stärker auf eine Rechtfertigungsordnung beschränkt (Thévenot 2002, S. 189). Erst durch die Vernetzung mit Objekten werden Rechtfertigungsordnungen zu pragmatischen Handlungswelten (Nachi 2006, S. 128). Es ist diese Vernetzung zwischen Objekten und Konventionen, welche dazu führt, dass beim Bezug auf ein Element automatisch das gesamte Netzwerk zum Vorschein kommt (Dodier 2011, S. 84). Die Interpretation von Situationen bedeutet dann, dass in dieser stets Wesen und Objekte vorhanden sind, welche als Argumentations- und Handlungsstützen einen Konventionenbezug fundieren können. Objekte als Dispositive determinieren dadurch nicht die Situationsevaluation, sondern stützen und stabilisieren das Engagement von Akteuren (Dodier 2011, S. 83 f.; Thévenot 2011c, S. 243). Tatsächlich sind Situationen jedoch oft durch Wesen und Objekte aus verschiedenen Rechtfertigungsordnungen bevölkert, so dass Situationsevaluationen durch Konventionen selten eindeutig sind.
47 Situationen können sich folglich hinsichtlich der Klarheit ihrer Dispositiv-Ausstattung voneinander unterscheiden. Hybride Situationen bieten eher Angriffsfläche für einen Disput, während reine Situationen Personen dazu zwingen können, von einer Konvention auf eine andere umzuschwenken (Dodier 2011, S. 87).
Ein Auf-Dauer-Stellen von Koordinationsabläufen ist das Ziel der Investition in Formen. Das Konzept der Investition in Formen wurde von Laurent Thévenot und François Eymard-Duvernay eingeführt (Eymard-Duvernay und Thévenot 1983a). In seinem mittlerweile klassischen Aufsatz zur Investition in Formen macht Thévenot in direkter Anlehnung an die Idee der ökonomischen Investition die Notwendigkeit der Investition nicht nur in ökonomische Produktionsmittel deutlich, sondern auch in darauf anzupassende soziale Prozesse (Thévenot 1984). Denn mit der Anschaffung von neuen, produktiveren Maschinen ist der Transformationsprozess zu einer effizienteren Organisation noch nicht erreicht. Gleichzeitig zum Kauf von Maschinen ist es notwendig, neue organisationale Prozesse zu entwerfen und das Personal entsprechend zu schulen. Die Idee dahinter ist, dass konventionell fundierte Arbeitsroutinen der Abstützung durch Formen benötigen, um die prinzipielle Interpretationsoffenheit von Konventionen zu fixieren und so routinierte Handlungen im Arbeitsalltag zu ermöglichen. Formen haben folglich eine gewisse Widerständigkeit gegenüber der Interpretation. Das Argument von Thévenot ist nun, dass sich Anpassungsprozesse an neue organisationale Prozesse nicht von selbst ergeben, sondern dass dafür finanzielle und zeitliche Ressourcen aufgebracht werden müssen. Analog zu materiellen Investitionen ist es auch hier so, dass eine spätere Änderung mit Investitionskosten verbunden ist (Thévenot 1984, S. 19 f.). Formen können einerseits formeller und informeller Natur sein. Das heißt sie können als Regelung niedergeschrieben und festgelegt, oder als praktische „How-To’s“ existieren. Formen unterscheiden sich zudem maßgeblich in der materialen Ausstattung, das heißt inwiefern materielle Grundlagen wie Dokumente, Formulare, aber beispielsweise auch Schalter etc. die jeweilige Form stützen. Zudem unterscheiden sie sich in Bezug auf die Reichweite ihrer Gültigkeit in zeitlicher und räumlicher Hinsicht (Thévenot 1984, S. 12). Formen kommt eine höhere Reichweite zu, wenn sie sich auf bereits existierende Formen mit hoher Reichweite stützten können, wie beispielsweise Geld oder das Recht (Thévenot 1984, S. 11, 26). Als Formen mit hoher Reichweite betrachtet Thévenot insbesondere staatliche Formen, wie beispielsweise Statistikkategorien. Das Formkonzept macht deutlich, dass Zahlen als Ergebnis verschiedener Survey-Welten eine unterschiedliche Reichweite aufweisen können, weil sie sich unterschiedlich auf Formen beziehen können, bzw. das Resultat unterschiedlicher Forminvestitionen sind.
Eine wichtige Unterscheidung ist in der EC diejenige zwischen Konventionen und Institutionen.
48 Während im Neoinstitutionalismus (Dimaggio und Powell 1983; Meyer und Rowan 1977) oder in der Wissenssoziologie von Berger und Luckmann (2007) Institutionen als handlungsformend gelten, betrachte die EC Institutionen als interpretationsbedürftig (Diaz-Bone 2018, S. 371). Erst der Bezug auf eine Konvention erfüllt die Handlungsregeln einer Institution mit Handlungssinn. Institutionen werden von Akteuren also in reflexiver Weise verwendet, da sie Institutionen interpretativ mit Bezug auf Konventionen handhaben und anwenden. Akteure können in der EC folglich auch ohne einen Bezug auf Institutionen handeln (Salais 2003). Die Interpretationsoffenheit von Institutionen und damit einhergehenden Handlungsregeln wird in der EC jedoch nicht als Problem, sondern gerade als Lösung angesehen. Denn die Komplexität von in Regeln beschriebenen Situationen kann unmöglich vollständig in der Regel selbst spezifiziert werden. Die interpretative Auslegung löst demzufolge gerade die Unmöglichkeit der Regelspezifizierung (Favereau 1989a, S. 295). Institutionen sind in der EC als Handlungsdispositive gedacht (Diaz-Bone 2009a, S. 254 ff.). Im Unterschied zu Konventionen sind sie das Produkt intentionalen Handelns (Salais 2008b, S. 165). Konventionen und Institutionen können dadurch in verschiedenen Verhältnissen zueinander existieren.
49 Diaz-Bone beschreibt anhand von zwei Dimensionen vier mögliche Relationen, welche in Tab.
3.3 dargestellt sind.
Tab. 3.3Mögliche Relationen von Institutionen und Konventionen
Kohärent | 1. Normalität/Reliabilität | 2. Blockade/Hegemonie |
Inkohärent | 3. Dynamik/Wechsel | 4. Krise/Versagen |
In der ersten Situation wird das Funktionieren der Institution als unkritisch bewertet und die pragmatische Anwendung der Institution gelingt ohne Probleme, da die Institution kohärent mit der beigezogenen Konvention, bzw. der Rechtfertigungsordnung, ist. In der zweiten Situation besteht ebenfalls ein kohärentes Verhältnis zwischen Institution und Konvention, d. h. die Institution kann sinnvoll angewendet werden. Jedoch wird die Funktion der Institution als kritisch empfunden, d. h. sie wird auf Basis des Gemeinwohls kritisiert. Kritik ist in dieser Situation jedoch schwierig, da das Funktionieren der Institution nicht in Widerspruch zur beigezogenen Konvention steht. In der dritten Situation wird die Institution als unkritisch empfunden, steht jedoch in einem Widerspruch zur beigezogenen Konvention. Dadurch wird aus Sicht der Akteure ein Wechsel zu anderen, die Institution fundierenden Konventionen angestrebt, was eine Dynamik der konventionellen Grundlage zur Folge hat. In Situation vier wird sowohl das Funktionieren der Institution kritisiert und es existiert gleichzeitig eine Inkohärenz zwischen Institution und Konvention. Dadurch wird, wie bereits in Situation zwei, Kritik an der Institution formuliert, welche hier jedoch erfolgreicher ist als in der zweiten Situation, da das Verhältnis zwischen Institution und Konvention selbst als kritisch empfunden wird (Diaz-Bone 2012, S. 71 f.). Mit der Unterscheidung zwischen Konventionen und Institutionen und der Beschreibung von verschiedenen Relationen zwischen beiden Konzepten eröffnet sich eine Perspektive auf das Verhältnis von Institutionen, Standards und Regeln und deren situationsspezifischer Interpretation. Für die vorliegende Arbeit ist dies insbesondere mit Blick auf die Etablierung von Qualitätskriterien für die Survey-Forschung von Bedeutung. Denn hier findet gerade eine Investition in Formen, bzw. eine Institutionalisierung von Qualität auf der Basis von Konventionen statt, deren Formen in anderen Situationen dysfunktional sein können, da sie nicht sinnvoll auf andere Konventionen der Survey-Qualität bezogen werden können.
3.1.4 Dispute und Kompromisse
Wie bereits im Kapitel zu Objekten, Forminvestitionen und Institutionen deutlich wurde, thematisiert die EC maßgeblich die Herstellung einer kollektiven Einigung durch Akteure in ausgestatteten Umwelten. Im folgenden Unterkapitel wird nun spezifischer auf Dispute und Kompromisse eingegangen. Dispute und Kompromisse sind im Hinblick auf Survey-Welten zentrale Elemente der Analyse von Aushandlungen im Hinblick auf Fragen der Survey-Qualität und der Arbeitsorganisation.
Boltanski und Thévenot interessieren sich in „Über die Rechtfertigung“ für Situationen, in denen versucht wird, Kontingenzen zu bewältigen und eine allgemeine Ordnung in einer Situation herzustellen (Boltanski und Thévenot 2007, S. 181). Dieses Erreichen von Allgemeinheit bedarf jedoch der Allgemeinheitsfindung. Sie führen dazu das Konzept der Prüfung ein. Bei der Prüfung geht es nicht darum, dass Akteure individuelle Prüfungen vornehmen. Gefragt ist demnach nicht, was persönliche Meinungen an Größe zuordnen, sondern was allgemein anerkannte Größen der Personen und Objekte in der entsprechenden Situation sind. Eine Prüfung enthält zwei Schritte: Einerseits muss geklärt werden, welche Konvention legitimerweise als Bewertungsgrundlage hinzugezogen werden soll und andererseits, welche die sich daraus ergebenden Größen der Personen und Objekte sind. In beiden Schritten nehmen gemäß Boltanski und Thévenot Objekte eine zentrale Koordinationsfunktion ein (Boltanski und Thévenot 2007, S. 185).
50 Die Verknüpfung von Rechtfertigungsordnungen und Dingen „erlöst“ die in einen Disput geratenen Akteure von der absoluten Deutungskontingenz einer Situation. Zwischen Rechtfertigungsordnungen können typische Kritiken formuliert werden. Thévenot macht dies anhand der staatsbürgerlichen und der marktweltlichen Rechtfertigungsordnung deutlich. Die verschiedenen Relationen werden in Tab.
3.4 dargestellt.
Tab. 3.4Kritik zwischen Rechtfertigungsordnungen
Interpretation
| Staatsbürgerlich
| Sympathisch | Gierig |
Markt
| Naiv | Realistisch |
Durch die Kreuztabellierung werden einerseits Passungsverhältnisse, aber auch Kritiken der beiden Rechtfertigungsordnungen untereinander sichtbar. „Realistisch“ sind Personen aus der Perspektive der marktweltlichen Rechtfertigungsordnung dann, wenn sie die Konsumentenabhängigkeit sowie die temporal starken Marktschwankungen einbeziehen. Hingegen erscheint der Bezug auf die staatsbürgerliche Rechtfertigungsordnung aus der Perspektive der marktweltlichen Rechtfertigungsordnung als „naiv“. Denn die marktweltliche Rechtfertigungsordnung geht davon aus, dass Menschen durch individuelle Wünsche (und entsprechende Nutzenmaximierung) angetrieben sind. Der „Glaube“ der staatsbürgerlichen Rechtfertigungsordnung an das Kollektiv ist aus dieser Perspektive naiv, da aus Sicht der marktweltlichen Rechtfertigungsordnung die kollektive Orientierung von Akteuren überschätzt wird. Umgekehrt ist die Orientierung an der marktweltlichen Rechtfertigungsordnung aus der Perspektive der staatsbürgerlichen Rechtfertigungsordnung „gierig“, da hier maßgeblich aus Eigeninteresse gehandelt wird und dadurch keine Orientierung am Kollektiv stattfindet. Sichtbar wird in dieser Tabelle, dass Kritik aus der Perspektive der EC nicht „neutral“, sondern nur durch den Bezug auf eine Rechtfertigungsordnung formuliert werden kann. Die Kreuztabellierung ermöglicht die systematische Analyse von Passungs-, Kritik- und Konfliktverhältnissen zwischen verschiedenen Handlungslogiken und forciert so eine systematische Analyse von Relationen zwischen unterschiedlichen Konventionen.
Eine Prüfung der Situation wird immer dann notwendig, wenn die Deutung der Größe von Objekten und Personen zwischen Personen divergiert. Dies führt zu einem Missklang in Situationen, was der Klärung bedarf. Tatsächlich ist gemäß Boltanski und Thévenot keine Situation auf Dauer völlig klar. Trotz des Dispositivkonzeptes kommt es auf die Akteure an, Ordnung herzustellen. Eine Prüfung geschieht in jeder Konvention durch eigene kognitive Formen (Boltanski und Thévenot 2007, S. 186): Während in der industriellen Rechtfertigungsordnung Größe in Form von Instrumenten und Standards „gemessen“ wird, geschieht die Klärung von Größe in der Rechtfertigungsordnung des Hauses durch die Offenlegung der (familiären) Herkunft. Die grüne Konvention schlussendlich ist beispielsweise auf die industrielle Konvention angewiesen, um den biologischen Fußabdruck messen und kommunizieren zu können (Diaz-Bone 2018, S. 157). Damit wird deutlich, dass „Survey-Qualität“ und auch die Qualität der Zusammenarbeit mit einer Survey-Firma in den verschiedenen Survey-Welten nicht lediglich unterschiedlich definiert, sondern auch auf unterschiedliche Arten evaluiert wird.
Gerade in den Eigenheiten eines Disputes zeigt sich das Beherrschen von mehreren Rechtfertigungsordnungen. Ein Disput kann dabei als Streit darüber gedacht werden, welche Konvention als Äquivalenzprinzip zur Anwendung kommen soll. Dies bedingt jedoch der Kenntnis der Bezugskonvention des Gegenübers (Dodier 2011, S. 81). Akteure sind damit selbst in Disputen durch die gemeinsame Wissensbasis verbunden und unterscheiden sich lediglich bei der Frage der Anwendung. Ein Disput kann gemäß Boltanski und Thévenot vier mögliche Konsequenzen mit sich ziehen: Beilegung des Disputs durch den Bezug auf eine Rechtfertigungsordnung, Weiterführung des Disputs, Relativierung des Disputs durch den Wechsel in ein anderes Handlungsregimes
51 oder die Erstellung eines Kompromisses. Einen Kompromiss zu erstellen bedeutet, ein hybrides Setting zu produzieren, welches nicht eindeutig einer Konvention zuweisbar ist (Boltanski und Thévenot 2007, S. 367 ff.). Ein Kompromiss versucht, einen Brückenschlag zwischen Konventionen herzustellen und so einen Mittelweg zu gehen. Kompromisse sind dadurch aber auch angreifbar. Denn der Bezug auf die eine Konvention eröffnet die fehlende Bezugnahme auf die jeweils andere Rechtfertigungsordnung. Um einen Kompromiss stabiler und dauerhafter machen zu können, ist es notwendig, diesen durch „hybride Objekte“ und „mehrdeutige Wesen“ zu stützen. Objekte, welche in allen beteiligten Rechtfertigungsordnungen Größe innehaben, werden so als Stabilisatoren eingesetzt, um die parallele Koexistenz mehrerer Rechtfertigungsordnungen unter Beweis zu stellen.
52
Ein zentrales Thema der Soziologie der Konventionen stellen unterschiedliche Wertigkeiten von Objekten und Personen dar. Diese sind abhängig von der evaluierenden Konvention. Der Prozess der Zuschreibung von Wertigkeit wird in dem Werk „Experts et faussaires“ von Christian Bessy und Francis Chateauraynaud thematisiert. Mit dem Konzept der „Prise“ bezeichnen sie die Evaluation und Valuation von Wertigkeit (Bessy und Chateauraynaud 2014, S. 291 ff.). In „Über die Rechtfertigung“ wird diese Wertigkeitszuschreibung nicht weiter thematisiert. Die Zuschreibung von Wertigkeit erfolgt folglich „problemlos“ durch den Bezug von Objekten und Personen auf eine Konvention. Bessy und Cheateauraynaud hingegen unterscheiden verschiedene Dimensionen der Prüfung von Wertigkeit (Bessy und Chateauraynaud 2014, S. 300). Nebst der doppelten Komplexität von Koordination aus Sicht der EC durch die horizontale Differenzierung in unterschiedliche Rechtfertigungsordnungen und die vertikale Differenzierung in verschiedene Handlungsregime wird durch die Arbeit von Bessy und Chateauraynaud zusätzlich eine doppelte Unsicherheit eingeführt. Die erste Unsicherheit ergibt sich dabei aus der von Boltanski und Thévenot beschriebenen doppelten Komplexität (Boltanski und Thévenot 2007; Thévenot 2011d). Objektgestützt gilt es hier zu klären, in welcher Situation – im Hinblick auf Regime und Rechtfertigungsordnungen – man sich befindet. Die von Bessy und Chateauraynaud eingeführte zweite Unsicherheit besteht darin, dass die Objektstützung selbst eine Quelle der Unsicherheit darstellen kann, so dass diese gegebenenfalls weiter geklärt und so Unsicherheit minimiert werden muss. Aus der Perspektive von Bessy und Chateaureynaud wird folglich deutlich, dass sich Akteure in Survey-Welten bei der Evaluation von Survey-Qualität nicht blind auf Objekte und Formen verlassen können, sondern auch diese Stützen selbst zum Gegenstand einer kritischen Qualitätsevaluation machen müssen. Projektleiter in Survey-Projekten müssen folglich stets über das Unmittelbare hinausgehen und beispielsweise die Herkunft und spezifische Verwendung von Objekten und Formen mit in ihre Evaluation einbeziehen.