Seit dem Ende der 1990er Jahre haben sich parallel zu den Methoden der industriellen Produktion das Service Engineering (Böhmann et al.
2014) und das Smart Service Systems Engineering (Beverungen et al.
2017) (SSSE) als systematische Verfahren zur Entwicklung von digitalen Dienstleistungen etabliert. Hierbei wurde überwiegend auf Vorgehensweisen, Prozessmodelle und Methoden aus den Ingenieurswissenschaften und dem Innovationsmanagement zurückgegriffen. „Leitend waren dabei die Ideen und Verfahren der Produktgestaltung“ (Beuth
1998). Jedoch erst mit dem Konzept des SSSE hat sich die Idee der Digitalisierung bis zur zu entwickelnden Dienstleistung durchgezogen. Die Grundidee beim SSSE ist es aber immer noch, dass digitale Dienstleistungen ihre Werte durch die Erweiterung von physischen Produkten schaffen. Der immaterielle Charakter digitaler Dienstleistungen unter der Berücksichtigung veränderter Logiken in der Wertschöpfung wird in diesen Methoden entsprechend nicht reflektiert.
Aufgrund der Relevanz für die Erstellung von PDL wird das Service Design Thinking im Folgenden kurz vorgestellt und aufgezeigt, wie dieses Verfahren mit den sieben identifizierten Prinzipien korrespondiert.
4.1 Service Design Thinking
Das Service Design Thinking ist ein interdisziplinärer Ansatz, der die Prinzipien des SDL reflektiert und die sieben dargestellten Prinzipien umsetzt. Das Service Design Thinking besteht aus drei grundlegenden Elementen: dem Design Thinking Prozess, den Design Thinking Methoden und dem Design Thinking Mindset (Brenner et al.
2016). Das Service Design Thinking bedient dabei die oben abgeleiteten Prinzipien wie folgt:
4.2 Methoden zur Entwicklung von Geschäftsmodellen und Service-Ökosysteme
Wie die Ausführungen zeigen, muss die Entwicklung von PDL im Zeitalter der digitalen Transformation in Bezug zu organisationalen Strukturen, Ressourcen und Menschen grundlegend und übergreifend (neu) gedacht, implementiert und evaluiert werden. Dies spiegelt sich auch in der Darstellung von Geschäftsmodellen wider. In der Praxis gibt es eine Unzahl von Werkzeugen zur Beschreibung, Analyse und Entwicklung von Geschäftsmodellen. Diese Werkzeuge haben sich parallel zu den Innovationsmethoden entwickelt und beschreiben ebenso einen Pfad von einer industriellen Produktorientierung über Produkt-Dienstleistungssysteme bis zur PDL.
Die Business Model Canvas (Osterwalder et al.
2005) und die Value Proposition Canvas (Osterwalder et al.
2014) sind wohl die bekanntesten Werkzeuge zur Ableitung von Geschäftsmodellen. Beide Verfahren fokussieren auf die zu entwickelnde Value Proposition für den Kunden, die wiederum aus Unternehmenssicht definiert wird. Hierbei kommt der (individuelle) Nutzer und seine Bedürfnisse zu kurz, denn diese Modelle sehen den Kunden als Subjekt und nicht als ko-kreativen Partner in der Wertschöpfung. Vor allem sind diese Werkzeuge für die Entwicklung von Dienstleistungen wenig geeignet, weil sie den Gedanken des Service-Ökosystems nur unzureichend implizieren. Auch wird der Digitalisierungsgedanke nicht explizit herausgearbeitet.
Eine Weiterentwicklung, die sich unmittelbar auf die oben genannten Werkzeuge bezieht und auf Diesntleistungen ausgerichtet ist, stellt die Smart Service Canvas (Pöppelbuss und Durst
2017) für industrienahe Dienstleistungen dar. Sie ist aufgrund ihrer Verständlichkeit und ihrer Analogie zu bekannten Geschäftsmodellen in der Praxis auf die Dienstleistungsentwicklung leicht umsetzbar. Für die Entwicklung und Analyse von PDL kann sie eine wichtige Brücke bilden, deckt aber auch nur Einzelelemente einer wahren Dienstleistungsorientierung ab. So umfasst im konkreten Fall der Smart Service Canvas das beschriebene Ökosystem nur die technische Infrastruktur, nicht aber die arbeitsteilige Einbettung der Kunden in die Dienstleistungserstellung. Auch ist die Entwicklung eines ko-kreativen Value-in-Interaction mit Hilfe der Smart Service Canvas unwahrscheinlich. Denn der Kunde wird prinzipiell als passiver Akteur, ohne die Option einer Kunden‑/Nutzerintegration gesehen. Das Wertangebot fokussiert wiederum auf Produkt-Dienstleistungsbündel, bei dem ein smartes Produkt mit Dienstleistungen kombiniert wird. Es gibt eine Unzahl weitere Werkzeuge, die auf wichtige Einzelaspekte referenzieren (siehe hierzu von Engelhardt und Petzold
2019). Eine Methode, die alle PDL relevanten Aspekte umfasst fehlt bisher.
Ein erster, uns bekannter Entwurf für ein Werkzeug für die Bestimmung eines Geschäftsmodells für PDL ist die BeDien Service Canvas (Robra-Bissantz et al.
2020). Diese Canvas wird derzeit im Rahmen des BMBF Projekt „BeDien“ entwickelt, und impliziert die beschriebenen sieben Prinzipien und die damit einhergehende SDL-Unternehmensphilosophie.
Ausgangspunkt der BeDien Service Canvas sind die aus der Literatur identifizierten Gestaltungsbereiche der PDL: das zu gestaltende Werteversprechen (Value-in-Use), die Gestaltung der Beziehungen (Value-in-Interaction) zwischen Anbieter und Nutzer, sowie die Konfiguration des zugrundeliegenden Service-Ökosystems mit all seinen Partnern, der Technik und den verfügbaren materiellen und immateriellen Ressourcen. Das gemeinsame Verständnis dieser Gestaltungsbereiche in einem interdisziplinären Team aus Partnern, Kunden und der eigenen Organisation legt die Basis für eine Ko-Kreativität. Darauf aufbauend können die potenziellen Partner im Service-Ökosystem ihre kreative Ideenfindung für die Gestaltung der PDL beginnen. Dabei werden sie über die in den Prinzipien festgehaltenen Entwicklungslinien geleitet und zu neuen Ideen angeregt. So können sie entscheiden, wie und in welchem Ausmaß eine Individualisierung von Leistungen, eine Integration von Partnern in der Wertegenerierung, eine Kollaboration mit Partnern, sowie ein digitales Design der Services umgesetzt werden soll.
Die Service Canvas spannt damit einen Raum mit den Achsen „Gestaltungsbereiche“ und „Entwicklungslinien“ auf. Mit Hilfe eines begleitenden Reifegradmodells, mit dem es möglich ist, den Entwicklungsstand der Dienstleistungsgestaltung anhand der genannten Kriterien zu bewerten und zu befördern, können agil die Potenziale für moderne, wertorientierte und erfolgsversprechende PDL entwickelt werden.
Die Service-Canvas rät dann in den Feldern ihrer Matrix (aus den beiden Achsen) beispielweise dazu, eine aktivere Integration des Kunden in die PDL-Innovation sowie in den Wertschöpfungsprozess, zum Beispiel über Maker- oder Do-It-Yourself-Ansätze zu erwägen. Sie stellt die Bedeutung der sozialen, kollaborativen Interaktion und der Integration von Wissen der Partner in die Generierung eines Value-in-Interaction dar und lässt den PDL-Designer über die Möglichkeiten einer digitalen Schnittstelle zu Partnern nachdenken, in der beispielsweise Chatbots aktiv die Kommunikation übernehmen. Im Dienstleistungs-Ökosystem regt die Reifegradbetrachtung dazu an, nicht allein eigene Werte und Kompetenzen gezielt zu planen, sondern letztere auch agil weiterzuentwickeln. Selbstverständlich ist für die Gestaltung mithilfe der Bedien-Canvas, dass ganzheitlich auf alle potenziell geeigneten Partner geblickt und deren Ressourcen und Kompetenzen gezielt und unter Abwägung der jeweiligen Werte‑/Kompetenzenbilanz in das Service-Ökosystem eingebunden sind.
Mit der entsprechenden Geisteshaltung, der Nutzung der Service Canvas, inklusive Reifegradmodell, und in der Anwendung des Service Design Thinking, ergibt sich ein dediziertes Konzept für die Entwicklung von PDL der Zukunft, das versucht, dass die oben beschriebenen sieben Prinzipien (Nutzerzentriertheit, Integration, Kollaboration, Agilität, Ko-Kreativität, Interdisziplinarität, Digitalisierung) durchgehend im Unternehmen reflektiert werden.
Es ist hier darauf hinzuweisen, dass die Bedien Canvas Work-in-Progress darstellt und in den kommenden Jahren anhand von Praxisprojekten evaluiert und angepasst wird.