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2020 | OriginalPaper | Chapter

1. Einleitung und Kontextualisierung

Author : Melanie Hartmann

Published in: Zwischen An- und Ent-Ordnung

Publisher: Springer Fachmedien Wiesbaden

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Zusammenfassung

Dieses Kapitel gibt einen Überblick über Inhalt und Aufbau des Buches, welches sich mit den Sammelunterkünften für Geflüchtete in Deutschland einem der zentralen Raumbilder widmet, vis-à-vis derer sich nach Deutschland fliehende Menschen bewegen. In dem dabei gewählten kritischen, raum- und politiktheoretischen Zugang wird der doppelten Problematik Rechnung getragen, dass die Menschen in und durch das Schreiben über sie häufig entweder als passive Hilfsempfänger*innen depolitisiert werden oder anderseits, in einer Überbetonung des Fluiden, Hybriden oder der Transnationalität migrantischer Bewegungen, bestehende Herrschaftsverhältnisse unsichtbar werden. Indem in der vorliegenden Arbeit die Räume der Sammelunterkünfte nicht als gegeben gesetzt, sondern ihre soziale (Re-)Konstitution auf mehreren Ebenen kritisch beleuchtetet wird, können Herrschafts- und Machtverhältnisse, die in die Produktion dieser Räume eingeschrieben sind sowie deren Auswirkungen auf die Bewohner*innen sichtbar gemacht werden. Gleichzeitig wird die prinzipielle Unabgeschlossenheit von Verräumlichungsprozessen betont und der Blick somit auch auf Momente der Infragestellung der räumlichen An-Ordnungen der Sammelunterkünfte durch die Bewohner*innen selbst gerichtet. Diese Momente interessieren vor allem hinsichtlich räumlicher Praktiken des Alltags und werden als Ent-Ordnungen mit dem poststrukturalistischen, politiktheoretischen Begriff des Politischen (writ small) gelesen.

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Footnotes
1
Siehe ausführlicher dazu Abschnitt 1.2 und 2.
 
2
Das Wort “manifestieren” bedeutet gemäß Duden „sich als etwas Bestimmtes offenbaren, sich zu erkennen geben, sichtbar werden“ (Duden (N/A)) und verweist hier hinsichtlich der untersuchten Praktiken der alltägliche (Re-)Konstitution der Räume der Sammelunterkünfte also auf beides: Sowohl auf die unterschiedlichen Ausprägungen dieser Praktiken als auch auf deren vielfältige Effekte auf die Bewohner*innen dieser Räume.
 
3
Als „Genfer Flüchtlingskonvention“ wird das am 28. Juli 1951 verabschiedete „Abkommen über die Rechtstellung der Flüchtlinge“ bezeichnet. Artikel 1a definiert, dass eine Person als Flüchtling bezeichnet wird, wenn sie „aus der begründeten Furch vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtung nicht in Anspruch nehmen will; oder die sich als staatenlose infolge solcher Ereignisse außerhalb des Landes befindet, in welchem sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte, und nicht dorthin zurückkehren kann oder wegen der erwähnten Befürchtung nicht dorthin zurückkehren will“ (UNHCR 1951). Nicht abgedeckt sind also Verfolgungsgründe wie Naturkatastrophen, Hungersnöte etc. Da sich die Genfer Flüchtlingskonvention zunächst nur auf Geflüchtete aus Europa begrenzte, wurde sie später durch das am 31. Januar 1967 ratifizierte „Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge“ (das sog. „New Yorker Protokoll“) ergänzt.
 
4
Othering “ wird hier mit van Houtum verstanden als „the construction of symbolic/cultural boundaries between ‘us’ and ‘the Other’“ (Houtum et al. 2005, S. 18).
 
5
Gründe können beispielsweise Reiseunfähigkeit aufgrund des gesundheitlichen Zustands, das Nichtvorliegen gültiger Reisedokumente oder der Schutz der Kernfamilie sein (vgl. §60 AufenthG).
 
6
Der Begriff der „Forschungsteilnehmer*innen“ ist insofern ebenfalls erklärungsbedürftig, da ich ihn bewusst anstatt dem in qualitativen Arbeiten ebenfalls anzutreffenden Begriff der „Forschungspartner*innen“ einsetze. Der Grund hierfür ist, dass der Begriff „Forschungspartner*in“ eine echte Involvierung der Menschen in allen Phasen eines komplett partizipativen Forschungsprozesses suggeriert, die in meinem Projekt so nicht gegeben war (siehe dazu auch Abschnitt 4.​2.​2).
 
7
Daneben gibt es noch andere Sammeleinrichtungen, wie etwa Abschiebehaftanstalten oder die seit 2018 in einigen Bundesländern errichteten sog. AnkER-Zentren. AnkER steht dabei für „Ankunft – Entscheidung – Rückführung“. Diese Zentren sollen dafür dienen, die behördlichen Entscheidungsprozesse im Asylverfahren effizienter zu gestalten. De facto erhöhen diese Einrichtungen aber Isolation und Ausgrenzung noch weiter. Für Geflüchtete besteht dort eine sog. „Bleibepflicht“, bis entweder eine Entscheidung über die Zuweisung an eine Kommune getroffen wurde, die Abschiebung in das Herkunftsland veranlasst wird oder die Menschen sich für eine „freiwillige Rückkehr“ entscheiden (vgl. Pro Asyl 2019b, S. 4). Da sich meine Forschung nicht mit diesen Einrichtungen befasst hat und zum Zeitpunkt ihrer Einführung meine empirischen Erhebungen bereits abgeschlossen waren, wird in dieser Arbeit nicht näher auf die (in den verschiedenen Bundesländern teilweise sehr unterschiedlich gehandhabte) Einrichtung von Ankunfts- bzw. AnkER-Zentren eingegangen.
 
8
Das europäische Grenzregime zielt auf die Kontrolle und das Management der europäischen Grenzen, es „stellt ein Ensemble von gesellschaftlichen Praktiken und Strukturen [dar] – Diskurse, Subjekte, staatliche Praktiken – deren Anordnung nicht von vorneherein gegeben ist, sondern das genau darin besteht, Antworten auf die durch die dynamischen Elemente und Prozesse aufgeworfenen Fragen und Probleme, zu generieren“ (Karakayali und Tsianos 2007, S. 14). Das europäische Grenzregime umfasst also „eine Vielzahl von Akteuren und Diskursen […], deren Praktiken sich aufeinander beziehen, doch nicht im Sinne einer zentralen (systemischen) Logik oder Rationalität, sondern im Sinne eines Aushandlungsraums“ (Hess und Tsianos 2010, S. 253). In der kritischen Grenzregimeforschung wird zudem betont, dass das europäische Grenzregime nicht in erster Linie auf die hermetische Abschottung des europäischen Kontinents zielt, sondern die Regulation und Zirkulation von Migration „zum Gegenstand der flexiblen Steuerung migrantischer Subjektivitäten [macht]“ (Hess und Tsianos 2010, S. 248; vgl. auch Kasparek 2019). Der kontinuierliche Prozess der Herausbildung des Migrationsregimes ist zudem umkämpft und wird von Bewegungen der Flucht*Migration immer wieder herausgefordert (vgl. Hess und Karakayali 2017).
 
9
Die Hauptaufnahmeländer für geflüchtete Menschen prozentual zur Bevölkerungszahl waren im Jahr 2018 Libanon, Jordanien, Türkei, Tschad und Uganda (vgl. UNHCR 2019c, S. 11).
 
10
Der Bezug sind hier ausdrücklich Schutzsuchende, die ihre Heimat- bzw. Aufenthaltsländer aufgrund von Verfolgung verlassen müssen. Weder gibt es für sie die Möglichkeit, Asylanträge in deutschen Auslandsvertretungen zu stellen, noch gibt es eine konsequente Umsetzung der als politischen Kompromiss verkauften Kontingent- und resettlement-Lösungen. Einige (paragraphenreiche) Ausnahmen legaler Zuwanderungsmöglichkeiten bestehen u. a. für Hochqualifizierte und Arbeitssuchende in sogenannten Mangelberufen.
 
11
Kernelement des modernen Asylrechts ist der Grundsatz des Non-Refoulement, der Nicht-Zurückweisung, der in Artikel 33 der Genfer Flüchtlingskonvention vom Juli 1951 bzw. ergänzt durch das New Yorker Protokoll vom Januar 1967 verankert ist. Dieser Grundsatz besagt, dass kein Staat einen geflüchteten Menschen in ein Land zurückschicken darf, in dem Gefahr besteht, dass dort sein Leben oder seine Freiheit aufgrund seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Überzeugung bedroht wäre. Dies begründet also ein Verbot der Abschiebung in die Herkunftsländer ohne Prüfung der Verfolgungsgefahr. Das Non-Refoulement-Gebot begründet sich auch aus Artikel 3 der UN-Antifolterkonvention. Demnach darf ein Vertragsstaat eine Person nicht in einen anderen Staat ausweisen, abschieben oder an diesen ausliefern, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass sie dort Gefahr liefe, gefoltert zu werden (vgl. auch Frings 2018, S. 105; Tiedemann 2015, S. 165 ff.; UNHCR 1951). Die Europäische Union versucht, sich dieser völker- und menschenrechtlichen Verantwortung zunehmend zu entziehen, indem sie verhindern will, dass Menschen überhaupt auf ihrem Territorium ankommen. Auf diese Weise können von den Geflüchteten Schutzansprüche mangels Gebietskontaktes gar nicht erst geltend gemacht werden.
 
12
Bis September 2017 sollten gemäß der zwei „Notfall-Umverteilungsbeschlüsse“ des Rats der EU insgesamt 160 000 geflüchtete Personen aus Italien und Griechenland in andere EU-Staaten weiterreisen können (vgl. Ziebritzki und Nestler 2017, S. 20). Bis Ende der Frist wurden knapp 28 000 Menschen tatsächlich umverteilt, also gerade mal ein Fünftel der anvisierten Zahl. Deutschland nahm lediglich knapp 8000 der zugesagten 27 536 auf. Ungarn und Polen haben keine einzige Person aufgenommen (vgl. Tagesschau 2017).
 
13
In einem Oxfam-Bericht sprechen beispielsweise 84 Prozent der aus Libyen (weiter)geflohenen Menschen davon, dort Folter, Vergewaltigungen und Misshandlungen erlebt zu haben. Lediglich eine der 31 befragten Frauen gab an, nicht Opfer von sexueller und genderbasierter Gewalt geworden zu sein (vgl. OXFAM 2017, S. 30).
 
14
Ausbreitung und Delokalisierung der Grenzen führen dazu, dass die Flucht*Migration nach Europa immer gefährlicher wird. Den Versuch, Europa über das Mittemeer zu erreichen, bezahlten selbst nach offiziellen Zahlen allein im Zeitraum von 2014 bis 2017 circa 14 500 Menschen mit dem Leben, mehrere Tausend Menschen starben im gleichen Zeitraum beim Versuch, Nordafrika in Richtung Europa zu durchqueren (vgl. IOM 2017, 6 ff.).
 
15
Als subjugated knowledge beschreibt Michel Foucault „a whole set of knowledges that have been disqualified as inadequate to their task or insufficiently elaborated: naïve knowledges, located low down on the hierarchy, beneath the required level of cognition and scientificity“ (Foucault 1980c, S. 82) und bezieht sich dabei auf die vom (wissenschaftlichen) Wissenskanon ausgeschlossenen bzw. disqualifizierten Wissensformen.
 
16
Dies ist auch deshalb von besonderer Bedeutung, da die geflüchteten Menschen nur sehr selten selbst (wissenschaftliches) Wissen über ihre Situation produzieren. Die kritische Reflektion von Fragen wie „Wer spricht über oder für wen mit welchem Wahrheitsanspruch?“ oder „Welche Stimmen werden dabei (un)hörbar gemacht, welche gelten als glaubwürdig und welche nicht?“ erlangt in diesem Forschungsfeld deshalb besondere Dringlichkeit (vgl. auch Alcoff und Potter 1993). In ihrer Arbeit über epistemische Ungerechtigkeit führte Miranda Fricker (2007) den Begriff der testimonial injustice ein, um auf die Problematik hinzuweisen, dass bestimmte Vorurteile und Zuschreibungen gegenüber der*dem Sprecher*in dazu führen, dass das Gesagte als weniger glaubwürdig eingestuft wird. Viel zu selten nimmt der „dominante Diskurs“ (do Mar Castro Varela, María und Dhawan 2003, S. 279) in der Erforschung von Flucht*Migration die Stimmen der Geflüchteten als Expert*innen ihrer Situation war. Sie tauchen darin auf als Forschungs “objekte”, als Laien, als „Andere“ des rationalen, wissenschaftlichen Diskurses. Gleichzeitig werden bestehende Machtasymmetrien vertieft, indem das „Laienwissen“ der Informant*innen dazu genutzt wird, deren (Flucht*Migrations-)Bewegungen zu kontrollieren und zu reglementieren.
 
17
Die Erkenntnis, dass die Erfahrungen und Perspektiven, die in den Texten der Wissenschaftler*innen beschrieben sind, keine unabhängige Wirklichkeit darstellen, sondern Wirklichkeit in und durch diese Texte erst erschaffen wurde, wird seit den 1970er Jahren, spätestens aber seit der writing-culture Debatte (vgl. Clifford und Marcus 1986) in der Kultur- und Sozialanthropologie der 1980er Jahre als „Krise der Repräsentation“ bezeichnet: “[it] presumes that qualitative researchers can no longer directly capture lived experience. Such experience, it is argued, is created in the social text written by the researcher. This is the representational crisis“ (Denzin 1997, S. 3). Repräsentation ist jedoch nicht etwas, das in der Produktion wissenschaftlicher Texte oder überhaupt vermieden werden könnte, vielmehr bezeichnet sie eine „spezifisch menschliche, mithin eine anthropologische Kompetenz […], die über Gesten der Distanzierung und Symbolisierung ein Instrumentarium der Welterschließung bereitstellt“ (Ahrens 2008, S. 56).
 
18
Aus diesem Grund bringt der Versuch der Einnahme ihrer Perspektive letztlich immer auch die Gefahr einer Vereinnahmung und Romantisierung mit sich (vgl. Haraway 1988, 583 f.).
 
19
Verschiedene Autor*innen greifen deshalb unter Labeln wie personal narratives, first-person accounts, reflexive ethnography, personal essays, writing-stories, auto-observation, personal ethnography Fragen zur Selbstreflexivität, Positionalität und Repräsentation in der Textproduktion auf, führen unterschiedlich nuancierte Formen des autoethnographischen Schreibens ein und messen diesen eine zunehmende Relevanz in der Generierung und Vermittlung wissenschaftlichen Wissens bei (vgl. einführend Adams et al. 2015; Denzin 1997; Ellis und Bochner 2000; Pensoneau-Conway et al. 2017).
 
20
In einem Beitrag zur intersektionalen Verstärkung von Ungleichheitsdimensionen und der Situation von Frauen in Sammelunterkünften in Deutschland (Hartmann 2017b) habe ich zudem darauf verwiesen, dass der Gewaltbegriff in der Fluchtforschung im Sinne von Johan Galtung (1969; 1990) über die direkte Gewaltanwendung hinaus auch strukturelle und kulturelle Formen von Gewalt umfassen muss, um auch systemimmanente Formen von Ungerechtigkeit und die daraus resultierende Verletzung von Grundbedürfnissen als „Gewalt“ fassen zu können. Ähnlich wie oben hinsichtlich epistemischer Gewalt aufgezeigt wurde, versteht Galtung seinen Begriff der kulturellen Gewalt dabei als subtilen Legitimationszusammenhang, als „any apect of a culture to legtimize violence in its direct or structural form“ (Galtung 1990, S. 291).
 
21
Pointierte Beispiele für van Dijks Analyse sind die prompten gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen, die in der Regel auf die Proteste der Geflüchteten gegen widrige Unterbringungsbedingungen oder willkürliche Abschiebepraktiken folgen. Mindestens zwischen den Zeilen klingt dann die Frage mit: Wie können „die“ es wagen, „hier“ auch noch mit Forderungen aufzutreten? Der Innen- und Heimatminister Horst Seehofer (CSU) beispielsweise verdrehte den Protest und das solidarische Einstehen geflüchteter Menschen für einen von Abschiebung bedrohten Freund in der Unterkunft in Ellwangen in einen „Schlag ins Gesicht der rechtstreuen Bevölkerung“ (FAZ Online 2018). Auch dem aktiven Eintreten der Geflüchteten für die eigenen Rechte, indem sie mit Hilfe anwaltlicher Vertretung gegen die häufig fehlerbehafteten Asylablehnungsentscheidungen des BAMFs mit legitimen Mitteln des deutschen Rechtssystems Klage erheben, schlagen zunehmend Wellen der Empörung entgegen. Der CSU-Politiker Alexander Dobrindt sieht öffentlichkeitswirksam gar eine „aggressive Anti-Abschiebe-Industrie“ (Spiegel Online 2018) am Werk.
 
22
Ein Diskurs, der ebenfalls hier anknüpft, ist die zunehmende Versicherheitlichung (securitization) der Flucht*Migrationsbewegungen, der aufbauend auf einer Unterscheidung zwischen „guten“ und „schlechten“, bemitleidenswerten und (potentiell) gefährlichen Migrant*innen, asylberechtigten und illegalisierten Menschen, parallel zur Viktimisierung bestimmter Gruppen Geflüchteter, Flucht*Migration als wachsendes Sicherheitsproblem für europäische Gesellschaften konstruiert (vgl. Bourbeau 2011; Huysmans 2000; Karakayali 2008, S. 227 ff.; Watson 2009).
 
23
In einem Buch zur kritischen Auseinandersetzung mit dem gegenwärtigen Resilienzdiskurs, herausgegeben von Medico International, setzen sich die Autor*innen deshalb auch mit der Frage auseinander, ob das Konzept der Resilienz anstatt Heilmittel gegen Krisen nicht vielmehr Teil jener neoliberalen Hegemonie ist, für die es charakteristisch ist, gesellschaftliche Verantwortung in die Sphäre des Privaten abzudrängen (vgl. Jung 2017).
 
24
Andrea Ploder spricht in ihrem Aufsatz „Widerstände sichtbar machen. Zum Potential einer performativen Methodologie für kritische Migrationsforschung“ (2013) von fünf Dimensionen kritischer Migrationsforschung. Diese werden hier inhaltlich erweitert und modifiziert bzw. der vorliegenden Forschungsarbeit entsprechend angepasst. Unter anderem werden die von Ploder separat erfassten Aspekte der Interdependenzkritik und der politischen Aktion unter die Dimension der Wissenschaftskritik subsumiert. Problematiken der Repräsentation werden hier ebenfalls unter Wissenschaftskritik gefasst, um somit eine trennschärfere Abgrenzung zur Forschungskritik zu ermöglichen, welche sich dann v. a. auf die konkrete Forschungspraxis, Fragen von Forschungsethik, Vorgehen, Interaktionen und Alltag in der Forschungssituation bezieht.
 
25
Eine der Antworten, die bspw. die Anthropologie auf die in den 1970er/80er Jahren vermehrt einsetzende Auseinandersetzung mit den (post-)kolonialen Verstrickungen der Disziplin, der verstärkten Reflektion der Situiertheit der Forschenden und den potentiell negativen Folgen ethnographischer Darstellungen für die dort beschriebenen „Anderen“ (vgl. Clifford und Marcus 1986; Hymes 1969; Marcus und Fischer 1986) gefunden hat, war eine zunehmende Hinwendung zu kollaborativen und aktivistischen Forschungsansätzen. Diese neueren Ansätze machten die Fürsprache für die beforschten Gemeinschaften und Individuen und deren Partizipation am Forschungsprozess zu einem essentiellen Bestandteil der Forschung (vgl. Juris und Khasnabish 2013, S. 23). Oftmals in der Tradition feministischer Epistemologien und Forschungskritiken stehend, bildete sich eine Vielzahl „engagierter“ Forschungsstrategien heraus, darunter action research, engaged research, advocacy research, activist research, participatory action research, collaborative ethnography, militant ethnography etc. (vgl. ibid, aber auch: Beck und Maida 2013; Estalella und Sánchez Criado 2018; Hale 2006; Kesby et al. 2007; Low 2011; Low und Merry 2010; Ngwenya 2018; Rauch et al. 2014; Rowell et al. 2017; Scheper-Hughes 1995; Shukaitis et al. 2007; Sillitoe 2015). Trotz unterschiedlicher Nuancierung eint diese Ansätze, dass sie sich grundsätzlich als Intervention zur Verbesserung der individuellen bzw. kollektiven sozialen Positionen der Forschungsteilnehmer*innen begreifen. Die Themenauswahl für Forschungsprojekte wird bestimmt von dem Wunsch, soziale Ungerechtigkeiten und Machtungleichheiten transparent zu machen. Wissenschaftliche Wissens- und Textproduktionen stehen im Dienst der Aufdeckung von Unterdrückungsmechanismen und dem Versuch, marginalisierten Positionen mehr Raum zu verschaffen. Dazu wird versucht, den Forschungsprozess selbst demokratischer zu gestalten und die „Beforschten“ in die Entwicklung, Durchführung und Darstellung von Forschungsprojekten stärker einzubinden (vgl. Gobo 2008, S. 58).
 
26
Dazu gehörte beispielsweise die Unterstützung und Begleitung der Bewohner*innen bei Behördengängen, zur Asylanhörungen oder in Gesprächen mit Verwaltungsmitarbeiter*innen. Auch ihre Vernetzung mit der lokalen Beratungsinfrastruktur wie der Asylberatung des roten Kreuzes oder der Refugee Law Clinic waren mir ein wichtiges Anliegen. Im Alltag waren zudem immer wieder Unterstützung beim Ausfüllen von Formularen, beim Schreiben von Bewerbungen oder beim Umzug in eine eigene Wohnung gefragt.
 
27
Seit 2018 setzen einige Bundesländer (darunter v. a. Bayern) verstärkt auch auf die Umwandlung der EAE in sogenannte Ankunfts-, Entscheidungs- und Rückführungszentren (AnkER-Zentren). Diese Zentren sollen unter anderem der schnelleren Durchführung der Asylverfahren dienen. Wohlfahrtsverbände kritisieren die vergleichsweise noch schlechteren Unterbringungsbedingungen bzw. noch größere Isolation der Geflüchteten in diesen Einrichtungen. Unter anderem ist dort der Zutritt für Ehrenamtliche und Asylberater*innen häufig verboten, es werden in der Regel Sach- statt Geldleistungen ausgezahlt und die Menschen müssen dort bis zur Entscheidung über ihren Asylantrag bzw. maximal bis zu 18 Monaten bleiben. Zudem verhindert nicht nur das Zutrittsverbot für Asylberater*innen, sondern auch die sehr schnell durchgeführten Verfahren eine ausreichende Information der Geflüchteten sowie Klagemöglichkeiten (vgl. etwa Pro Asyl 2019b). Manche Bundesländer betreiben nur eine „große“ Landesaufnahmeeinrichtung, andere verteilen die Ankommenden auf mehrere Einrichtungen.
 
28
Diese werden jährlich neu auf Basis des sog. „Königssteiner Schlüssels“ bestimmt. Dieser berücksichtigt sowohl Einwohner*innenzahl wie auch die Steuereinnahmen der einzelnen Bundesländer.
 
29
Allerdings sieht das Gesetz im Anschluss an die Unterbringung in den Aufnahmeeinrichtungen eine Unterbringung von Geflüchteten in Gemeinschaftsunterkünften vor und forciert nicht etwa eine rasche dezentrale Unterbringung in regulären Wohnungen (Soll-Vorschrift, keine Verpflichtung). In §53 AsylG heißt es dazu: „Ausländer, die einen Asylantrag gestellt haben und nicht oder nicht mehr verpflichtet sind, in einer Aufnahmeeinrichtung zu wohnen, sollen in der Regel in Gemeinschaftsunterkünften untergebracht werden.“
 
30
Im Saarland wohnten also ein bis drei Jahre nach der Ankunft 79 Prozent der Menschen bereits in Privatwohnungen, während es in Berlin nur 17 Prozent waren.
 
31
Systematisch erhobene, bundeslandübergreifende Zahlen über die Anzahl der Menschen, die in Deutschland in Erstaufnahmeeinrichtungen und/oder Gemeinschaftsunterkünften untergebracht sind, sowie deren Verweildauer in den Unterkünften, gibt es nicht (vgl. Johansson 2016, 31 f.). Anhaltspunkte geben Zahlen des Statistischen Bundesamtes, das die Empfänger*innen von Leistungen nach dem AsylbLG nach Unterkunftsarten aufschlüsselt. Im Dezember 2017 lebten demnach von 308 708 Leistungsempfänger*innen in Deutschland, 36 141 in EAE und 140 101 in GU (vgl. Statistisches Bundesamt 2017, S. 7). Nicht abgebildet sind hier bspw. Menschen, die bereits im SGB II Bezug sind, aber immer noch in GU leben.
 
32
Für einen Überblick der verschiedenen Regelungen der Bundesländer zur Aufnahme bzw. Verteilung von Geflüchteten siehe bspw. BBSR 2017.
 
33
Im Jahr 2013 machten lediglich sechs Bundesländer den Kommunen bundeslandesweit gültige Vorgaben für Mindeststandards, in anderen Ländern geben Landesaufnahmegesetzte lediglich allgemeine Bestimmungen an die Kommunen vor (vgl. Baier und Siegert 2018, S. 7; Müller 2013). Allerdings bestehen auch zwischen den Vorgaben der einzelnen Länder deutliche Unterschiede.
 
34
2017 legte das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Kinder in Zusammenarbeit mit UNICEF und einer Vielzahl wohlfahrtsstaatlicher und zivilgesellschaftlicher Akteur*innen wie der Arbeiterwohlfahrt, dem Paritätischen Gesamtverband, dem Deutschen Roten Kreuz, der Diakonie und anderen, Vorschläge zur bundesweiten Einhaltung von „Mindeststandards zum Schutz für geflüchtete Menschen in Flüchtlingsunterkünften“ vor (mittlerweile in 3. Auflage: BMFSFJ und UNICEF 2018). Diese Vorschläge haben allerdings keine Gesetzeskraft. Es handelt sich lediglich um Leitlinien bspw. für die (freiwillige) kommunale Entwicklung von Schutzkonzepten in den Gemeinschaftsunterkünften.
 
35
21 Prozent der in der o.g. Studie Befragten, die in einer Gemeinschaftsunterkunft wohnten, waren beispielsweise in provisorischen Unterkünften wie Containern, Zeltstädten oder umfunktionierten Hallen untergebracht, 37 Prozent wohnten in umgewidmeten Gebäuden wie ehemaligen Schulen oder Bürogebäuden, 38 Prozent in ehemaligen Hotels oder hotelähnlichen Gebäuden (vgl. Baier und Siegert 2018, S. 4).
 
36
Da diese Besuche in erster Linie im Zeitraum vor Beginn meiner „offiziellen“ Forschungsphase und somit vor Beginn der systematischen Datenerfassung stattfanden, weise ich, so ich Beobachtungen aus dieser Zeit verwende, in Fußnoten gesondert darauf hin.
 
37
Den Großteil (64) der 71 „offiziellen“ Forschungstage verbrachte ich zwischen August 2016 und Dezember 2017 in diesen Unterkünften, einige weitere im Laufe des Jahres 2018.
 
38
Diese Einschätzung beruht nicht nur auf meinem Urteil, sondern auch auf Berichten von Bewohner*innen, siehe Kapitel 4 und 5. Was daraus methodisch und für die Einordung der empirischen Beobachtungen in dieser speziellen Unterkunft folgte, stellt Abschnitt 4.​2.​1 näher dar.
 
39
Das Wort „Flüchtlingskrise“ wird in dieser Arbeit ausschließlich in Anführungszeichen verwendet, da der Begriff suggeriert, dass „die Flüchtlinge“ eine gesellschaftliche und politische Krise in Deutschland/Europa ausgelöst hätten. Vielmehr war es aber eine Krise der innereuropäischen Solidarität der nordeuropäischen Länder mit den Mittelmeeranrainern Italien und Griechenland, da die Dublin-Verordnungen des „gemeinsamen“ europäischen Asylsystems diese Länder überproportional belastete. Daneben war es eine Krise der Solidarität mit Ländern des globalen Südens, da von den weltweit fast 70 Millionen Menschen auf der Flucht nur ein kleiner Bruchteil überhaupt in Europa ankommt, sowie eine Krise der Solidarität mit den Geflüchteten selbst, da „der Westen“ über Militärexporte, Ressourcenausbeutung etc. an den Fluchtgründen ursächlich beteiligt ist, die Schutzgewährung aber zunehmend einschränkt (vgl. Abschnitt 1.2).
 
40
Dazu zählen laut Landkarte Promotionen, Habilitationen, Drittmittelprojekte, Institutsprojekte und stipendiengeförderte Arbeiten im Feld der Flucht- bzw. Flüchtlingsforschung
 
41
Außerdem heißt es dort weiter: „Bei den von FFT erfassten, seit 2011 in Deutschland begonnenen Projekten zeigt sich ein besonderes Forschungsinteresse zu Fragen der Aufnahme und Integration von Geflüchteten im Vergleich zu Themen der Flüchtlingspolitik und Prozessen der Gewaltmigration. Während in den Jahren bis 2014 der Anteil thematischer Zuordnungen der Projekte zum Themenbereich Aufnahme und Integration zwischen etwa 30 und 40 Prozent lag, stieg dieser bis 2017 auf 56 Prozent“ (Kleist et al. 2019, S. 16). Diese Entwicklung bildet also einen besonderen Anstieg des Interesses an Themen ab, die sich an der Schnittstelle zu Fragen der Unterbringung von Geflüchteten in Deutschland bewegen.
 
42
Vergleiche für einen Literaturüberblick zu sexueller und geschlechterbasierter Gewalt an Frauen in Flüchtlingslagern auch Buckley-Zistel et al. (2014).
 
43
Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (im Folgenden: UNHCR) definiert sexuelle und genderbasierte Gewalt (engl. sexual and genderbased violence; SGBV) als jedweden Akt, der gegen den Willen einer Person begangen wird und auf bestehende Geschlechternormen und ungleichen Machtbeziehungen zwischen den Geschlechtern basiert. Akte von sexueller und genderbasierter Gewalt umfassen auch die Androhung von Gewalt, sowie die Ausübung von Zwang. SGBV kann physischer, emotionaler, psychologischer oder sexueller Natur sein oder sich in der Verweigerung von Ressourcen oder des Zugangs zu unterstützenden Maßnahmen ausdrücken. SGBV stellt eine Menschenrechtsverletzung sowie eine Verletzung der Menschenwürde dar und betrifft sowohl Frauen, Mädchen, Jungen, wie auch Männer (vgl. UNHCR 2001).
 
44
Selbstverständlich gibt es in der konkreten Ausprägung einzelner Faktoren zwischen den Unterkünften Unterschiede, z. B. mehr oder weniger isolierte Standorte, mehr oder weniger Gewaltvorkommen, größere oder geringere Belegungszahlen, mehr oder weniger Solidarität seitens der Anwohner*innen, mehr oder weniger große Verletzungen der Privatsphäre durch zuständiges Personal etc., auf die in einigen der Publikationen ebenfalls verwiesen wird (vgl. bspw. DIMR 2017; FAZIT 2016; Muy 2016; Pieper 2008). Diese erscheinen aber eher als Varianzen in der Strukturlogik dieser Räume, ohne diese Logik als solche zu ändern.
 
45
Die Rede ist hier also nicht von einer ergänzenden Betrachtung der Sammelunterkünfte aus theoretischer und empirischer Perspektive, sondern von einem Gespräch zwischen beiden, welches ein „Sich-gegenseitig-In-Formieren“ zur Folge hatte, das „die Gegenseite nicht so beläßt, wie sie ist“ (Kalthoff 2008, S. 10). Im dialogischen Prozess des wechselseitigen In-Formierens von Theorie und Empirie in dieser Arbeit, standen sich beide also nicht dichotomisch gegenüber, sondern waren wechselseitig verschränkt. Theoretische (Vor-)Annahmen trugen dazu bei, den Gegenstand zu konstituieren, indem sie einerseits festlegten, was als empirisch interessant zu gelten hatte und diese Phänomene anschließend auf eine bestimmte Weise sichtbar gemacht bzw. zum Sprechen gebracht haben. Empirische Beobachtungen dienten auf der anderen Seite nicht lediglich dazu, Theorien zu verifizieren oder zu falsifizieren. Vielmehr war der Forschungsprozess der Offenheit verpflichtet, womit die empirischen Beobachtungen ihrerseits die theoretischen (Vor-)Annahmen irritieren und eine Anpassung derselben erforderlich machen konnten. Dies brachte beispielsweise die Notwendigkeit der Reformulierung des Politischen als Politisches writ small mit sich (siehe auch Kapitel 3 und 4).
 
46
„Flüchtlingslager“ im globalen Süden bzw. in den angelsächsischen refugee studies werden dagegen häufiger mit Giogio Agambens Konzept des Ausnahmeraums gegengelesen (siehe Abschnitt 2.​1.​3).
 
47
Pieper erweitert dies etwa um den Begriff der „Halboffenheit“, bezeichnet Gemeinschaftsunterkünfte also als „halboffene totale Institution“ (Pieper 2008, S. 356), da ihre Grenzen, d. h. symbolische und physische Barrieren durchlässig sind, Menschen diese Institutionen auch verlassen können und sei es nur, um in das Herkunftsland zurückzukehren oder in die Illegalität abzutauchen. In ähnlicher Weise spricht Kreichauf deshalb auch von „porösen totalen Institutionen“ (Kreichauf 2016, S. 220).
 
Metadata
Title
Einleitung und Kontextualisierung
Author
Melanie Hartmann
Copyright Year
2020
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-32157-4_1