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Open Access 2023 | OriginalPaper | Chapter

6. Fazit

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Zusammenfassung

Das Ziel der vorliegenden Masterarbeit war es, den Einfluss von Einkommensungleichheit, Wohlstand, ethnischer Fraktionalisierung, Vertrauen und des gesellschaftlichen Wertewandels auf das Ausmaß sozialer Probleme (Gewalt, Inhaftierungen, Teenagerschwangerschaften, niedrige schulische Leistungen, niedrige Wahlbeteiligung) zu überprüfen. Ausgangspunkt der Arbeit ist die kontroverse Debatte um Wilkinson und Picketts Spirit Level Theory (2016 [2010]). Sie führt die Betroffenheit wohlhabender Länder von gesundheitlichen und sozialen Problemen auf die Höhe der Einkommensungleichheit zurück.
Das Ziel der vorliegenden Masterarbeit war es, den Einfluss von Einkommensungleichheit, Wohlstand, ethnischer Fraktionalisierung, Vertrauen und des gesellschaftlichen Wertewandels auf das Ausmaß sozialer Probleme (Gewalt, Inhaftierungen, Teenagerschwangerschaften, niedrige schulische Leistungen, niedrige Wahlbeteiligung) zu überprüfen. Ausgangspunkt der Arbeit ist die kontroverse Debatte um Wilkinson und Picketts Spirit Level Theory (2016 [2010]). Sie führt die Betroffenheit wohlhabender Länder von gesundheitlichen und sozialen Problemen auf die Höhe der Einkommensungleichheit zurück. Ihr stark rezipiertes Buch führte zu einer Wiederbelebung der politischen und wissenschaftlichen Diskussion um die Kosten sozialer Ungleichheit, unter anderem wegen ihrer weitgehenden Forderung nach der Gleichverteilung von Einkommen und Wohlstand auf der Grundlage einer empirischen Analyse, die durch starke methodologische Defizite gekennzeichnet ist. Die vorliegende Studienarbeit adressiert die von der Wissenschaftsgemeinde weit diskutierten Probleme (1) ihrer Länderauswahl und der fehlenden Datenbereinigung, (2) ihres Ausblendens weiterer Einflussfaktoren, also der eindimensionalen Versteifung auf einen zentralen Mechanismus sowie (3) das Treffen von Trendaussagen über Veränderungen im Zeitverlauf, ohne diese statistisch angemessen zu modellieren. Außerdem erweitert die vorliegende Studie Wilkinson und Picketts Set untersuchter sozialer Probleme (Gewalt, Inhaftierungen, Teenagerschwangerschaften und niedrigen schulischen Leistungen) um das drängende Problem niedriger Wahlbeteiligung. Durch eine multivariate Aggregatdatenanalyse aus der Quer- und Längsschnittperspektive ist die vorliegende Studie in der Lage, die fünf oben genannten ökonomischen und kulturellen Einflussfaktoren in 40 reichen Ländern über einen Zeitraum von dreißig Jahren gegeneinander zu testen und somit mehr Klarheit in die kontroverse Debatte um Determinanten sozialer Ungleichheit zu schaffen.
Dafür wurden im ersten Schritt die theoretischen Hintergründe der erwarteten Einflussfaktoren erörtert, Hypothesen aufgestellt und der Forschungsstand zusammengetragen. Im zweiten Schritt wurde die Auswahl wohlhabender Länder getroffen, die Einflussfaktoren und sozialen Probleme operationalisiert und daraufhin Aggregatdaten aus 40 wohlhabenden Ländern zwischen 1990 und 2020 aus verschiedenen Datenquellen zusammengetragen. Im dritten Schritt wurden Datenlücken interpoliert und das Länderset von Ausreißern bereinigt. Danach wurden die Daten in einer dreiteiligen Analyse ausgewertet: (1) mittels einfacher ökologischer Korrelationen über den Untersuchungszeitraum hinweg in Anlehnung an Wilkinson und Pickett (ebd.); (2) mittels multivariater gepoolter OLS-Regressionen, um die Einflussfaktoren im Länderquerschnitt gegeneinander zu testen, und (3) mittels multivariater TWFE-Regressionen, um die Effekte im Zeitverlauf zu überprüfen. Damit stellt die vorliegende Studie die aktuellste und umfassendste Überprüfung von Wilkinson und Picketts Erweiterung der Einkommensungleichheitshypothese für soziale Probleme dar.
Es können vier wesentliche Hauptbefunde durch die Studie herausgestellt werden:
1.
Einkommensungleichheit ist ein Prädiktor für bestimmte soziale Probleme. Die vorliegenden Ergebnisse finden jedoch keine empirische Evidenz für den von Wilkinson und Pickett postulierten zentralen Zusammenhang zwischen Einkommensungleichheit und allen gesellschaftlichen Problemen, die durch ein soziales Gefälle charakterisiert sind. Einkommensungleichheit allein stellt sich somit als ungenügender Prädiktor heraus.
 
2.
Vor allem Wohlstand, aber auch die ethnische Fraktionalisierung und das Vertrauenslevel innerhalb reicher Gesellschaften stellen sich als relevante Einflussfaktoren auf das Ausmaß bestimmter sozialer Probleme heraus – auch unabhängig von Effekten der Einkommensungleichheit. Gesellschaftlicher Wohlstand ist dabei die einzige Determinante, welche mit allen untersuchten sozialen Problemen zumindest im Länderquerschnitt signifikant assoziiert ist.
 
3.
Die geschätzten Zusammenhänge zwischen den Einflussfaktoren und sozialen Problemen sind deutlich heterogener als theoriebedingt erwartet. Das zeigt erneut auf, dass eindimensionale Erklärungsansätze nicht ausreichen, um soziale Probleme in reichen Gesellschaften zu erklären. Insbesondere dann, wenn aus den Forschungsergebnissen angemessene politische Implikationen abgeleitet werden sollen, müssen soziale Probleme einzeln betrachtet werden. Diese Kritik betrifft nicht nur Wilkinson und Picketts Spirit Level Theory (ebd.), sondern auch ihre beiden bekanntesten Gegenschriften, welche in ihren eindimensional Ansätzen lediglich Einkommensungleichheit durch Wohlstand (Snowdon, 2010) oder ethnische Fraktionalisierung (Saunders & Evans, 2010) als erklärende Variable ersetzen.
 
4.
Der Vergleich von Längsschnitt- und Querschnittsanalysen zeigt, dass Unterschiede im Ausmaß sozialer Probleme in reichen Ländern besser zu einem konkreten Zeitpunkt als im Zeitverlauf erklärt werden können. Im Längsschnitt zeigen sich deutlich kleinere Effektstärken und weniger Varianzaufklärung als im Querschnitt. Dieser Unterschied deutet darauf hin, dass die Probleme und Einflussfaktoren zwar generell zusammenhängen, eine Veränderung der Determinanten über die Zeit jedoch häufig nicht mit einer Verbesserung bzw. Verschlechterung von sozialen Problemen einhergeht. Entsprechende Trendaussagen, wie sie z. B. Wilkinson und Pickett treffen, sind daher kritisch zu betrachten.
 
Neben der Heterogenität der Forschungsergebnisse stellt sich ein materialistisches Werteklima entgegen der Erwartung als mangelhafter Prädiktor sozialer Probleme heraus. Hier sollte zukünftige Forschung näher untersuchen, ob das Werteklima tatsächlich keine relevante Determinante sozialer Probleme darstellt oder ob das vorliegende Ergebnis Ausdruck einer mangelhaften Operationalisierung ist. Die Heterogenität der Studienergebnisse spiegelt sich in den Antworten auf die fünf aufgestellten Forschungshypothesen wider, welche wie folgt pointiert zusammengefasst werden. Tabelle 6.1 zeigt eine Übersicht ihrer Bewertung.
Tabelle 6.1
Übersicht über die Bewertung der Forschungshypothesen
 
Gewalt
Inhaftierungen
Teenager-
mütter
Schulische
Leistungen
Wahl-
beteiligung
QS
LS
QS
LS
QS
LS
QS
LS
QS
LS
H1 (Einkommensungleichheit)
 
     
(✓)1
H2 (Wohlstand)
(✓)1
 
(✓)1
 
(✓)1, 2
 
H3 (Ethnische Fraktionalisierung)
 
 
     
H4 (Vertrauen)
   
  
H5 (materialistisches Werteklima)
  
       
Anmerkung: ✓ = Annahme, „Leerstelle“ = Ablehnung, (✓) = Annahme unter bestimmten Ausnahmen: 1 = Ablehnung unter Kontrolle auf Vertrauen, 2 = Ablehnung unter Kontrolle auf Werteklima, QS = Querschnitt, LS = Längsschnitt.
Quelle: Eigene Darstellung.
Die Ergebnisse zeigen, dass höhere Einkommensungleichheit in reichen Ländern unabhängig von Wohlstand lediglich mit einem stärkeren Ausmaß an Gewalt, Inhaftierungen und niedriger Wahlbeteiligung einhergeht (Hypothese 1). Nur für die Wahlbeteiligung zeigt sich dieser Effekt auch im Zeitverlauf. In Bezug auf Hypothese 2 zeigen die Resultate im Querschnitt, dass wohlhabendere Länder unabhängig von ihrer Einkommensungleichheit von allen untersuchten Problemen in einem geringeren Ausmaß betroffen sind. Im Längsschnitt bestehen diese Zusammenhänge nur in Bezug auf Gewalt und Inhaftierungen. Auffällig ist, dass Hypothese 1 und Hypothese 2 an einzelnen Stellen abgelehnt werden muss, wenn zusätzlich auf das Vertrauen oder das Werteklima kontrolliert wurde. Aus den Resultaten der Querschnittsanalyse geht hervor, dass reiche Länder mit höherer ethnischer Fraktionalisierung unabhängig von ihrer Einkommensungleichheit und ihrem Wohlstand in einem höheren Ausmaß von Gewalt, Inhaftierungen und Teenagerschwangerschaften betroffen sind (Hypothese 3). Entgegen der Annahme zeigen die Ergebnisse im Längsschnitt, dass die Erhöhung der ethnischen Fraktionalisierung in reichen Ländern mit einer Erhöhung der Wahlbeteiligung einhergeht. Weitere Längsschnitteffekte konnten nicht gefunden werden. In Bezug auf Hypothese 4 stellen die Ergebnisse heraus, dass reiche Gesellschaften mit einem höheren Vertrauenslevel ceteris paribus H3 weniger stark von niedrigen schulischen Leistungen und niedriger Wahlbeteiligungen betroffen sind. Ein entsprechender Einfluss auf die Zahl der Inhaftierungen konnte ausschließlich im Längsschnitt festgestellt werden. Im Querschnitt ist dieser Effekt unter der Kontrolle auf Wohlstand und Einkommensungleichheit insignifikant. Zuletzt zeigen die Ergebnisse vor dem Hintergrund der fünften Forschungshypothese, dass Gesellschaften mit einem materialistischeren Werteklima ceteris paribus H3 lediglich von einer höheren Anzahl von Inhaftierungen betroffen sind. Für alle übrigen untersuchten Probleme konnten keine signifikanten Zusammenhänge festgestellt werden. Vor diesem Hintergrund kann die übergeordnete Fragestellung nach dem Einfluss der fünf relevanten Faktoren auf das Ausmaß sozialer Probleme in reichen Ländern wie folgt beantwortet werden:
1.
Es findet sich kein Beleg für einen zentralen Erklärungsmechanismus für das Ausmaß sozialer Probleme in reichen Ländern, wie ihn die Spirit Level Theory postuliert.
 
2.
Verschiedene Determinanten beeinflussen bestimmte soziale Probleme unterschiedlich stark. Dabei scheint Wohlstand nach wie vor der stärkste Prädiktor zu sein.
 
3.
Die Analyse zeitlicher Veränderungen konnte nur wenige und drüber hinaus deutlich schwächere Effekte der fünf Faktoren feststellen, was darauf hinweist, dass Determinanten und Probleme zwar zusammenhängen, sich jedoch nicht gegenseitig bedingen.
 
Zusammengefasst lässt sich also festhalten, dass Wilkinson und Picketts Spirit Level Theory den Einfluss von Einkommensungleichheit auf das Ausmaß sozialer Probleme stark überschätzt. In diesem Kontext muss auch ihrer Schlussfolgerung, dass der Schlüssel zur Bewältigung sozialer Probleme in erster Linie die Um- bzw. Gleichverteilung von Einkommen und Wohlstand sei, widersprochen werden. Stattdessen ergeben sich aus den vorliegende Studienergebnissen zwei konkrete politische Maßnahmen: Zunächst scheint die Steigerung des wirtschaftlichen Wohlstands nach wie vor ein angemessenes Instrument zu sein, um verschiedenen sozialen Problemen gleichzeitig entgegenzuwirken. Zudem erfordern konkreterer Problemstellungen das Ergreifen konkreter Maßnahmen, beispielsweise sinkt die Wahlbeteiligung mit dem Anstieg der Einkommensungleichheit. Ist das konkrete Ziel also die Stärkung der Demokratie (durch eine Erhöhung der Wahlbeteiligung), scheinen Maßnahmen zum Abbau von Einkommensungleichheit und zur Steigerung des Vertrauens gewinnbringender zu sein als die bloße Vermehrung des wirtschaftlichen Wohlstands.
Im Kontext der wissenschaftlichen Debatte um Trends und Determinanten sozialer Probleme in reichen Ländern zeigt die vorliegende Studie, wie durch die Verbesserung der Datenlage und Analyseverfahren genauere Ergebnisse erzielt werden können. Zukünftige Arbeiten sollten aufgrund der gegebenen Möglichkeiten nicht auf eindimensionalen Erklärungsansätzen verharren, sondern ihre Hypothesen stets gegen weitere mögliche Einflussfaktoren testen.
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Metadata
Title
Fazit
Author
Marcus Gercke
Copyright Year
2023
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-39865-1_6