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24-06-2016 | Finanzbranche | Nachricht | Article

Wirtschaft ächzt nach Brexit-Votum

Author: Eva-Susanne Krah

6:30 min reading time

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Großbritannien hat für den Austritt aus der Europäischen Union gestimmt. Die Finanzmärkte und die internationale Wirtschaft stürzt die historische Entscheidung in Turbulenzen. Meinungen, Einschätzungen und Reaktionen zum Brexit-Votum.

Die Finanzwelt reagiert geschockt auf die Entscheidung des britischen Volkes, die Europäische Union (EU) nach 43 Jahren zu verlassen. Die Unsicherheit ist groß, das zeigt sich an den internationalen Börsen, die in Ostasien, Australien und Europa unter Druck stehen. Der Aktienindex Dax gibt zwischenzeitlich um zehn Prozent nach, der größte Kurssturz seit Ausbruch der Finanzkrise im Jahr 2008. Zu den größten Verlierern zählten die Aktien der Deutschen Bank und der Commerzbank.

Die Londoner Börse startete laut der Tageszeitung "Die Welt" mit einem deutlichen Minus von 7,5 Prozent, am Börsenplatz Paris waren es knapp acht Prozent. Die Betreiber der Deutschen Börse und der London Stock Exchange (LSE), die derzeit über eine geplante Fusion verhandeln, sehen keine Auswirkungen des Brexit auf das Projekt.

Joachim Faber, Aufsichtsratsvorsitzender der Deutschen Börse, sagte: "Wir sind davon überzeugt, dass der beabsichtigte Zusammenschluss von Deutsche Börse und London Stock Exchange durch das Abstimmungsergebnis eine noch höhere Bedeutung für unsere Kunden bekommen hat und sowohl für unsere Aktionäre als auch weitere Stakeholder Vorteile bringen wird.“ Donald Brydon, Chairman der LSE und designierter Chairman der zusammengeschlossenen Gruppe, schließt sich an: "Ich freue mich darauf, mit meinen neuen Kollegen an diesem für den Sektor sehr relevanten Zusammenschluss zu arbeiten, durch den eine führende globale, in Europa verankerte Marktinfrastrukturanbietergruppe entsteht.“

Britische Währung stürzt ab

Nach Bekanntwerden der Entscheidung am frühen Morgen fiel das britische Pfund auf seinen niedrigsten Kurs seit 30 Jahren. Die Ratingagentur Standard & Poors will mit einer Abwertung Großbritanniens reagieren. Das Land könnte damit seinen AAA-Status verlieren. Die Notenbanken, insbesondere die Bank of England, haben sich für den Brexit-Fall schon vor der Abstimmung mit zusätzlichen Geldreserven ausgestattet, um für Marktverwerfungen und den voraussichtlich steigenden Liquiditätsbedarf der heimischen Bankhäuser gewappnet zu sein.

Banken und Verbände sind besorgt

Die Finanzexperten großer Banken und Branchenverbände in Deutschland betrachten den Austritt der Briten aus der Eurozone mit Betroffenheit und Sorge. Sie glauben aber in der Mehrzahl, dass sich die Finanzmärkte nach einer ersten Schockphase wieder erholen werden.

Hans-Walter Peters, Präsident des Bundesverbandes deutscher Banken (BdB) und Sprecher der persönlich haftenden Gesellschafter der Privatbank Berenberg, kommentiert zum Brexit: "Es ist ein schwarzer Tag für das Vereinigte Königreich." Peters glaubt, dass sich die Lage an den Finanzmärkten nach dem ersten Schock jedoch rasch beruhigen dürfte. Die Notenbanken hätten zudem alle erforderlichen Vorkehrungen getroffen, um stabilisierend eingreifen zu können.

Uwe Fröhlich, Präsident des Bundesverband der Deutschen Volksbanken und Raiffeisenbanken (BVR), sagt, der EU-Austritt widerspreche der wirtschaftlichen Vernunft. "Er dürfte vor allem für die britischen Bürger langfristig mit erheblichen Nachteilen verbunden sein", so Fröhlich.

Georg Fahrenschon, Präsident des Deutschen Sparkassen- und Giroverbands (DSGV), warnt: "Das war ein Votum gegen ein Europa der unbeschränkten Vereinheitlichung." Er fordert eine breite politische Debatte über die Aufgabenteilung in der Europäischen Union. "Vereinheitlichung und Vergemeinschaftung" hätten als Standardlösungen ausgedient.

Otmar Lang, Chefvolkswirt der Targobank, sieht die EU insgesamt schwer beschädigt. Das größte Risiko droht aus seiner Sicht, wenn auf den Austritt weiterer Länder aus der Staatengemeinschaft oder der Währungsunion spekuliert würde. "In diesem Fall könnten an den südeuropäischen Börsen die Aktienkurse tief fallen und die Renditen stark steigen", meint Lang. Für den deutschen Finanzmarkt wären seiner Meinung nach negative Renditen die Folge: "Es ist die Frage, inwieweit die Europäische Zentralbank (EZB) hier etwas abfedern kann. Wir sind da skeptisch."

Solche wirtschaftspolitischen Gegenmaßnahmen seitens der Zentralbanken könnten aus Sicht der Vermögensverwalter von Erste Asset Management zwar die negativen Folgewirkungen mildern, aber nicht komplett abfedern.

Mit Blick auf die Kapitalmärkte merken die Experten bei Vontobel Asset Management an, dass sich die Anleger nach einer zunächst turbulenten Phase wieder auf das internationale Wachstum, die Geldpolitik und die Aussichten bei der Entwicklung der Unternehmensgewinne konzentrieren dürften.

Brexit-Konsequenzen für die Wirtschaft

Der Austritt Großbritanniens wird sich massiv auf verschiedene Bereiche der Wirtschaft auswirken, beispielsweise auf Private-Equity (PE)-Unternehmen. Die Stimmung im Markt sei schon in den vergangenen Monaten gedämpft gewesen. "Manche PE-Investoren haben explizit potenzielle UK-Deals auf Eis gelegt", beobachtet Jan Schinköth, Partner im Bereich Private Equity bei DLA Piper. Er befürchtet, dass sich das Investitionsklima im gesamten Euroraum vorerst weiter abkühlen wird, bis die politischen und ökonomischen Auswirkungen absehbar sind und neues Vertrauen im Markt wächst. 

Ulrich Kater, Chefvolkswirt der Deka Bank: "Unternehmen und Finanzmärkte werden als erste daran gehen, die Nach-Brexit-Welt umzugestalten. Diese Neuausstattung ist teuer: Wir rechnen mit einer Rezession im Vereinigten Königreich und einer konjunkturellen Delle im Euroland.“ Wie tief die Konjunkturdelle wird, könne man erst in zwei bis drei Monaten abschätzen. 

Die Debatte über die Konstruktionsfehler der Gemeinschaft (...) hat überschattet, welche Vorteile vor allem die Briten in der EU genießen und was es sie kosten wird, zum Beispiel auf den gemeinsamen Binnenmarkt zu verzichten." Professor Lüder Gerken, Vorstandsvorsitzender des Centrum für Europäische Politik (Cep)

Professor Lüder Gerken, Vorstandsvorsitzender des Centrum für Europäische Politik (Cep), sieht im Brexit-Ergebnis einen Warnschuss für Europa. Die Debatte über die Konstruktionsfehler der Gemeinschaft, etwa die unvollendete Wirtschaftsunion und schwache Rechtsdurchsetzung, habe "überschattet, welche Vorteile vor allem die Briten in der EU genießen und was es sie kosten werde, zum Beispiel auf den gemeinsamen Binnenmarkt zu verzichten."


Springer-Autor Professor Daniel Schallmo vom Institut für Business Model Innovation (IfBMI) bezeichnet den Brexit für die europäische Idee als bedauerlich. Die Entscheidung der Briten werde einerseits sowohl für die eigenen, als auch für deutsche  Unternehmen Risiken hervorrufen. Andererseits werden sich aber auch Chancen eröffnen, die heute noch nicht abschätzbar seien. "In jedem Fall ist eine Veränderung des Geschäftsmodells von Unternehmen notwendig“, rät Schallmo. 

Der Marketing- und Medienexperte Thomas Koch glaubt an eine gewachsene Bedeutung bestimmter Zielgruppen in der Wirtschaft durch das Austrittsvotum. "Der Brexit macht für Marketers eines deutlich: Die über 50-Jährigen entschieden heute über die Zukunft der unter 50-Jährigen. Die alleinige Konzentration auf die Zielgruppe der 20 bis 49-Jährigen erweist sich als falscher denn je. Die Silver Surfers entscheiden über die Märkte", prognostiziert Koch.

Auswirkungen auf Fintechs

Simon Black, CEO, PPRO Group, beurteilt die Folgen des britischen Votums für die Fintech-Branche. "Angeführt vom Finanzplatz London ist Großbritannien in den letzten Jahren zu einem globalen Zentrum für Finanztechnologie-Innovationen geworden. Mit geschätzten 500 Fintech-Unternehmen im Land werden dem Staat durch den Brexit in den nächsten zehn Jahren rund fünf Milliarden Britische Pfund an Steuereinnahmen verloren entgehen", sagte er. Grund hierfür sei die Abwanderung der Fintech-Unternehmen.

London als ein weltweiter Finanzplatz kombiniert mit den spezifischen regulatorischen Vorteilen Großbritanniens sowie die gut ausgebildeten Fachkräfte in diesem Bereich hätten das Land bisher zu einem Wunschstandort sowohl für europäisch tätige als auch weltweit agierende Unternehmen gemacht. Da deren Status als von der EU und dem Wirtschaftsraum anerkannte Finanzinstitutionen nun gefährdet ist, werden diese Unternehmen nicht bis zum Abschluss von Handelsabkommen warten. "Sie dürften sofort damit beginnen, zumindest Teile ihres Geschäfts in andere Länder der Europäischen Union auszulagern", glaubt Black. 

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