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2008 | Book

Führen Regierungen tatsächlich?

Zur Praxis gouvernementalen Handelns

Editors: Everhard Holtmann, Prof. Dr., Werner J. Patzelt, Prof. Dr.

Publisher: VS Verlag für Sozialwissenschaften

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Table of Contents

Frontmatter
De. Einleitung: Entscheiden unter Bedingungen von Unsicherheit — Zur Reichweite von institutionell basierter politischer Führung
Auszug
Wenn die Rede von „politischer Führung“ ist, mutet dieser Sprachgebrauch auf den ersten Blick beinahe altmodisch, ja anachronistisch an. Mit dem Terminus „Führen“ wird im allgemeinen Sprachgebrauch häufig eine Art von Durchsetzungsanspruch assoziiert, welcher zu Lasten des Rechts mündiger Bürger geht, innerhalb staatlich verfasster Kommunitäten über öffentliche Angelegenheiten frei und gleichberechtigt selbst bestimmen zu können. „Führen“ meint „vorgeben“ und „anweisen“ oder „verordnen“. Politische Führung beschreibt demnach, so scheint es, ein Attribut obrigkeitlicher Herrschaft, das mit den Prinzipien egalitärer Selbst-bestimmung moderner ziviler Gesellschaften im Grunde unverträglich ist.
Everhard Holtmann
De. Governance- und Managementkonzepte des Regierens
Auszug
Governance und Management sind beides: Begriffe der Wissenschaft und Begriffe der wissenschaftlich inspirierten Praxis. Management ist ein etablierter Wissenschaftsgegenstand, im deutschsprachigen Raum insbesondere der Betriebwirtschaftslehre. Welche Wissenschaftsansprüche die Managementbewegung von Anfang an begleiten, belegt die Formel vom „Scientific Management“ (vgl. Taylor 1915). Der Managerialismus ist deswegen vielfach kritisiert worden, etwa die Managementprinzipien als „Proverbs of Administration“ (vgl. Simon 1946: 53 ff.). Aber bis zum heutigen Tage sind Modelle wie „Lean Management“ oder „Total Quality Management“ vom Rationalitätsverständnis einer wissenschaftlichen Zivilisation geprägt. Der Governancebegriff ist im Wissenschaftsbereich — sieht man von einem Vorlauf ab (vgl. Neumann 1980) — durch die Transaktionskostenökonomie eingeführt worden (vgl. Williamson 1979: 233 ff.). Es war dann gerade die Institutionenökonomik, die das Good Governance-Konzept der Weltbank intellektuell anregte (vgl. Theobald 2000). Insbesondere der Weltbankbericht „Governance and Development“ (vgl. World Bank 1992) und das breite Konzept der Commission on Global Governance „Our Global Neighbourhood“ (vgl. Commission on Global Governance 1995) haben Governance zu einem Leitbegriff der Weltpolitik, vor allem der Entwicklungs- und Transformationspolitik gemacht (vgl. König 2002).
Klaus König
De. Politische Führung und Vetospieler: Einschränkungen exekutiver Regierungsmacht
Auszug
In modernen Demokratien scheint sich ein Bild abzuzeichnen, das den Erfolg dieses Systemtyps der Herrschaftsausübung immer mehr vom Vorhandensein „politischer Führung“ abhängig macht. Sei es die Lösung innerstaatlicher Probleme, wie sie z.B. durch die Herausforderungen des Umbaus des Sozialstaates oder seien es grenzüberschreitende Probleme, die einer transnationalen Lösung bedürfen: political leadership, Führungsstärke und Durchsetzungsfähigkeit werden sowohl seitens der medialen Berichterstattung12 als auch von den Bürgern und Bürgerinnen für besonders wichtig gehalten. Adressat entsprechender Forderungen ist in der Regel die jeweilige nationale Regierung. Doch um ihnen gerecht zu werden, bedarf es einerseits bestimmter Ressourcen, andererseits scheinen Regierungen durch verschiedenste Restriktionen an einem effektiven Handeln gehindert zu werden. In westlichen Demokratien wird diese Führungserwartung sowohl an individuelle Akteure —seien es Staatspräsidenten in präsidentiellen oder Premierminister in parlamentarischen Systemen — als auch an kollektive Akteure, nämlich die Regierungen als Führungsinstitution bzw. die in der Regierungsverantwortung stehenden Parteien, herangetragen.
Michael Stoiber
De. Die Praxis regierungsförmiger Steuerung
Auszug
Grundlage der Regierungssteuerung ist das strategische Regierungshandeln. Im Zentrum dieses Handelns steht die Erreichung materieller Politikziele als Lösung von Problemen. Um ein solches Politikziel zu erreichen, bedarf es der politischen Entscheidung (vgl. Korte/ Fröhlich 2006: 23ff.). Sie stellt im allgemeinsten Sinne einen intentionalen (absichtsvollen) Vorgang dar, das heißt die Auswahl einer Handlung aus mehreren Möglichkeiten. Auch die Nichtentscheidung — also der Verzicht auf bzw. das Verhindern einer Entscheidung — ist eine mögliche Handlungsoption. Politische Akteure treffen ihre Entscheidungen nach einem mehrstufigen Prozess der Informationsverarbeitung. Will man verstehen, warum Akteure welche Entscheidung treffen, muss vor allem dieser Prozess betrachtet werden: Wie kommen Entscheidungen im Rahmen der Interaktion zwischen den am politischen Prozess beteiligten Akteuren zustande und wer ist beteiligt? Dass sich dieser Prozess nachvollziehen lässt, ist auch für die Legitimität staatlicher Autorität (wie etwa der Regierung) von Bedeutung.
Karl-Rudolf Korte
De. Die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers — kein Phantom?
Auszug
Das Regieren in der Bundesrepublik Deutschland folgt auf der Ebene der Bundespolitik einer Handlungslogik, die sich, einem geläufigen Erklärungsmuster der Politikwissenschaft zufolge, als „Kanzlerdemokratie“ beschreiben lässt. Der bekannten Modellierung von Karlheinz Niclauß folgend, weist das kanzlerdemokratische Muster des Regierens folgende typenbildende Merkmale auf: Des Kanzlers führende Stellung ist in Kabinett und Bevölkerung gleichermaßen anerkannt. Seine Partei steht einmütig hinter ihm. Der Kanzler ist gleichzeitig Vorsitzender der Regierungspartei. Innerhalb des Kabinetts sowie gegenüber mächtigen Interessengruppen weiß er sich nachhaltig durchzusetzen. Es gelingt ihm, etwaige gegenläufige Bundesratsmehrheiten in von ihm verantwortete Mehrheitsentscheidungen einzubinden. Er agiert wirkungsvoll auf der außenpolitischen Bühne. Die Personalisierung des Politischen macht Bundestagswahlen zu quasi-plebiszitären Abstimmungen über den künftigen Kanzler und sichert diesem eine gleichsam direktdemokratisch abgestützte persönliche Legitimation (vgl. zuletzt Niclauß 2004: 68 ff.; zur Einordnung der Kanzlerschaft Gerhard Schröders siehe Patzelt 2004, inbes. 295 ff.).
Everhard Holtmann
De. Richtlinienkompetenz (hierarchische Führung) oder demokratische politische Führung? Antwort an Everhard Holtmann
Auszug
Ist die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers nur ein Phantom? So fragt Everhard Holtmann in seinem Beitrag in diesem Sammelband. Die Antwort ist klar: Die Richtlinienkompetenz des Kanzlers ist keineswegs nur ein Phantom. Sie existiert real. Das Recht des Kanzlers, allein (autonom) über die Richtlinien der Politik zu entscheiden, ist grundgesetzlich verbürgt (Art. 65 GG).
Eberhard Schuett-Wetschky
De. Regieren mit und ohne Richtlinienkompetenz — Handlungsspielräume der Bundeskanzler in Deutschland und Österreich
Auszug
Führen Regierungen wirklich? Die Frage thematisiert einen Kernbereich politikwissenschaftlicher Forschung: Wie wird unter den Herausforderungen moderner Staatsaufgaben das Geschäft der Lenkung, Führung und Koordination eines Gemeinwesens besorgt? Die Frage nach den Bedingungen des Regierens, die Wilhelm Hennis für die deutsche Politikwissenschaft bereits in den 60er Jahren aufwarf62, hat angesichts des sich vollziehenden Formwandels von Staatlichkeit (Benz 2004; Mayntz 2004) zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht an Bedeutung für die politikwissenschaftliche Forschung, insbesondere für die Regierungslehre, eingebüßt. In die Sprache der Governanceforschung übertragen, stellt sich heute die Frage, wie der Staat angesichts der gewachsenen Bedeutung von Verhandlungssystemen Interdependenzen managt. Der folgende Beitrag greift einen Aspekt dieser umfassenden Leitfrage heraus: Wie werden Regierungen geführt? Im Mittelpunkt des Interesses steht die Analyse der Rolle der Regierungschefs als wichtige Akteure der Steuerung und Koordination der Regierung. Für Deutschland und Österreich wird untersucht, welche Handlungsspielräume die Bundeskanzler in beiden Ländern besitzen. Die Analyse der Rolle beider Kanzler ist deshalb interessant, weil ihre Handlungsspielräume extrem unterschiedlich eingeschätzt werden. Während der deutsche Bundeskanzler als starker Regierungschef gilt, wird sein österreichischer Amtskollege lediglich als kleiner schwacher Bruder taxiert. Begründet wird diese Einschätzung häufig damit, dass der Bundeskanzler in Berlin über das steuerungsmächtige Instrument der Richtlinienkompetenz verfüge, während sein alter ego in Wien lediglich einen Primus inter pares darstelle.
Stephan BrÖchler
De. Verwaltungskultur in der Ministerialbürokratie. Ein empirischer Essay
Auszug
Warum ist die Analyse von Verwaltungen, von Verwaltungshandeln und von Verwaltungskulturen nicht nur aufgrund der faktischen Bedeutung dieser Gegenstände notwendig, sondern auch intellektuell sehr bereichernd und politikwissenschaftlich höchst inspirierend? Das soll im Folgenden anhand des Begriffs der ‚Verwaltungskultur‘ plausibel gemacht und anhand einer Skizze der Merkmale, Gestaltungsmöglichkeiten und kulturellen Variationen von Ministerialverwaltung vor Augen geführt werden. Insgesamt nehmen die Ausführungen die Gestalt eines ‚empirischen Essays‘ an (vgl. Greven 1987): Befunde und Einsichten empirischer Verwaltungsforschung werden aufgegriffen und argumentativ verarbeitet, doch nicht erst einmal auf der Faktenebene vor Augen geführt.
Werner J. Patzelt
De. Richtlinienkompetenz und Governance: Regierungsführung in Hamburg 2001–2006
Auszug
Welches Gewicht Institutionen und insbesondere die verfassungsrechtlichen Regelungen für die Regierungsführung haben, ist in der Politikwissenschaft umstritten. Verfassungsreformen und die mit ihnen verbundenen Hoffnungen auf Veränderungen der „Regierbarkeit“ verweisen darauf, dass bei den politischen Akteuren und in der Öffentlichkeit die Perspektive überwiegt, dass unterschiedliche verfassungsrechtliche Amtsausstattungen dem Kanzler bzw. Ministerpräsidenten real mehr oder weniger Macht verleihen. Besonderes Augenmerk hat dabei immer wieder die Richtlinienkompetenz gefunden, deren Relevanz in der Politikwissenschaft eher skeptisch betrachtet wird (Schuett-Wetschky 2003, 2004), während sie in der öffentlichen Wahrnehmung zum Symbol für die Hoffnung auf entschiedenes Regieren geworden ist. Noch 1996 wurde in Hamburg eine Verfassungsreform verabschiedet, in der die Richtlinienkompetenz des Ersten Bürgermeisters eingeführt sowie die Bestellung des Bürgermeisters und der Senatoren neu geregelt wurde. Ziel war es, das Amt des Bürgermeisters so zu stärken, dass die Regierungsfähigkeit in der Hansestadt verbessert wurde. Die nach dieser Verfassungsreform sich entwickelnde Regierungspraxis soll hier unter der Fragestellung untersucht werden, welche Bedeutung den durch Verfassungsrecht begründeten Institutionen im Verhältnis zu institutionalisierten Regeln der Interaktion innerhalb der Regierungsmehrheit zukommt. Auch die bei Analysen zur Regierungsführung stets relevante Frage nach der Bedeutung des politischen Stils des Regierungschefs soll dabei einbezogen werden.
Julia von Blumenthal
De. Nur zweite Reihe? — Staat und Regierung in der Global Governance of Water
Auszug
Die Versorgung mit Wasser und die Entsorgung von Wasser ist ein klassischer Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge. Explizit zählt Ernst Forsthoff in seiner Begründung der modernen Leistungsverwaltung eine öffentliche Wasserversorgung zu den „Veranstaltungen, welche zur Befriedigung des Appropriationsbedürfnisses getroffen werden“ (Forsthoff 1938: 6) müssen. Der Mensch der Massengesellschaft, der sein Wasser nicht mehr selbst aus dem Brunnen schöpfen kann, sei „auf eine öffentliche ‚Wasserversorgung‘ angewiesen, eine öffentliche Verwaltungseinrichtung, auf deren Funktionieren er sich verlassen können muß“ (Forsthoff 1938: 7). Manche Autoren haben die umfassenden und langfristigen technischen und politischen Anforderungen, die mit einer gerechten und dauerhaften Bereitstellung und Verteilung von Trinkwasser verbunden sind, gar als Entstehungsgrund der politischen Organisation im Staat identifiziert (Herzog 1988: 175; Berber 1955: 3). Auch Artikel 25 der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, der jedem das Recht auf individuelles Wohl und einen gesunden Lebensstandard zuspricht, impliziert eine öffentliche Verantwortung für eine ausreichende Versorgung mit dem lebenswichtigsten Gut. Gemeinwohl und Eigennutz treffen sich in der Überlegung, dass eine flächendeckende Versorgung mit Wasser nicht an die Zahlungsfähigkeit der individuellen Nutzer gekoppelt, sondern öffentlich gewährleistet sein sollte: Ein Nachbar ohne Strom ist bedauernswert, ein Nachbar ohne Wasser bald eine Gefahr.
Petra Dobner
De. Exekutive Prärogative vs. parlamentarische war powers — Gouvernementale Handlungsspielräume in der militärischen Sicherheitspolitik
Auszug
In einer Entscheidung aus dem Jahre 2001 argumentiert das Bundesverfassungsgericht: „Das Grundgesetz hat in Anknüpfung an die traditionelle Staatsauffassung der Regierung im Bereich auswärtiger Politik einen weit bemessenen Spielraum zu eigenverantwortlicher Aufgabenwahrnehmung überlassen“. Damit spielt das höchste deutsche Gericht auf die „Auffassung“ an, die Außenpolitik, vor allem die militärische Sicherheitspolitik, müsse weitgehend der Regierung überlassen bleiben — eine Idee, die in Frankreichs gaullistischem Staatsverständnis als präsidentielle domaine reservée, in Großbritannien und dem Commonwealth als royal prerogative und in den USA als executive privilege bezeichnet wird. Demzufolge obliegt es den Staatsoberhäuptern und Spitzen der Exekutive als Vertretern der „Staatsraison“, mit rationalen und klugen Entscheidungen die Existenzsicherung und -er- haltung des Staates zu gewährleisten. Zum Kernbereich gouvernementaler Außenpolitik gehören auf jeden Fall der militärische Oberbefehl sowie die Entscheidung über den Einsatz von Soldaten.
Sandra Dieterich, Hartwig Hummel, Stefan Marschall
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Metadata
Title
Führen Regierungen tatsächlich?
Editors
Everhard Holtmann, Prof. Dr.
Werner J. Patzelt, Prof. Dr.
Copyright Year
2008
Publisher
VS Verlag für Sozialwissenschaften
Electronic ISBN
978-3-531-90825-0
Print ISBN
978-3-531-15229-5
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-531-90825-0