Skip to main content
Top

2005 | Book

Integrationspotenziale einer modernen Gesellschaft

Editors: Wilhelm Heitmeyer, Peter Imbusch

Publisher: VS Verlag für Sozialwissenschaften

Book Series : Analysen zu gesellschaftlicher Integration und Desintegration

insite
SEARCH

Table of Contents

Frontmatter

Integration als zentrales Problem moderner Gesellschaften

Frontmatter
Integration und Desintegration in modernen Gesellschaften
Zusammenfassung
Moderne arbeitsteilige Gesellschaften, auf einer kapitalistischen Ökonomie beruhend und repräsentativ-demokratisch verfasst, sind ein historisches Erfolgsmodell. Alle anderen Gesellschaftstypen, angefangen von archaischen Stammesgesellschaften bis hin zu komplexen nicht-demokratischen Gesellschaften sozialistischer oder kapitalistischer Prägung, sind historisch und global gesehen im Rückzug. Was also soll an einem derartigen Erfolgsmodell problematisch sein, sieht man von der Möglichkeit und auch Realität zwischenstaatlicher Kriege, Bürgerkriege und Sezessionen ab? Aber auch jenseits solcher Extremsituationen, in denen der physische oder politisch-institutionelle Bestand von Gesellschaften in Frage steht, bleibt die Integration von Gesellschaften prekär. Ein Blick in die Geschichte lehrt, dass gesellschaftliche Integration auch in Phasen eines relativ stabilen Zustandes nicht einfach gegeben ist, sondern fortlaufend „hergestellt“ werden muss. Gesellschaft beruht insofern immer auf einer voraussetzungsreichen Reproduktionsleistung. Entsprechend lautet auch die Kernfrage der klassischen Soziologie „Wie ist Gesellschaft möglich?“ (Simmel 1908).
Peter Imbusch, Dieter Rucht

Integration — Desintegration — Anerkennung

Frontmatter
Desintegration, Anerkennungsbilanzen und die Rolle sozialer Vergleichsprozesse für unterschiedliche Verarbeitungsmuster
Zusammenfassung
Erklärungsgegenstand des Bielefelder Desintegrationsansatzes sind die verschiedenartigen Phänomene der Gewalt(-kriminalität), des Rechtsextremismus, der ethnisch-kulturellen Konflikte und der Abwertung und Abwehr schwacher Gruppen. Sie können unter einer konflikttheoretischen Perspektive als je spezifische, problematische Verarbeitungsmuster individueller bzw. sozialer Desintegrationszustände gesehen werden. Desintegration markiert die nicht eingelösten Leistungen von gesellschaftlichen Institutionen und Gemeinschaften, existentielle Grundlagen, soziale Anerkennung und persönliche Integrität zu sichern. Der Desintegrationsansatz erklärt also die Entstehung der oben genannten Phänomene mit ungenügenden Integrationsleistungen einer Gesellschaft.
Reimund Anhut, Wilhelm Heitmeyer
Anerkennung
Zusammenfassung
Soweit sich die Etymologie des Begriffs anhand einschlägiger Wörterbücher zurückverfolgen lässt, entwickelte sich das Wort ‚anerkennen‘ im 16. Jahrhundert aus dem Wort‚erkennen‘ (Kluge 1989). ‚Erkennen‘ ist zunächst gebräuchlich in den Bedeutungen von erstens , durch die Sinne wahrnehmen‘ („Ich kann die Buchstaben nicht erkennen.“), zweitens , durch Vergleich unterscheiden und wieder erkennen‘ („Ich erkenne es deutlich wieder.“), drittens ‚durch Analyse herausfinden und einsehen‘ („Ich erkenne die Zusammenhänge.“), viertens , durch richterliche Gewalt entschieden‘ („Das Gericht erkennt den Angeklagten für schuldig.“).1 In der Bedeutung von , durch Kenntnis von der Wahrheit eines Sachverhalts überzeugt sein ‘geht „erkennen“ in die Bedeutung von „anerkennen“ über („Du erkennst meine Liebe nicht“) und hat schließlich die volle Bedeutung von „anerkennen“, wenn beispielsweise Friedrich Schiller Frießhardt in Wilhelm Tell sagen lässt: „Des Landvogts oberherrliche Gewalt; Verachtet er und will sie nicht erkennen“ (1965: 977). Nach Jahren der knechtischen Unterdrückung der Landleute durch die Vögte Kaiser Albrechts, eskaliert mit Frieß-hardts Anklage ein Konflikt um Anerkennung. Besonders die Landleute aus Schwyz und Uri waren der unerträglichen Willkür des Landvogts Geßlers ausgeliefert, die nur einen Höhepunkt in dessen Erlass fand, jeder Vorbeikommende möge einen auf dem Markt zu Altdorf an einer Stange befestigten Hut grüßen, um seiner Achtung und Ehrerbietung für ihn Ausdruck zu verleihen.
Peter Sitzer, Christine Wiezorek
Die zwei Seiten der Anerkennung — Geschlechtergerechtigkeit und die Pluralisierung sozialer Wertschätzung
Zusammenfassung
„Ich bin nicht gleich, ich bin anders!“ - mit diesem bemerkenswerten Slogan wirbt ein Afroamerikaner für die hoch preisige Kollektion eines exklusiven Herrenausstatters. Der Slogan selbst verweist unmittelbar auf eine Kontroverse, die Sozialtheoretiker und politische Philosophinnen mit Verve austragen. Im Umfeld der Diskussionen um die multikulturelle Gesellschaft wird die These vertreten, dass die politischen Kämpfe der Frauenbewegung, der lesbischen bzw. schwulen community und diverser ethnischer Gruppierungen für einen neuen Typus gesellschaftlicher Konflikte stehen. Neu, so Hirschman (1994) oder auch Taylor (1993), sind diese Konflikte deshalb, weil die genannten Gruppen nicht oder nicht mehr um Verteilungsgerechtigkeit und Gleichheit, sondern gegen kulturelle Stigmatisierung und für die Anerkennung von Differenz kämpfen. Diese neuen gesellschaftlichen Konflikte entzünden sich an Formen der Missachtung, die ihre Wurzeln im strukturellen Gefüge hochmoderner Gesellschaften haben, die ihrerseits auf der normativ-kulturellen Ebene ausschließlich auf die idealisierten Eigenschaften des männlichen, weißen, heterosexuellen Bürgers zugeschnitten sind. Der emanzipatorische Kampf der Frauenbewegung, ethnischer Minderheiten oder Homosexueller gilt der Überwindung dieser a-symmetrischen Anerkennungsordnung mit dem Ziel, gesellschaftliche Anerkennung der je eigenen Traditionen, Zugehörigkeiten, Lebenspraktiken und Identitäten zu erringen.
Gabriele Wagner
Anerkennung moralischer Normen
Zusammenfassung
Das Projekt ‚Anerkennung moralischer Normen’ basiert auf der Annahme, dass geteilte Normen - und zwar die Kernnormen einer rational ausweisbaren, universalistischen Minimalmoral - ein funktionales Erfordernis für die Aufrechterhaltung rechtsstaatlich verfasster Demokratien darstellt. Diese Annahme soll in drei Schritten diskutiert werden. Zunächst geht es um die strittige Frage, ob in modernen Gesellschaften Normkonsens überhaupt noch möglich, noch wirklich, noch notwendig und darüber hinaus nützlich ist (1). In einem zweiten Schritt geht es um das Anerkennungskonzept und seine Bedeutung für Normakzeptanz (2). Schließlich gilt es klären, welche inhaltlichen Normen mit rechtsstaatlich demokratischen Strukturen (in)kompatibel sind und wie die Bereitschaft, sie zu befolgen, aufgebaut wird (3).
Gertrud Nunner-Winkler
Anerkennung in pädagogischen Beziehungen Ein Problemaufriss
Zusammenfassung
Die Theorie der Anerkennung, wie sie im Anschluss an Fichte, Hegel, Mead u.a. etwa von Taylor (1993), Benjamin (1990, 2002), Butler (2001) oder Honneth (1992) reformuliert worden ist (vgl. auch den Aufsatz von Sitzer und Wiezorek in diesem Band), hat in den letzten Jahren verstärkt Aufmerksamkeit auf sich gezogen und den Status einer umfassenden Gesellschaftstheorie gewonnen, die beansprucht, die moralische Grammatik sozialer Kämpfe und Auseinandersetzungen erfassen zu können (vgl. Honneth 1992, 2001; Fraser/Honneth 2003). Dabei ist der Stellenwert und die Reichweite der Anerkennungstheorie als einer umfassenden Gesellschaftstheorie keineswegs unumstritten, wie etwa die jüngste Kontroverse zwischen Fraser und Honneth verdeutlichen kann. In dieser geht es im Kern darum, ob die Anerkennungstheorie in der Lage ist, die ganze Bandbreite der gesellschaftlichen Konflikte und Kämpfe zu erklären („normativer Monismus“, Fraser/Honneth 2003: 9) oder ob es eines zweiseitigen Ansatzes, eines „perspektivischen Dualismus“ (ebd.) von Anerkennung und Umverteilung bedarf, um die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen fassen zu können (vgl. insgesamt Fraser/Honneth 2003).
Werner Helsper, Sabine Sandring, Christine Wiezorek

Konzeptionelle Zugänge und empirische Analysen zur Integrations- und Desintegrationsproblematik

Frontmatter

Integration und Gewalt

Sozialer Wandel und Gewaltkriminalität: Erklärungskonzepte und Methodenprobleme
Zusammenfassung
Seit Mitte des vorigen Jahrhunderts ist in fast allen ökonomisch hoch entwickelten, demokratisch verfassten Gesellschaften die Rate der registrierten Gewaltkriminalität ziemlich kontinuierlich angestiegen (Gartner 1990; Eisner 2001, 2002). Bei der Suche nach Erklärungen glauben Soziologen regelmäßig bei gesellschaftlichen Fundamentalprozessen wie Individualisierung und Rationalisierung fündig zu werden (Blinkert 1988): mindern sie nicht die soziale Kohäsion und die Intensität normativer Bindungen? Solche Erklärungen sind problematisch, denn die angesprochenen Prozesse vollziehen sich schubweise schon seit Hunderten von Jahren; aber die interpersonelle, staatlicherseits nicht initiierte oder geduldete Gewalt ist seit Beginn der Neuzeit rückläufig - mit Unterbrechungen und Gegenbewegungen, aber insgesamt mit deutlichem Trend nach unten. Der Schweizer Soziologe Manuel Eisner, der diese Entwicklung quantitativ am umfassendsten dokumentiert hat, kalkuliert für die Zeitspanne vom 15. Jahrhundert bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts in den europäischen Kernregio-nen einen Rückgang der Tötungsdelikte um einen Faktor von etwa dreißig (Eisner 2002: 63; zur Ausnahme Finnlands siehe Ylikangas 1998).
Helmut Thome
Subjektive Bewältigungsstrategien und Gruppenkonflikte in einer geschlossenen Institution — das Beispiel des Strafvollzugs
Zusammenfassung
Wie in keiner anderen Institution wird die Lebenssituation der Insassen in der Haft durch besondere Belastungen geprägt. Goffman konnte mit seinen Analysen zeigen, dass dies mit gewissen Modifikationen für psychiatrische Einrichtungen, Kasernen, Schiffe, Arbeitslager und Internate gilt (Goffman 1973). Für die Zeit ihres Aufenthalts in der Haft müssen die Insassen deutliche Einschränkungen in ihren alltäglichen Lebensvollzügen, ihren sozialen Beziehungen und in der Ausübung ihrer Grundrechte hinnehmen. Diese allgemeine Aussage wird sicher durch weitergehende empirische Aussagen zu den sozialen und psychischen Folgen der Haft zu spezifizieren sein1.
Wolfgang Kühnel, Kathy Hiebe, Julia Tölke

Integration und Werte

Die Generalisierung partikularistischer Orientierung Proaktive Prozesse in der Bildung kollektiver Identität
Zusammenfassung
Die Analyse fremdenfeindlicher Ausschreitungen hat sich weithin auf die Prüfung defizittheoretischer und reaktiver Erklärungsannahmen konzentriert. Proaktive Elemente in der Konstitution rechter und fremdenfeindlicher Gruppen standen eher am Rande der Forschung. Vor diesem Hintergrund versucht der folgende Beitrag auf die Elemente in der Theorie sozialer Bewegungen zurückzugreifen, die in der interaktionistischen Tradition über Defizitannahmen hinausgehen und eine spezifische proaktive Dynamik des Geschehens thematisieren. Er versucht ferner, die differentia specifica fremdenfeindlicher Bewegung mit Hilfe der Moraltheorie der rational-choice-Tradition (Baurmann 1998) zu erarbeiten, die die unterschiedliche soziale Reichweite in der Geltung von Moral über die Taxonomie von Partikularismus und Universalismus in der Tradition Parsons’ beschreibt. Aus beiden Erweiterungen ergeben sich dann Folgerungen für die pädagogische und politische Praxis: Kollektive Identität ist ein zentraler und sinnstiftender Teil von jugendlicher, ja letztlich von menschlicher Existenz. Es kommt also darauf an, sie so erfahrbar und lebbar zu machen, dass sie mit universalistischen Orientierungen verklammert wird und nicht in die Überhöhung exklusiver Zugehörigkeiten und partikularistischer Freund-Feind-Beziehungen mündet.
Roland Eckert
Skinheads im Spannungsfeld gesamtgesellschaftlicher Desintegration und partikularistischer Integration
Zusammenfassung
Gesellschaftliche Desintegration führt zu Gewalt, Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus. Oder umgekehrt und etwas weniger deterministisch formuliert: Gewalt, Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus sind Folgen gesellschaftlicher Desintegration. Thesen wie diese, die einer simplifizierenden und viel zu grobschlächtigen Desintegrationstheorie mit Fokus auf die o.g. Phänomene unterstellt werden, ziehen zu Recht Zweifel auf sich. Sie sind nicht nur viel zu allgemein gehalten und gehen von einem empirisch nicht oder kaum nachweisbaren Ursache-Wirkungszusammenhang aus, sondern nutzen auch die Differenzierungsfähigkeiten des Integrations-/Desintegrationstheorems nur völlig unzureichend aus. Eben diese sollen in diesem Beitrag als theoretische Basis für den Entwurf einer Forschungsprogrammatik erschlossen werden, die auf die Untersuchung der Entstehung und ggf. des Abbaus rechtsextremistischer Orientierungen bei einer Personengruppierung zielt, die das veröffentlichte Bild der Rechtsextremismus-Problematik in Deutschland in weiten Bereichen in Gestalt der gewalttäterorientierten Metapher des kahlköpfigen, in Bomberjacke und Fallschirmspringerstiefel gekleideten, baseballkeulenschwingenden Jugendlichen prägt: fremdenfeindliche Skinheads.
Kurt Möller

Integration und Rechtsextremismus

Repression und Repressionswirkungen auf rechtsradikale Akteure
Zusammenfassung
In der Bundesrepublik erfreut sich das Konzept der „wehrhaften Demokratie“ nach wie vor großer Beliebtheit in Politik und Publizistik. Es hat nicht zuletzt durch die Ereignisse seit dem 11. September 2001 einen neuen Aufschwung erfahren. Dieses Konzept zeichnet sich bekanntlich durch ein außergewöhnliches Repertoire zur Bekämpfung politischer Bedrohungen, wie sie z.B. in den Verfassungsschutzberichten aufgeführt werden (Rechtsextremismus, Linksextremismus, Extremismus von Ausländem, Sekten usw.) aus. Aber die Erforschung des staatlichen (wie auch des gesellschaftlichen) Umgangs mit diesen Bedrohungen, vor allem des in jüngster Zeit verstärkt ins Visier genommenen Rechtsradikalismus (vgl. die sogenannte „Sommerdebatte“ von 2000) sowie insbesondere der Anwendung repressiver Maßnahmen, und der Reaktionen von Rechtsradikalen darauf, hat bislang kaum stattgefunden. Die Leitfrage des vorliegenden Beitrags lautet dementsprechend: Welche Wirkungen lassen sich von staatlicher Repression rechtsradikaler Kräfte erwarten? Welche theoretischen Grundlagen für die Analyse von Repressionswirkungen lassen sich in der Literatur auffinden?
Michael Minkenberg
Interaktive Viktimisierung und rechtsextremistische Macht
Zusammenfassung
Wendet man sich im Rahmen der Diskussion und Analyse gesellschaftlicher Mechanismen wie Desintegration den Themen Rechtsextremismus, Macht und Gewalt zu, so ist es - im Sinne einer viktimologischen Perspektive - unverzichtbar, auch die Rolle der Betroffenen, der „Opfer“ solcher Phänomene in den Blick zu nehmen. Dabei ist es von besonderer Bedeutung, auch denjenigen Betroffenen in den Blick zu nehmen, die nicht nur einmalig „Opfer“ eines gewalttätigen Übergriffs geworden sind, sondern mit deren Rolle sich eine lang andauernde Abhängigkeit von den jeweiligen „Tätern“ verbindet. Dies sind insbesondere Betroffene von innerhalb einer Gesellschaft bestehenden Machtverhältnissen, die sich den demokratischen Grundsätzen dieses Systems entziehen. Opfer von rechtsextremistischer Macht haben in der Regel nicht nur unter den Folgen eines einzelnen Übergriffs zu leiden, sondern sie müssen eine oft lange währende Unterordnung ihrer Person unter einen Täter bzw. eine Tätergruppe erleben. Dies hat Folgen für den besonderen Umgang dieser Betroffenen mit ihrer Identität und ihre Sicht der Gesellschaft, in der sie leben. Eine in diesem Zusammenhang wichtige Frage ist es sicherlich, wie Opfer von rechtsextremistischer Macht mit ihren Opfererfahrungen umgehen und welche Strategien oder Konzepte sie entwickeln, sich aus dieser Situation zu befreien.
Andreas Böttger, Olaf Lobermeier, Rainer Strobl

Integration und ökonomische Bedrohungen

Die EU-Erweiterung als Herausforderung für nationalstaatliche Integrationsmodelle
Zusammenfassung
Es gibt nur wenige wissenschaftliche und außerwissenschaftliche Bereiche, in denen das Wort ‘Integration’ derart häufig fallt, wie wenn es um die Europäische Union und ihren aktuellen Erweiterungsprozess geht. Europäische Integration findet demnach bereits seit einem halben Jahrhundert statt, d.h. seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist eine „friedliche und freiwillige Annäherung bzw. Zusammenführung von Gesellschaften, Staaten und Volkswirtschaften über bislang bestehende Grenzen hinweg“ (Giering 2000: 262) in Teilen Europas zu beobachten. In diesem Sinne bezieht sich Integration zunächst allein auf die nationalstaatliche Ebene. Sie lässt darüber hinaus offen, welches Ziel sie hat und an welchem Punkt sich die Teilnehmer zur Zeit befinden. Betrachtet man die Ebene der Subsysteme, so können diese Fragen zumindest teilweise beantwortet werden: Unter zu Hilfenahme volkswirtschaftlicher Theorien, die fünf Integrationsstufen unterscheiden1, lautet die Diagnose, dass für zwölf der fünfzehn bislang teilnehmenden nationalen EU-VoIkswirtschaften die letzte Stufe der ökonomischen Integration mit Einführung des Euros erreicht ist. Mit Blick auf die politische Integration ist eine entsprechende Beurteilung aber schon beträchtlich schwieriger, da hier verschiedene theoretische Positionen mit ihren jeweiligen Integrationsverständnissen um die Deutungshoheit bemüht sind.2 Noch unübersichtlicher wird die Situation, wenn die gesellschaftliche oder kulturelle Dimension betrachtet wird, denn „für die Soziologie ist die europäische Integration bislang ein Randthema“ (Bach 2001: 147).
Dirk Baier, Susanne Rippl, Angela Kindervater, Klaus Boehnke
Prekarisierung von Erwerbsarbeit Zur Transformation des arbeitsweltlichen Integrationsmodus
Zusammenfassung
In der viel beachteten Studie Les métamorphoses de la question sociale hat Robert Castel (1995, dt. 2000) die These einer doppelten Spaltung der Erwerbsgesellschaft formuliert. Im Einzelnen diagnostiziert er eine schrumpfende „Zone der Normalität“ mit Beschäftigungsverhältnissen, die nicht frontal den Unwägbarkeiten kurzatmiger Märkte ausgesetzt sind, sondern eine stabile gesellschaftliche Existenz ermöglichen und soziale Sicherheit durch Rechtsgarantien und andere Schutzmaßnahmen gewährleisten. Dieser relativ geschützten Zone steht eine größer werdende „Zone der Entkoppelung“ gegenüber, in der sich die „Entbehrlichen“ und „Überflüssigen“ der Arbeitsgesellschaft befinden, die nicht nur temporär, sondern dauerhaft aus dem Beschäftigungssystem ausgeschlossen sind (vgl. Kronauer 2002; Franzpötter 2003). Zwischen diesen beiden Polen der Erwerbsgesellschaft hat sich Castel zufolge eine „Zone der Prekarität“ heraus gebildet, die eine Vielfalt flexibilisierter Arbeitsverhältnisse umfasst und sowohl Zeit- und Leiharbeit, geringfügige Beschäftigung und marginale Selbstständigkeit als auch befristete Projektarbeit sowie Vollerwerbsarbeit im Niedriglohn-sektor umfasst (vgl. hierzu Letourneux 1998; Giesecke/Groß 2002; Vogel 2003; Noller 2003; Pietrzyk 2003; Kim/Kurz 2003). Die kontinuierliche Ausbreitung der „Zone der Prekarität“ interpretiert Castel als schleichende Rekommodifizie-rung der Arbeitskraft, da die für die fordistische Erwerbsgesellschaft noch charakteristische enge Kopplung von Berufsarbeit und sozialen Sicherheitsgarantieren aufgehoben wird.
Klaus Kraemer, Frederic Speidel

Integration und Ungleichheit

Integration - eine wissenssoziologische Skizze
Zusammenfassung
Zwischen Wissenssoziologie und Integrationsforschung ist es bisher kaum zu einem Austausch gekommen. Weder hat man sich auf Seiten der Wissenssoziologie mit Fragen der Migration eingehend beschäftigt, noch haben sich Migrationssoziologen bei der Suche nach Antworten auf theoretische Fragen in ihrem Untersuchungsbereich der Wissenssoziologie zugewandt.1 Dies ist verwunderlich, da die Themenstellungen und Studieninteressen des einen Forschungsfeldes von höchster Relevanz für das jeweils andere sind. Und es ist umso erstaunlicher, als im wohl bekanntesten wissenssoziologischen Theoriebeitrag, Peter L. Bergers und Thomas Luckmanns ‚Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit’ (‚required reading’ für Soziologiestudenten zumindest im englischsprachigen Raum), der Ausdruck , Integration’ - vom Begriff wie von der Sache her - eine Schlüsselstellung einnimmt. Im folgenden soll danach gefragt werden, wie aus wissenssoziologischer Sicht Integration unter den Bedingungen globaler Migration theoretisiert werden kann. Dafür ist es zunächst notwendig, einige der Ausgangsüberlegungen der Wissenssoziologie ins Gedächtnis zu rufen.
Hans-Georg Soeffner, Dariuš Zifonun
Negative Klassifikationen Konflikte um die symbolische Ordnung sozialer Ungleichheit
Zusammenfassung
In einem seiner Feuilletons, die in den Inflationsjahren 1922/23 im Berliner Tageblatt erschienen sind, schildert Victor Auburtin unter dem Titel Soziale Krisen eine Begebenheit in der Untergrundbahn: Ein „Mann ohne Kragen“, allem Anschein nach ein Anstreichergeselle, steigt mit Farbtopf und Pinsel in einen Wagen der - damals gehobenen - zweiten Klasse. Die angestammten Fahrgäste sehnen den Billettkontrolleur herbei, um dem Ärgernis Abhilfe zu schaffen. An der nächsten Haltestelle wird der Stationsvorsteher auf die Störung der öffentlichen Ordnung aufmerksam, betritt den Wagen mit der deplacierten Person und verlangt deren Fahrkarte. Der Angesprochene kramt lange in seinen Taschen, während die anderen Fahrgäste auf die Entfernung des Anstreichergesellen warten, bis dieser schließlich doch ein Billett vorweisen kann. Der Zug fahrt mit denselben Passagieren weiter, und Auburtin lässt die Geschichte mit einem kurzen Wortwechsel enden:
„Die elegante Dame mit dem goldenen W. II als Brosche bekehrt sich zur Republik. ‚Das ist ja auch lächerlich‘, sagt sie zu ihrem Gatten, der die Banknotenkurse durchliest, ‚ein Arbeiter ist ein ganz anständiger Mensch/ .Meinetwegen kann er anständig sein‘, antwortet der Gatte, ‚deshalb braucht er sich noch nicht zu uns zu setzen.“‘ (Auburtin 2001: 75)
Sighard Neckel, Ferdinand Sutterlüty

Integration und Sozialräume

Die Gemeinde als Ort politischer Integration
Zusammenfassung
Der Begriff Gemeinde hat zwei Bedeutungsebenen: Er bezeichnet zunächst eine politisch-administrative Institution, denn im politischen System der Bundesrepublik verwalten sich die Gemeinden selbst, verweist aber ebenso - und in einem schwerer zu fassenden Sinn - auf die Gemeinschaft der darin lebenden Bürger. Bewohner sind nicht lediglich formal über das kommunale Wahlrecht miteinander verbunden, sondern auch durch unterschiedliche Vorstellungen über das Wohl der Gemeinde bzw. des gemeinschaftlichen Zusammenlebens.
Hartmut Häußermann, Jens Wurtzbacher
Die gespaltene Stadt — Sozialräumliche Differenzierung und die Probleme benachteiligter Wohngebiete
Zusammenfassung
Der aktuelle öffentliche und auch der wissenschaftliche Diskurs zur Entwicklung der Städte findet seinen Ausdruck in Metaphern von „der gespaltenen Stadt“ (Häußermann), „der modernen Stadt in einer gespaltenen Gesellschaft“ (Dangschat) oder der „dreigeteilten Stadt“ (Häußermann/Siebel); von einem „Ende der sozialen Stadt“ (Hanesch) oder der „zivilisierten Stadt“ (Eisner) ist hier vielfach die Rede.
Helmut Willems
Backmatter
Metadata
Title
Integrationspotenziale einer modernen Gesellschaft
Editors
Wilhelm Heitmeyer
Peter Imbusch
Copyright Year
2005
Publisher
VS Verlag für Sozialwissenschaften
Electronic ISBN
978-3-322-80502-7
Print ISBN
978-3-531-14107-7
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-322-80502-7