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2024 | OriginalPaper | Chapter

Kernenergie – all things considered? Zu den Akzeptabilitätsdimensionen ihrer zivilen Nutzung

Author : Christian Loos

Published in: Energieverantwortung

Publisher: Springer Berlin Heidelberg

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Zusammenfassung

Für eine philosophisch-ethische Bewertung stellen Energieversorgungssysteme aufgrund der Komplexität ihrer gegebenen (sowie möglichen) Energieoptionen und der unterschiedlichen Handlungsfelder eine besondere Herausforderung dar: Zum einen müssen die mit den einzelnen Handlungsfeldern zusammenhängenden Kontroversen und Debatten etwa im Hinblick auf divergierende Risikoeinschätzungen sowie Ungewissheiten, Probabilitäten und damit zusammenhängendes explizites Nicht-Wissen berücksichtigt werden. Zum anderen muss ausgehend von dezidierten Handlungsfeldanalysen das komplexe Beziehungsgefüge in energiesystemischer Hinsicht identifiziert und überschaut werden. Dies ist nur dann möglich, wenn eine entsprechend verfahrende philosophisch-ethische Bewertung auf profunde einzelwissenschaftliche sowie interdisziplinäre Wissensbestände zurückgreifen kann und zurückgreift. Das Handlungsfeld der Primärenergieträgergewinnung wird sowohl in der öffentlichen Berichterstattung und Diskussion zu den verschiedenen Energieoptionen als auch in fachwissenschaftlichen Debatten häufig unzureichend behandelt oder sogar völlig außer Acht gelassen. Eine philosophisch-ethische Bewertung darf aber nicht erst am Kernkraftwerk, Windpark, Solarpark oder Kohlekraftwerk etc., sprich im Handlungsfeld der Energieerzeugungsanlagen, beginnen. Beispielsweise lassen sich bei der Energieoption der Kernenergie in der Regel nur Probabilitäten hinsichtlich der Reaktorentwicklung und Konditionierungstechnologien ausmachen. Risiken werden nahezu ausschließlich in Gestalt möglicher Unfälle im Handlungsfeld der Energieerzeugungsanlage und zur Endlagerthematik im Handlungsfeld der Entsorgung diskutiert. Festzustellen ist eine vereinfachende Bewertungspraxis, von der sich auch die fachwissenschaftliche philosophische Ethik nicht freisprechen kann. Klammert man die spezifischen Gewinnungsarten von Primärenergieträgern in einer ethischen Bewertung von Energieversorgungssystemen aus, unterschlägt man damit eine Auseinandersetzung mit den über sie geführten und zu führenden Diskursen. Ziel dieses Beitrags ist es daher, die Komplexität des Handlungsfeldes der Primärenergieträgergewinnung im Sinne einer philosophisch-ethischen Entfaltung der Akzeptabilitätsdimensionen der Energieoption der Kernenergie darzustellen. Dabei sollen reduktionistische Verfahrensweisen ethischer Bewertungen als defizitär ausgewiesen und systematische Grundlagen für eine adäquate Konzeption von spezifizierten Akzeptabilitätskriterien mittlerer Reichweite entwickelt werden.

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Footnotes
1
Dieser Aufgabe kann der vorliegende Beitrag jedoch nicht nachgehen.
 
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Die Verarbeitungsweisen für Uranerz können sich je nach Art des Erzes und hinsichtlich der gewünschten Endprodukte ebenfalls voneinander unterscheiden. In der Regel beinhaltet der Verarbeitungsprozess die folgenden Produktionsschritte: 1. Exploration: Hierunter versteht man vor allem in geologischer und lagerstättenplanerischer Hinsicht die Suche oder die Erschließung, d.h. die genaue Untersuchung von Lagerstätten und Rohstoffvorkommen. 2. Abbau: Dieser kann sowohl im Tagebau als auch im Untertagebau erfolgen und ist Mittelpunkt der bergmännischen Tätigkeiten. 3. Aufbereitung/Mahlen: Das gewonnene Uranerz wird unter Tage in einem ersten Verarbeitungsschritt durch Brecher so weit zerkleinert, dass es vom Abbauort nach über Tage transportiert werden kann. Vor der Aufbereitung wird es gemahlen, um die gewünschte Partikelgröße zu erhalten. Anschließend wird es durch Aufbereitungsmethoden wie Schwerkrafttrennung oder Flotation von anderen Gesteinsmaterialien getrennt. 4. Extraktion: Dabei wird das aufbereitete Uranerz in einer sauren oder alkalischen Lösung aufgelöst, um das Uran zu extrahieren. Eine häufig verwendete Methode ist der saure Aufschluss, bei dem das Uran mit Hilfe von chemischen Reagenzien wie Schwefelsäure oder Ammoniak gelöst wird. 5. Lösungsrückgewinnung/Aufreinigung: Nach dem Aufschluss wird das Uran durch Extraktion oder Ionenaustausch aus der Lösung gewonnen. Bei der Extraktion wird eine organische Substanz verwendet, um das Uran selektiv aus der Lösung zu binden. Beim Ionenaustausch werden die Uranionen von einem Feststoffaustauscher absorbiert und anschließend eluiert, um das Uran zurückzugewinnen. 6. Weiterverarbeitung: Das gewonnene Uran wird weiter gereinigt und angereichert, um den gewünschten Urangehalt für den Brennstoff in Kernreaktoren zu erreichen. Die Anreicherung kann durch verschiedene Verfahren wie Gasdiffusion oder Zentrifugation erfolgen. Die Verarbeitungsweisen von Uranerz muss in spezialisierten Anlagen durchgeführt werden, um die Sicherheit und Abfallbehandlung ordnungsgemäß zu gewährleisten. – Im hier vorliegenden Beitrag kann die gesamte Produktionskette der Urangewinnung nicht thematisiert werden. Eine philosophische Ethik hat aber die Aufgabe, auch diese einer Akzeptabilitätsüberprüfung zu unterziehen. In meinen Ausführungen werde ich primär den Uranbergbau fokussieren und stellenweise den oberflächlichen Abbau von Uran diskutieren.
 
3
Anschaulich wird die historische Bürde schon in den Titeln einschlägiger Kompendien, wie etwa beim Sammelband The New Uranium Mining Boom. Challenge and Lessons learned (Merkel und Schipek 2012).
 
4
In Menzenschwand wurden die Mahlzeiten – sofern diese nicht schichtbedingt sowieso unter Tage eingenommen werden mussten – in denselben Räumlichkeiten, in denen auch kontaminierte Kleidung und Gesteinsproben herumlagen, eingenommen (Schramm 2012, 206). Die ablehnende Haltung der Bergleute gegenüber dem Tragen einer Staubschutzmaske wird auf den „Eigen-Sinn“ der Bergleute, sich nicht disziplinieren lassen zu wollen, zurückgeführt (Schramm 2012, 213). Dass Bergleute sich weigern, unter Tage Staubschutzmasken zu tragen, kann aber mit den teils sehr hohen Temperaturen in den untertägigen Produktionsbereichen (Abwetterbereiche) zusammenhängen. Insofern wäre das Tragen einer Staubschutzmaske zwar eine Maßnahme, den Arbeitsschutz zu verbessern, die sich in konkreten Arbeitssituationen jedoch als dysfunktional erweist.
 
5
In Bezug auf die Wismut-Kohorte wird in der OECD-Studie Managing Environmental and Health Impacts of Uranium Mining bemängelt, dass die Krankenakten der Wismut-Kohorte keine Informationen zum Rauchverhalten der Bergleute liefern würden und daher ein wichtiger Krebsrisikofaktor nicht berücksichtigt worden sei. Zudem wäre vom Wismut-Hörensagen bekannt, dass Nicht-Raucher unter den Bergleuten die Ausnahme gewesen seien; daher läge es nahe, anzunehmen, dass alle Wismut-Bergleute Raucher gewesen seien (OECD 2014, 46). Das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) schlussfolgert zusammenfassend demgegenüber: „Sowohl die berufliche Radon- als auch die Quarzfeinstaubexposition führen bei den Wismut-Beschäftigten zu einer deutlichen Erhöhung des Lungenkrebsrisikos, auch im Niedrigdosisbereich. Der radonbedingte Risikoanstieg hängt zusätzlich ab von Faktoren wie der Zeit seit Exposition, dem Alter bei Exposition und der Expositionsrate. Die Lungenkrebsrisiken durch Rauchen und Radon addieren sich nicht nur, sondern multiplizieren sich annähernd. Das heißt, das gemeinsame Vorliegen der beiden Risikofaktoren erhöht das Lungenkrebsrisiko besonders stark. Auch das Risiko, an einer Leukämie zu sterben, steigt mit der Strahlenexposition an, dieser Anstieg ist jedoch nicht signifikant. Für einzelne Leukämie-Subtypen ergeben sich signifikante Zusammenhänge. Des Weiteren zeigt sich ein sehr starker Anstieg der Sterblichkeit an Silikose mit zunehmender Belastung durch Quarzfeinstaub“ (BfS 2023).
 
6
Ohne Nennung von Quellen behaupten beispielsweise Streffer et al. (2005, 305) in Bezug auf die Energieoption der Kernenergie, Studien zur Risikowahrnehmung deuteten darauf hin, dass „insbesondere die Risiken von Strahlenexpositionen im Niedrigdosisbereich in der Bevölkerung stark überschätzt werden. Eine verstärkte Aufklärung über die Wirkung ionisierender Strahlung und die Höhe der natürlichen Strahlenexposition könnte daher möglicherweise zu einer realistischeren Risikowahrnehmung und damit höheren Akzeptanz der Kernkraft führen.“ Die Debatten zur Bedeutung des Niedrigdosisbereichs im Uranbergbau zeigen, dass die philosophische Ethik mit der Übernahme von einzelwissenschaftlichen Diagnosen vorsichtig sein und stets die Pluralität einzelwissenschaftlicher Einschätzungen und Forschungsfragen sowie damit zusammenhängende Debatten detailliert berücksichtigen sollte.
 
7
Zudem schlussfolgern Streffer et al. (2005, 39) in Bezugnahme auf das Kriterium der Sozialverträglichkeit, dass es „nicht die Primärenergiequellen“ wären, „sondern politische Rahmenbedingungen, d.h. in erster Linie die jeweiligen Menschenrechtssituationen vor Ort, die darüber entscheiden, ob die Nutzung einer Energiequelle sozialverträglich verläuft.“ Ferner würden Positionen, die eine bestimmte Primärenergiequelle um ihrer selbst willen, d.h. „als eine intrinsische Eigenschaft von Energiesystemen“ (Streffer et al. 2005, 40) kritisch in den Blick nehmen, einen Essentialismus transportieren. Dem Essentialismus-Vorwurf ist zu widersprechen. Außer Frage steht, dass politische Rahmenbedingungen sehr großen Einfluss auf die ethische Akzeptabilität der Nutzung einer Energiequelle haben. Das Beispiel der verschiedenen Abbauarten von Uran (und diese wiederum im Vergleich zu den verschiedenen Primärenergieträgergewinnungsarten in anderen Energieoptionen) zeigt aber, dass sich die damit verbundenen Risiken auch bei gewährleisteten politischen Rahmenbedingungen stark voneinander unterscheiden können – vorausgesetzt, dass man beispielsweise den Arbeits- und Gesundheitsschutz der Beschäftigten in der Primärenergieträgergewinnung ebenfalls zum Kriterium der Sozialverträglichkeit zählt.
 
8
Für die in der EU-Taxonomie auszumachende Einschätzung, Kernkraftwerke als eine ökologische Übergangstechnologie zu betrachten, da sie dazu beitragen könnten, die CO2-Emissionen im Vergleich zu fossilen Brennstoffen zu reduzieren und den Übergang zu einer kohlenstoffarmen Wirtschaft zu unterstützen, wird im technischen TEG-Report von 2019 als Beleg beispielsweise auf den fünften Bericht des Intergovernmental Panel on Climate Change der Vereinten Nationen verwiesen. Dort wird die Nutzung der Kernenergie als eine nachhaltige Energieoption zur Einsparung von CO2-Emissionen explizit empfohlen. Zudem wird konstatiert, dass die Kernenergie eine „ausgereifte Grundlaststromquelle mit geringen Treibhausgasemissionen“ sei, ihr Anteil an der weltweiten Stromerzeugung jedoch seit 1993 als rückläufig eingestuft werden muss. Erwähnung finden darüber hinaus – im Sinne belastbarer Beweise und hoher Übereinstimmung – die mit einer zunehmenden Nutzung der Kernenergie einhergehenden Hindernisse und Risiken: Neben Betriebsrisiken und damit zusammenhängenden Sicherheitsbedenken, finanziellen und regulatorischen Risiken, ungelösten Entsorgungsfragen im Kontext der Endlagerthematik, der Gefahr der Verbreitung von Kernwaffen sowie einer negativen öffentlichen Meinung werden auch explizit Risiken im Uranbergbau genannt. Demgegenüber befänden sich neue Brennstoffkreisläufe und Reaktortechnologien zur Problemminderung in der Entwicklung; auch seien in Bezug auf Sicherheit und Entsorgung Fortschritte erzielt worden (IPCC V (2014), 516–517, 522). Eine dezidierte Diskussion der Risiken im Uranbergbau lässt sich im IPCC-Bericht allerdings nicht ausmachen; stattdessen werden verschiedene Probabilitäten zur Quantität des globalen Uranvorkommens ausgewiesen.
 
9
In der Pressemitteilung Nr. 009/22 des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz (BMUV) erachten sowohl der Bundeswirtschafts- und Klimaschutzminister Robert Habeck als auch die Bundesumwelt- und Verbraucherschutzministerin Steffi Lemke die Einbeziehung der Kernenergie in die EU-Taxonomie für falsch. Lemke sieht darin nicht nur einen großen Fehler, sondern auch die Gefahr von „Greenwashing“. Neben viel zu langen Bauzeiten neuer KKWs verweist Habeck auf ein hohes Risikopotenzial der Kernenergie und behauptet, dass die Ausweisung der Kernenergie als nachhaltig dem Nachhaltigkeitsverständis der deutschen und europäischen Verbaucher widerspreche. Sollten seitens der EU-Kommission keine maßgeblichen Änderungen in der EU-Taxonomie erfolgen, dann sollte die Bundesregierung den ergänzenden delegierten Rechtsakt aus ihrer Sicht entsprechend ablehnen.
 
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Auf den JRC-Report rekurrieren bemerkenswerterweise beide Lager. Kernenergie-Befürworter berufen sich in ihrer Argumentation vor allem auf zwei zentrale Schlussfolgerungen: Zum einen gebe es keine wissenschaftlich fundierten Beweise dafür, dass die Kernenergie im Vergleich zu anderen Stromerzeugungstechnologien, die bereits in der EU-Taxonomie als Aktivitäten zur Eindämmung des Klimawandels aufgenommen worden sind, der menschlichen Gesundheit oder der Umwelt im Hinblick auf nicht-radiologische Wirkungen mehr Schaden zufüge. Im Vergleich zu den Auswirkungen verschiedener Stromerzeugungstechnologien (z. B. Öl, Gas, erneuerbare Energien und Kernenergie) auf die menschliche Gesundheit und die Umwelt auf der Grundlage aktueller Lebenszyklusanalysen (LCA) wären zum anderen die Auswirkungen der Kernenergie im Hinblick auf nicht-radiologische Auswirkungen größtenteils mit denen der Wasserkraft und der erneuerbaren Energien vergleichbar (Abousahl et al. 2021, 3). Hinsichtlich potenzieller radiologischer Auswirkungen auf die Umwelt und die menschliche Gesundheit sowie in besonderer Relevanz zum Handlungsfeld der Primärenergieträgergewinnung benennt der JCR-Report als die wichtigsten Lebenszyklusphasen der Kernenergie den Uranabbau und dessen Verarbeitung, den KKW-Betrieb im Sinne der Stromerzeugung mittels Kernspaltungsreaktoren und die Wiederaufbereitung abgebrannter Kernbrennstoffe (Abousahl et al. 2021, 3–4). Vor diesem Hintergrund muss die Redeweise von den „nicht-radiologischen“ Wirkungen kritisch hinterfragt werden: Die Gewinnung von Uran und die anschließende Aufbereitung (Mahlphase) stellen den Hauptanteil der Kette der Energieoption Kernenergie dar. Dabei wird in allen Produktionsschritten Radioaktivität freigesetzt (in erster Linie Radon). Der gesamte Gewinnungsbereich bis zum fertigen Kernbrennstoff, den Stäben, deckt etwa zwei Drittel ab.
 
11
Es ist nicht klar, welche IFC-Standards das Rechtsgutachten genau thematisiert. Wahrscheinlich wird auf die Performance Standards on Environmental and Social Sustainability der IFC von 2012 abgestellt, die als internationale Richtlinie in Finanzierungsinstrumenten fungieren sollen, um beispielsweise bei Finanzierungsprojekten in Schwellenländern die Einhaltung von Nachhaltigkeitskriterien zu gewährleisten. Dies würde insofern Sinn ergeben, als auch die Klassifikation der EU-Taxonomie Kapitalflüsse in nachhaltige Investitionen leiten soll. Positiv kritisiert wurden die IFC-Performance-Standards vor allem im Hinblick auf ihre Verbindlichkeit, sofern eine IFC-Beteiligung in Projekten gegeben ist. Da die Performance Standards als Vorlage für andere standesethische Verpflichtungen, wie etwa die Äquator-Prinzipien im Finanz- und Bankensektor, dienen, kann der Geltungsbereich der Standards zunehmend erweitert werden. Zentral für die Performance Standards ist eine Stakeholder-Beteiligung. Negativ kritisiert werden ein unzureichendes Monitoring (im Besonderen im Rahmen von Projekten mit Finanzintermediären) und die noch nicht ausreichend konkretisierten Rechte indigener Menschen sowie fehlende Verweise auf internationale Menschenrechtsvereinbarungen (Rüttinger et al. 2015, 10–11). Die Performance Standards der IFC wurden seit 2012 nicht aktualisiert. Ende Juni 2021 genehmigten die Vorstände von IFC und MIGA allerdings eine neue Richtlinie für einen Compliance Advisor Ombudsman (CAO), um für Gemeinden, IFC/MIGA-Kunden und anderen Interessengruppen einen vorhersagbaren und transparenten Beschwerdeprozess zu ermöglichen. Durch ein schnelleres Reagierenkönnen auf Beschwerden soll die institutionelle Funktionalität in Projekten gesteigert werden (IFC/MIGA IAM (CAO) Policy 2021).
 
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Organisationen außerhalb der EU können seit 2010 am europäischen Umweltmanagementsystem EMAS teilnehmen. Es obliegt den Mitgliedstaaten der EU, ob eine Registrierung außereuropäischer Organisationen zugelassen wird (in Deutschland ist dies möglich). Umweltgutachter der entsprechenden Prüfverfahren müssen den Mitgliedstaaten analog zur erfolgten Registrierung angehören. Dabei müssen die Umweltvorschriften der außereuropäischen Länder mit denen des europäischen Landes, in dem die Antragstellung erfolgt, korrespondieren. Aus philosophisch-ethischer Perspektive ist hervorzueben, dass die EMAS-Verordnung nur Bewertungskategorien, aber keine detaillierten Bewertungskriterien vorgibt. Beispielsweise müssen für die Beurteilung von Umweltaspekten von den Organisationen eigene Kriterien festgelegt werden (Weiß et al. 2013, 16). Die EMAS-Verordnung scheint keine Umweltmindestleistung zu beinhalten. Aufgabe einer philosophisch-ethischen Akzeptabilitätsüberprüfung ist es daher, die genaue interne Organisiertheit, inhaltliche Ausgestaltung und den Geltungsbereich der verschiedenen Verpflichtungspraktiken und Zertifizierungsnormen zu untersuchen.
 
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Für ein nachhaltige Kernergie der Zukunft lässt sich zudem ein weiteres hypothetisches Argument ausmachen, bei dem allerdings die Energieoption von der Kern(spaltungs)energie hin zur Kernfusionsenergie gewechselt wird: Mit einer möglichen zukünftigen Realisierung der Technologie der Kernfusionsenergie wäre mit einer massiven Effektivitätssteigerung im Hinblick auf den Bedarf und Verbrauch von Primärenergieträgern zu rechnen. Der für die Kernfusion notwendige Brennstoff besteht aus einer Mischung der Wasserstoffisotope Deuterium und Tritium. Im Vergleich zu gewöhnlichem Wasserstoff enthält Deuterium ein zusätzliches Neutron im Kern und wird daher als schwerer Wasserstoff bezeichnet. Tritium, auch bekannt als überschwerer Wasserstoff, besitzt zwei Neutronen. Deuterium kann leicht aus Wasser gewonnen werden. Da die Tritiumvorräte weltweit äußerst limitiert sind, soll es in zukünftigen Fusionskraftwerken kontinuierlich aus Lithium – man spricht hier auch vom „Erbrüten von Tritium“ – gewonnen werden. Das Lithium wird in die Innenwand des Plasmagefäßes von Fusionskraftwerken eingelagert. Während der Fusionsreaktionen im Plasma entstehen energiereiche Neutronen, die auf die Wand treffen und dort Lithium in Tritium umwandeln. Dieses Verfahren befindet sich derzeit in der technischen Entwicklung. Da jede Fusionsreaktion sehr energiereich ist, werden nur geringe Mengen des Brennstoffgemisches – etwa 50 Gramm pro Stunde – benötigt, um ein Kraftwerk mit einer elektrischen Leistung von 1000 Megawatt anzutreiben. Da der Abbau von Lithium ebenfalls Gegenstand von starker Kritik ist (z. B. im Hinblick auf Umweltverschmutzungen durch den Einsatz von Chemikalien und einem sehr großen Wasserverbrauch, Landkonflikte, Verdrängung indigener Gemeinschaften, Menschenrechtsverletzungen und starke Defizite in der Sozialverträglichkeit) wird das Handlungsfeld der Primärenergieträgergewinnung auch in einer zukünftigen Energieoption der Kernfusion für eine philosophisch-ethische Bewertung von Bedeutung sein. In der Energieoption der Kernenergie wird hingegen eine Effizienzsteigerung im Hinblick auf eine zukünftige industrielle Verfügbarkeit von Reaktortypen der Gen4-Generation und innovativen Konditionierungstechnologien bis hin zur Transmutationstechnologie ausgemacht. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist auch diese mögliche Effizienzsteigerung Bestandteil eines hypothetischen Arguments.
 
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Die Abbaubetriebe SOMAÏR und COMINAK wurden 2001 bzw. 2002 nach ISO 14001 akkreditiert. Beide Unternehmen wurden zudem im Jahr 2007 nach der Arbeitsschutznorm (OHSAS 18001) akkreditiert (Larsen und Mamosso 2013, 23). Im Hinblick auf eine Ursachennennung für die katastrophalen Zustände im und in der Folge des nigrischen Uranabbaus verweisen Larsen und Mamosso (2013, 42) auf die Möglichkeit, dass die Hauptimportländer des nigrischen Urans, Frankreich, Kanada und Japan, aus strategischen Gründen auf den Import setzen, um die eigenen Uranvorkommen zu schonen. Eine Verlagerung von nachteiligen Risiken ins Ausland zu Lasten der dort lebenden Bevölkerung und vorzufindenden Ökosystemen ist aus philosophisch-ethischer Perspektive inakzeptabel. Larsen und Mamosso (2013, 42) sehen im Hinblick auf die internationale Ausbeutung des nigrischen Urans Anlass zur Spekulation, dass nachweisbare Missstände in der Umweltgovernance (z. B. im Sinne staatlich-institutioneller Dysfunktionalitäten und Erfüllung von Sicherheitsstandards) aufgrund geopolitischer Einflussnahme von Geberländern in der Entwicklungszusammenarbeit nicht adäquat angegangen werden.
 
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Nach der Restrukturierung der französischen AREVA SA wurde New Areva (umfasst die Kernbrennstoffkreislaufaktivitäten von AREVA) nach Information von World Nuclear News (2018) am 23.01.2018 in Orano umbenannt. Als Teil der AREVA-Holding konzentriert sich das Unternehmen auf die Aktivitäten des nuklearen Brennstoffkreislaufs (vom Uranabbau über die Anreicherung bis hin zur Entsorgung und Wiederaufbereitung). Mit der symbolischen Umbenennung erfolge nach Aussage von Orano CEO Philippe Koch „a new organisational structure, a new business plan, a new strategic action plan and a new social contract.“ Was genau unter dem „neuen Sozialvertrag“ zu verstehen ist, lässt sich anhand der von Orano veröffentlichten Informationen nicht sagen.
 
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Als eine zentrale Aufgabe der philosophischen Politikberatung haben etwa Loos und Quante (2021) ethische Akzeptabilitätskriterien und Kritikfunktionen für den Kontext der Energiewende entwickelt.
 
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In Bezugnahme auf den nigrischen Uranabbau wurde zudem auf die instabile politische Situation hingewiesen: Die von AREVA bzw. Orano an den nigrischen Staat gezahlten Gelder verbleiben in der Hauptstadt im Süden des Landes, der von der Bevölkerungsgruppe der Haussa bewohnt wird. Die im Norden lebenden Tuareg, in deren Gebiet auch die Uranminen liegen, profitieren von den staatlichen Einnahmen nicht. Neben der Gefahr des Uranschmuggels durch Rebellen geht auch vom islamistischen Terrorismus eine faktische Bedrohungslage aus. 2013 ereignete sich beispielsweise ein Selbstmordanschlag auf die Uranmine in Arlit durch die Terrorgruppe Al-Qaida im Islamischen Maghreb (AQMI) (Kumetat 2013). Mit dem Mangel an stabilen politischen Rahmenbedingungen und gewährleisteter Sozialverträglichkeit muss daher auch von gegebenen Proliferationsrisiken ausgegangen werden. Die mit einer Instabilität der politischen Rahmenbedingungen verbundenen Risiken sind auch gegenwärtig im Hinblick auf den jüngsten Militärputsch in Niger vom 28.07.2023 von besonderer Relevanz. Die mit dem Putsch einhergehenden möglichen Folgen für den nigrischen Uranabbau können beispielsweise für die europäische Atom-Allianz gravierende und noch unabsehbare Konsequenzen nach sich ziehen, die in Europa wiederum ganze Energieversorgungssysteme – vor allem das französische Energieversorgungssystem – betreffen können. An diesem Sachverhalt wird nicht nur abermals die Bedeutung des Handlungsfelds der Primärenergieträgergewinnung anschaulich, sondern auch seine konstitutionell-relationale Bedeutung für ganze Energieversorgungssysteme. Unterschlägt man das Handlungsfeld der Primärenergieträgergewinnung, dann unterschlägt man damit auch alle der dort gegebenen Risken und Folgerisiken (sowohl solche für das eigene Handlungsfeld und für andere energiesystemische Handlungsfelder als auch für das gesamte Energieversorgungssystem).
 
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Dass das Handlungsfeld der Primärenergieträgergewinnung im Sinne einer ethischen Energieverantwortung in der philosophisch-ethischen Bewertung von Energieversorgungssystemen nicht ausgeklammert werden darf, hat die skizzierte Problemlage im Hinblick auf die standesethischen Verpflichtungen gezeigt. Mehr noch sollte diese im Sinne eines von der philosophischen Ethik auf Dauer gestellten Diskurses moderiert werden, um ethische und andere Reduktionismen zu vermeiden. Streffer et al. (2005, 36) formulieren beispielsweise als Praxisnorm in der Entfaltung des Kriteriums der Sozialverträglichkeit zutreffend, dass Menschen „durch Energiesysteme nicht in ihrem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit verletzt werden“ dürfen. Dabei heben sie zu Recht hervor, dass dies „alle Stufen der Energiebereitstellung, von der Gewinnung von Energierohstoffen, über die Energieerzeugung und den Transport von Energie“ betrifft. Dabei müssen „[u]nvermeidliche Risiken im Zusammenhang mit der Erzeugung und – Bereitstellung von Energie […] so niedrig wie möglich gehalten und gegen den Nutzen abgewogen werden.“ Erstaunlicherweise lassen die Autoren ihre Bewertungen der Energieoptionen „Kernenergie“ und „Kernfusionsenergie“ (Streffer et al. 2005, 303–305) analog zu dem Kriterium der Sozialverträglichkeit – dasselbe gilt auch für das Kriterium der Umweltverträglichkeit – allerdings erst im Handlungsfeld der Energieerzeugungsanlage „Kernkraftwerk“ beginnen. Mögliche Risiken werden in der Folge nur in Analogie zu den Handlungsfeldern der Energieerzeugung und der Entsorgung diskutiert.
 
Literature
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Metadata
Title
Kernenergie – all things considered? Zu den Akzeptabilitätsdimensionen ihrer zivilen Nutzung
Author
Christian Loos
Copyright Year
2024
Publisher
Springer Berlin Heidelberg
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-662-64989-3_9