Skip to main content
Top
Published in: Organisationsberatung, Supervision, Coaching 1/2023

Open Access 05-12-2022 | Hauptbeiträge

Konfliktmanagement von interpersonellen und Intragruppenkonflikten in virtuellen Sitzungsformaten – Eine explorative Studie

Author: Marleen Birkmann

Published in: Organisationsberatung, Supervision, Coaching | Issue 1/2023

Activate our intelligent search to find suitable subject content or patents.

search-config
loading …

Zusammenfassung

Die Bildung virtueller Teams nimmt durch die Digitalisierung, Internationalisierung sowie die pandemische Lage stetig zu. Dies bringt viele Vorteile, aber auch ein gesteigertes Konfliktpotenzial mit sich. Folglich gewinnen Konfliktmanagementstrategien für virtuelle Sitzungsformate zunehmend an Relevanz. Im Folgenden wird ein praxisrelevanter Handlungsleitfaden für virtuelles Konfliktmanagement dargelegt. Dabei wird deutlich, dass es von besonderer Bedeutung ist, eine realitätsnahe Begegnungssituation durch Videokonferenzen, die Ausschöpfung der technischen Möglichkeiten sowie die verstärkte Kommunikation der eigenen Wahrnehmung und Emotionen, zu schaffen.

1 Einleitung

In Deutschland hat aufgrund der pandemischen Lage und der gesetzlichen Änderungen des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) sowie der zunehmenden Internationalisierung und Globalisierung die Nutzung des Homeoffice erheblich zugenommen (De’ et al. 2020). Als Folge dessen gehen zahlreiche Arbeitnehmer1 ihrer Tätigkeit von zu Hause aus nach, und Teams, die zuvor zusammen in einem Büro arbeiteten, werden zu virtuellen Teams (Paul et al. 2021). Neben dem physischen Arbeitsort wird auch die Kommunikation mit Kollegen, Vorgesetzten oder Kunden nahezu vollständig in die digitale Welt verlagert (De’ et al. 2020). Obwohl das virtuelle Arbeiten viele Vorteile mit sich bringt, wie das Potenzial der effizienteren Erreichung der Arbeitsziele (Morrison-Smith und Ruiz 2020), erfolgt oft keine vollumfängliche Ausschöpfung dieses Potenzials (Ayoko et al. 2012). Als Ursache kann das gesteigerte Konfliktpotenzial z. B. aufgrund von Missverständnissen (Hinds und Mortensen 2005) oder der fehlenden nonverbalen Kommunikation (Morrison-Smith und Ruiz 2020) genannt werden. Die Digitalisierung der Teamarbeit schafft eine zusätzliche Herausforderung, mit diesen Konflikten umzugehen und diese zu bewältigen (Caputo et al. 2019). Jedoch sind etablierte Konfliktmanagementstrategien für face-to-face-Teams nicht uneingeschränkt auf virtuelle Teams transferierbar (Griffith et al. 2003). Auch wenn kein vollständig neues Verständnis der Teamprozesse für virtuelle Teams entstehen muss (Schaubroeck und Yu 2017), ist es notwendig, Konfliktmanagementstrategien abzuwandeln oder neue Konfliktmanagementstrategien für die virtuelle Teamarbeit zu entwickeln (de Guinea et al. 2012; Griffith et al. 2003). Als Grund können Faktoren wie z. B. eine geringe soziale Präsenz genannt werden, die einen entscheidenden Einfluss auf die virtuelle Teamarbeit nehmen (Montoya-Weiss et al. 2001).
Während die Forschungsliteratur primär Konfliktprävention im virtuellen Kontext thematisiert, ist wenig über konkrete Konfliktmanagementstrategie für das virtuelle Umfeld bekannt (Hinds und Bailey 2003). In der aktuellen Forschung basieren virtuelle Konfliktmanagementtechniken primär auf theoretischen Schlussfolgerungen und weniger auf empirischen Erkenntnissen. Da wenig Evidenz existiert, besteht ein Forschungspotenzial (Kahlow et al. 2020). Folglich ist die Entwicklung praktikabler Konfliktbearbeitungsstrategien für den virtuellen Kontext notwendig, um ein effektives Konfliktmanagement zu begünstigen und entsprechende Maßnahmen zu konzipieren (Kahlow et al. 2020; Martínez-Moreno et al. 2015).
Daraus resultiert folgende Forschungsfrage, die in diesem Artikel beantwortet wird: Wie können interpersonelle und Intragruppenkonflikte in virtuellen Sitzungsformaten effektiv behandelt werden? Der Artikel präsentiert einen praxisrelevanten Handlungsleitfaden für das virtuelle Konfliktmanagement in Hinblick auf interpersonelle und Intragruppenkonflikte. Somit kann das Verständnis virtuellen Konfliktmanagements deutlich verbessert werden. Da prognostiziert wird, dass die Homeoffice-Nutzung auch zukünftig aufgrund gesundheitlicher Bedenken sowie betrieblicher Effizienzsteigerung bestehen bleibt (Turesky et al. 2020), wird die aufgezeigte Problemstellung auch nach der Pandemie nicht an Relevanz verlieren.

2 Theoretischer Hintergrund

2.1 Virtuelle Teams und Konflikte

Da zahlreiche Definitionen virtueller Teams existieren, werden im Rahmen dieses Beitrags virtuelle Teams folgendermaßen definiert: „Teams whose members use technology to varying degrees in working across locational, temporal, and relational boundaries to accomplish an interdependent task“ (Martins et al. 2004, S. 808). Der Artikel fokussiert virtuelles Konfliktmanagement, sodass hybride Teams mit einer „Online-Offline-Zusammensetzung“ (Bernardy et al. 2021) nicht tiefergehend thematisiert werden. Zur Differenzierung der Virtualität werden die drei Dimensionen nach Kirkman und Mathieu (2005, S. 702) betrachtet: „a) Das Ausmaß, in dem Teammitglieder virtuelle Werkzeuge zur Koordination und Ausführung von Teamprozessen nutzen, b) den Umfang des Informationswertes der Werkzeuge und c) die Synchronität der virtuellen Interaktion.“
Obwohl Konflikte ein allgegenwärtiges Phänomen bei der Arbeit in Teams sind (Liu et al. 2008), gibt es in der Literatur keine allgemeingültige Definition eines Konflikts (Rahim 2001), sondern eine große Bandbreite von Konfliktdefinitionen (Glasl 2013). Neben allgemeiner gefassten Aspekten wie Ziel- bzw. Interessensgegensätzen oder Spannungssituationen zwischen zwei Individuen (ebd.) werden auch Komponenten wie Ressourcen, affektive oder kognitive Zustände (Pondy 1967) thematisiert. Konflikte können unter Betrachtung diverser Aspekte differenziert werden. Bezüglich der Konfliktparteien kann zwischen intrapersonellen und interpersonellen Konflikten, Intragruppen- und Intergruppenkonflikten unterschieden werden (Nowak 2005). Dieser Artikel fokussiert interpersonelle Konflikte (Konflikte zwischen zwei oder drei Personen) und Intragruppenkonflikte (Konflikte innerhalb von Gruppen). Darüber hinaus können Konflikte auf Basis charakteristischer Elemente in Beziehungs‑, Aufgaben- und Prozesskonflikte differenziert werden (Jehn 1997).

2.2 Konfliktmanagement in Teams

Konfliktmanagement kann als Prozess betrachtet werden, welcher die Wahrnehmung eines inakzeptablen Prozesses, das Diagnostizieren der Konfliktquelle sowie die Intervention umfasst (Kilmann und Thomas 1978). Ein effektives Konfliktmanagement ist von hoher Bedeutung, da dieses die Gruppenergebnisse und folglich die gesamte Organisation positiv beeinflusst (Rispens et al. 2021). Die folgenden vier Modelle wurden im Rahmen der durchgeführten Studie fokussiert:
1.
Das normative Modell nach Walton bildet mit den beiden Phasen der „Differenzierung“ und der „Integration“ das Grundmuster für die effektive Bearbeitung eines Konflikts. Die Differenzierungsphase dient im Kern der Darlegung der verschiedenen Sichtweisen der Konfliktparteien (Walton 1969), um ein gegenseitiges Verständnis und eine Akzeptanzbasis zu schaffen (Folger et al. 2021). Nach erfolgreichem Durchlauf der Differenzierungsphase beginnt häufig die Integrationsphase (ebd.). Diese fördert das Herausfiltern möglicher Optionen und die Lösungsfindung (Walton 1969).
 
2.
Das Phasenmodell der Eskalation nach Glasl verdeutlicht mittels Abwärtsbewegung die zunehmenden Turbulenzen in einem Konflikt. Die neun Stufen sind in drei Phasen gegliedert: Die „win-win“ Phase (Stufen eins bis drei), die „win-lose“ Phase (Stufen vier bis sechs) und die „lose-lose“ Phase (Stufen sieben bis neun). Jeder Phasenübergang ist von einem Wendepunkt gekennzeichnet, der die Wahrnehmung und das Verhalten der Konfliktparteien maßgeblich verändert. Die neun Stufen sind folgende: 1) Verhärtung, 2) Debatten und Polemik, 3) Taten statt Worte, 4) Images und Koalitionen, 5) Gesichtsverlust, 6) Drohstrategien und Erpressung, 7) begrenzte Vernichtungsschläge, 8) Zersplitterung und totale Zerstörung und 9) gemeinsam in den Abgrund (Glasl 2013).
 
3.
Das „Dual-Concern-Modell“ stellt ein zweidimensionales Konfliktmanagementmodell dar (Carnevale und Pruitt 1992; Rahim 1983; Thomas 1992), in dem die vier bzw. fünf Konfliktstile anhand zweier Dimensionen eingeordnet werden: „Sorge um sich selbst“ und „Sorge um die anderen“. Die Dimensionen beschreiben, inwieweit ein Individuum darauf bedacht ist, seine eigenen Bedürfnisse durchzusetzen bzw. den Fokus auf die Bedürfnisse der anderen Konfliktparteien legt (Verlauf von schwach zu stark). Im vorliegenden Beitrag wird von fünf Konfliktstilen ausgegangen: Integrierender/kollaborativer, vermeidender, dominierender, entgegenkommender und kompromissbereiter Stil (Rahim 2002).
 
4.
Mit dem Strategie- und Rollenmodell der Konfliktbehandlung stellt Glasl (2013) eine Verbindung zwischen der auf dem Phasenmodell basierenden Konflikthärte und angebrachten Interventionen her. Konflikte der ersten drei Stufen können noch gruppenintern gelöst werden, spätestens ab Stufe vier ist professionelle Hilfe für das Konfliktmanagement sinnvoll (Glasl 2013).
 

2.3 State of the Art: Konflikte und Konfliktmanagement in virtuellen Teams

Die Forschung zu Konflikten und Konfliktmanagement hat in den letzten Jahren große Relevanz gewonnen, wie die bibliometrische Analyse von Caputo et al. (2019) zeigt. Dennoch besteht noch großer Forschungsbedarf, bei dem auch virtuelle Teams ein neues Forschungsgebiet darstellen (ebd.). Zudem sind die bestehenden empirischen Erkenntnisse zu Konfliktpotenzial, -häufigkeit, -wirkung und -management innerhalb virtueller Teams inkonsistent.
Verschiedene Studien sowie Metaanalysen demonstrieren, dass in virtuellen Teams im Vergleich zu face-to-face-Teams ein höheres Konfliktpotenzial und Konflikthäufigkeit existieren (de Guinea et al. 2012; Hinds und Bailey 2003; Hinds und Mortensen 2005). Die aufgezeigten Gründe für das gesteigerte Konfliktpotenzial umfassen u. a. Missverständnisse (Hinds und Mortensen 2005), Fehlinterpretationen (Griffith et al. 2003), der fehlende gemeinsame physische Kontext (Folger et al. 2021), aber auch die fehlende nonverbale Kommunikation (Morrison-Smith und Ruiz 2020) und die geringe spontane Kommunikation (Hinds und Mortensen 2005). Gerade Kommunikationsprobleme sind eine wesentliche Ursache für das Aufkommen von Konflikten (Folger et al. 2021). Dennoch zeigen Ayoko et al. (2012), dass sich kognitive Konflikte positiv auf die Teamleistung auswirken können, indem sie die Neubewertung bestehender Informationen begünstigen.
Neben dem erhöhten Konfliktpotenzial besteht in virtuellen Teams ebenso eine höhere Schwierigkeit bei der Konfliktbewältigung (Hinds und Bailey 2003; Hinds und Mortensen 2005). Montoya-Weiss et al. (2001) stellen heraus, dass sich die verschiedenen Konfliktmanagementstile nach Rahim (1983) und Kilmann und Thomas (1978) in virtuellen Teams im Vergleich zu face-to-face-Teams in unterschiedlicher Weise auf die Teamleistung auswirken. Dennoch kann ein kollaborativer Konfliktmanagementstil auch bei virtuellen Teams grundsätzlich die Leistung verbessern (Paul et al. 2018). Jedoch nutzen virtuelle Teams diesen Konfliktmanagementstil signifikant seltener als face-to-face-Teams, da die physische Distanz das Bedürfnis nach erlebter Gemeinsamkeit mindert (Walter und Meluch 2012). Obwohl zahlreiche Autoren die Notwendigkeit betonen, ein effektives virtuelles Konfliktmanagement zu fördern (de Guinea et al. 2012; Liu et al. 2008; Turesky et al. 2020), werden in den Studien keine konkreten Umsetzungsmöglichkeiten dargelegt (Hinds und Bailey 2003; Hinds und Mortensen 2005; Liu et al. 2008).
Dennoch wurde gezeigt, dass selbstgesteuerte Teamtrainings ein gutes Instrument darstellen, um einen konstruktiven Umgang mit Konflikten zu fördern (Martínez-Moreno et al. 2015). Auch technische Hilfsmittel können bei der Bearbeitung aufkommender Konflikte und der Konsensfindung förderlich sein, z. B. die Techniken „Repertory Grid“ und „Delphi Technik“ (Chiravuri et al. 2011). Ebenso existieren spezifische Softwares für virtuelles Konfliktmanagement, wie die Software CAI World (Berninger-Schäfer 2018).

3 Forschungsmethodisches Vorgehen

3.1 Erhebungsinstrument, Stichprobe und Datenerhebung

In der vorliegenden Studie wurde das Experteninterview als Erhebungsinstrument angewendet. Die Interviews wurden halbstrukturiert mit einem Leitfaden durchgeführt. Dieser thematisiert die vier inhaltlichen Themenblöcke „geeignete Methoden für das virtuelle Konfliktmanagement“, „Vorbereitung für die Durchführung von virtuellem Konfliktmanagement“, „konkrete Durchführung des virtuellen Konfliktmanagements“ und „Grenzen/Hindernisse bei virtuellem Konfliktmanagement“.
Es wurde eine absichtsvolle Stichprobenziehung mittels vordefinierter fixer Kriterien angewendet (Schreier 2020): explizites Angebot für Konfliktmanagement virtueller Teams bzw. Durchführung von virtuellem Konfliktmanagement, fachspezifische Aus‑/Weiterbildung (Konfliktcoaching, Mediation o. Ä.), falls möglich (wirtschafts)psychologischer Hintergrund und ca. fünf Jahre Berufserfahrung. Die sieben Einzelinterviews wurden zwischen Juni und Juli 2021 telefonisch oder per Zoom durchgeführt, dauerten zwischen 35 und 50 Minuten und wurden zur Verschriftlichung und besseren Auswertung aufgezeichnet. Diese wurden mit der Software MAXQDA2020 manuell transkribiert.

3.2 Datenauswertung

Die Daten wurden mittels inhaltlich strukturierender qualitativer Inhaltsanalyse (ISQIA) nach Kuckartz (2018) in MAXQDA2020 ausgewertet. Das Gesamtmaterial wurde, wie von Schreier (2014) empfohlen, mit deduktiven (theoriegeleiteten) Oberkategorien und induktiven (am Material generierten) Unterkategorien codiert. Die Analyse der empirischen Daten erfolgte anhand berichteter Inhalte der Haupt- und Subkategorien im Rahmen der kategorienbasierten Auswertung.
Zur Beurteilung der Qualität der Studie wurden die Gütekriterien für qualitative Forschung nach Steinke (1999, 2007) angewendet: intersubjektive Nachvollziehbarkeit, Indikation der Methode, empirische Verankerung, Limitation, reflektierte Subjektivität, Kohärenz und Relevanz. Diese konnten zum großen Teil gewährleistet werden. Des Weiteren wurde mit MAXQDA die Intrarater-Reliabilität berechnet (Rädiker und Kuckartz 2019). Für die Übereinstimmung auf Segmentebene konnte bei einer Codeüberlappung von 80 % ein Kappa nach Brennan und Prediger (1981) von 0,68 berechnet werden. Damit liegt der Wert zwischen 0,61 und 0,80 und wird in Anlehnung an Landis und Koch als gut eingestuft (Landis und Koch 1977). Dies zeigt die Stabilität des angewendeten Verfahrens (Mayring 2020).

4 Vorstellung der zentralen empirischen Ergebnisse

4.1 Vorbereitung für das virtuelle Konfliktmanagement

Technologievermitteltes Kommunikations-Tool
In den Experteninterviews wurden ausnahmslos Videokonferenz-Tools für virtuelles Konfliktmanagement wie MS Teams oder Zoom empfohlen. Auch die Software CAI World, die ein spezifisches Konfliktmanagement-Tool integriert, wird im virtuellen Kontext verwendet. Vereinzelt wurde explizit von der E‑Mail-Nutzung zur Konfliktklärung abgeraten. Im Prozess selbst können virtuelle Gruppenräume (Break-out-Rooms), virtuelle Whiteboards oder die Chatfunktion genutzt werden.
Unterschiede face-to-face – virtuell
Bezüglich der größten Unterschiede zwischen dem virtuellen und dem face-to-face-Kontext vertrat ein Teil der Experten die Auffassung, dass das virtuelle Umfeld mehr Konfliktpotenzial und andere Konfliktherde mit sich bringt als das Arbeiten in Präsenz. Die genannten Gründe sind der starke Fokus auf die Sachebene und das Vernachlässigen von Beziehungsthemen. Das Bewusstsein für die physische Trennung der Teilnehmer sowie die fehlende räumliche Verankerung ist besonders wichtig. Als Grund ist z. B. das einfache Verlassen des Konfliktbearbeitungsprozesses und das kaum mögliche „Zurückholen“ der betreffenden Person zu nennen. Zudem entstehen im virtuellen Kontext keine zufälligen Treffen oder Begegnungen, die im face-to-face-Kontext als Klärungsmöglichkeit für Missverständnisse dienen und Konflikten entgegenwirken. Diese Möglichkeit entfällt im virtuellen Umfeld nahezu vollständig.
Rahmenbedingungen
Zu den „technischen Rahmenbedingungen“ gehören ein eigenes funktionierendes Gerät inklusive Kamerafunktion sowie eine gute Internetverbindung. Zudem muss eine störungsfreie Umgebung ohne weitere anwesende Personen gewährleistet sein, ablenkende technische Geräte, Programme oder Hintergrundgeräusche sollen ausgeschaltet sein, und ein ausreichender Zeitrahmen ist notwendig. Mit Blick auf die geplanten Tools der Intervention muss die intervenierende Person vorher die digitale Reife der Teilnehmer erschließen, um die Effektivität des Prozesses aufgrund von technischen Schwierigkeiten nicht einzuschränken. Speziell für den virtuellen Kontext werden in den Auftragsklärungsgesprächen die genutzten Tools sowie die Art der Zusammenarbeit z. B. asynchron oder synchron abgestimmt.
Vor der Intervention muss eine grundsätzliche Analyse der (Konflikt)Situation erfolgen, die sich jedoch kaum von der Analyse in der Präsenzsituation unterscheidet. Lediglich die stärkere Gewichtung von Vorabinterviews mit den Beteiligten ist im virtuellen Kontext als Unterschied zu nennen. Ebenso ist es besonders wichtig, Vertrauen und Sicherheit durch eine transparente Darlegung des Prozesses herzustellen. Während des gesamten Prozesses muss die Allparteilichkeit durch die intervenierende Person gewahrt und betont werden. Für die virtuelle Situation wurde explizit die Notwendigkeit hervorgehoben, dass die intervenierende Person die Überzeugung vertritt, dass der Prozess im virtuellen Kontext ebenfalls umsetzbar ist.

4.2 Empfehlungen zur Durchführung der Intervention

4.2.1 Interventionsmöglichkeiten und Durchführung zur Konfliktbearbeitung

Die genannten Interventionsmöglichkeiten sind größtenteils dieselben oder sehr ähnlich zu den in der Präsenz eingesetzten Methoden und sind mit spezifischen Adaptionen auch in virtuellen Sitzungsformaten gut anwendbar. Genannt wurden das moderierte Gespräch, die Konfliktmediation, die Klärungshilfe als spezifische Form der Mediation, das allgemeine Führen von Gesprächen sowie grundsätzlich systemisch lösungsorientierte und prozessorientierte Interventionen. Gerade im Rahmen eines systemisch lösungsorientierten Prozesses finden mithilfe der Software CAI World verschiedene Tools wie Ressourcenbäume, SWOT-Analysen oder wertschätzende Interviews als Interventionsmöglichkeiten Anwendung. Gerade für virtuelle Sitzungsformate wurde die Arbeit mit Bildern als gute Interventionsmöglichkeit genannt, da diese eine Hilfestellung für Personen bietet, die ihre Emotionen weniger gut verbalisieren können. Eine weitere Interventionsmöglichkeit ist das Teilen der Gruppe mittels Break-out-Rooms, um eine emotionale Entzerrung und einen fokussierten Austausch zu ermöglichen. Diesbezüglich wurden Bedenken geäußert, dass eine einzige intervenierende Person nicht in allen Gruppen gleichzeitig anwesend sein kann, wodurch ein geringerer Einfluss auf die Gruppendynamik in den Subgruppen besteht.
Für den virtuellen Kontext wurde empfohlen, dass die intervenierende Person als erste den virtuellen Raum betritt bzw. die Videokonferenz startet. Zudem müssen die Zeiten im virtuellen Umfeld anders getaktet, häufiger kleine Pausen eingelegt und der ganze Termin zeitlich stärker strukturiert, aber gleichzeitig kürzer gehalten werden. Der Grund ist die kürzere Konzentrationsspanne aufgrund der virtuellen Umgebung. Es wurde empfohlen, zu Beginn den Teilnehmern die Möglichkeit zu zeigen, die Sicht auf ihr eigenes Bild auszuschalten, sodass sie nur die anderen Personen sehen. Für ein stärkeres Miteinander sollte der Vollbildmodus eingeschaltet werden.
Im virtuellen Kontext kann während der Intervention mit der Ein- und Ausschaltfunktion der Kamera gearbeitet werden, sodass z. B. beim Darlegen der Standpunkte die andere Konfliktpartei das Bild ausschaltet, um einen stärkeren Fokus auf die berichtende Person zu legen. Des Weiteren ist zu empfehlen, Gedanken, verstandene Inhalte oder Reflexionen z. B. auf einem Concept Board zu dokumentieren. Schließlich wurde der Wunsch geäußert, sich kurz und zügig zu verabschieden und bedarfsabhängig einen Follow-up-Termin zu vereinbaren. Dabei sollte die intervenierende Person als Letzte den virtuellen Raum verlassen, „damit diejenigen, die vielleicht noch was auf dem Herzen haben, die Möglichkeit haben, mich anzusprechen, direkt im Anschluss, ja, falls noch etwas zu klären wäre“ (Interview_B4, Pos. 182–185).
Die genannten Grundregeln lassen sich in die zwischenmenschliche und die technische Komponente differenzieren. Neben allgemeingültigen zwischenmenschlichen Grundregeln wie ausreden lassen und zuhören ist im virtuellen Kontext die Absicherung der Vertraulichkeit und Verschwiegenheit besonders wichtig. Der Grund ist die geringe Kontrollmöglichkeit über die Anwesenheit weiterer Personen oder die Aufzeichnung von Gesprächen. Für eine stärkere Verbindlichkeit kann dies durch die Teilnehmer im Chat schriftlich bestätigt werden. Als explizit für den virtuellen Kontext geltende technische Grundregeln nannten die Interviewten das Stummschalten des Mikrofons sowie Handzeichen für Wortmeldungen. Das Anschalten der Kamera wurde im Konsens als Pflicht für die Teilnehmer postuliert.

4.2.2 Herausforderungen der virtuellen Umgebung – Emotionen, Wahrnehmung, Missverständnisse und die eingeschränkte spontane Kommunikation

Wie in Präsenz besteht auch für virtuelle Sitzungsformate die Empfehlung, aufkommende Emotionen vorerst positiv und wertschätzend zu betrachten und Techniken wie „Spiegeln“ und „Doppeln“ anzuwenden. Bei persönlichen Angriffen muss die konfliktklärende Person intervenieren. Spezifisch für die virtuelle Situation kann die Nutzung von Break-out-Rooms durch die Teilung der Gruppe zur emotionalen Entzerrung und einem schnelleren Fokus auf das eigentliche Konfliktthema dienen.
Unter der Voraussetzung einer eingeschalteten Kamera wurde die Einschränkung in der Wahrnehmung der nonverbalen Kommunikation zum Teil von den Interviewten als weniger stark beschrieben, da „die gänzliche Emotion (…) ja [über den] Gesichtsausdruck [läuft]. Der ist ja auch virtuell da. Und ich hab dann schon den Eindruck, dass man virtuell schon auch merkt, ob jemandem etwas gefällt oder nicht gefällt“ (Interview_B2, Pos. 227–229). Dennoch nannten einige Befragte eine Einschränkung der nonverbalen Kommunikation aufgrund der virtuellen Umgebung. Dabei sind das „verstärkte (…) Gucken und Nachfragen und am Anfang auch Kommunizieren, dass eben ein Stück von unserer Wahrnehmung wegfällt durch das Virtuelle“ (Interview_B6, Pos. 233–234) hilfreich. Ebenso können das Beschreiben, Erläutern und Hinterfragen der eigenen Wahrnehmung ohne vorschnelle Interpretation wirkungsvolle Mittel sein, um die Einschränkungen abzufangen oder in Teilen zu kompensieren. Zudem können Befindlichkeitsrunden und Stimmungsabfragen die jeweilige Stimmung erfassen und einen Eindruck in die Gefühlslage der Beteiligten geben. Des Weiteren wurde argumentiert, dass das genaue Fokussieren auf die Stimmen der Teilnehmer gute Eindrücke trotz eingeschränkter nonverbaler Reize gibt, da der Tonfall, die Lautstärke und Stimmfarbe hörbar sind. Auch technische Möglichkeiten, wie die Verwendung von Emoticons (Daumen hoch, Klatschfunktion, lächelnder Smiley), ebenso wie die Mimik und Gestik vor der Kamera unterstützen das Ausdrücken der eigenen Gefühle und Reaktionen im virtuellen Kontext.
Auftretende Missverständnisse können im virtuellen Kontext durch gezielte Fragetechniken wie W‑Fragen und offene Fragen geklärt werden. Auch die Abfrage von Negativpunkten sowie das explizite Einholen von Feedback hilft, Missverständnisse zu erkennen und zu klären. Ebenso kann das Ausschöpfen der technischen Möglichkeiten, z. B. die Verwendung von Emoticons oder auch das Zeigen nonverbale Reaktionen vor der Kamera wie einen Daumen hoch, lächeln oder nicken Missverständnissen entgegenwirken.
Die geringe spontane Kommunikation im virtuellen Kontext fand im Vergleich zu den anderen Themen wenig Beachtung. Die genannte Erklärung ist, dass die Teilnehmer im Laufe des Konfliktbearbeitungsprozesses einen Punkt erreichen, an dem sie besprochene Inhalte nicht unkommentiert lassen oder ihren Standpunkt ebenfalls kundtun wollen. Dennoch kann spontane Kommunikation durch gezieltes Ansprechen gefördert werden. Grundsätzlich können für den virtuellen Arbeitsraum Messenger-Dienste oder Konzepte wie Silent Working Hours eingesetzt werden, um die spontane Kommunikation zu begünstigen. Dabei befinden sich die Mitarbeiter zusammen in einem virtuellen Meeting, jedoch ohne einen konkreten Termin zu haben. Jeder hat die Kamera und das Mikrofon eingeschaltet, aber arbeitet für sich. Dies kann den spontanen Austausch fördern.

4.3 Medieneinfluss und Grenzen des virtuellen Konfliktmanagements

4.3.1 Medieneinfluss

Der „Medieneinfluss“ beschreibt alle Veränderungen im Verhalten, der Meinung oder Einstellung der Teilnehmer oder der intervenierenden Person(en) aufgrund der genutzten Medien im Vergleich zum Präsenztreffen. Trotz auftretender Vorbehalte der Teilnehmer in Hinblick auf die Umsetzungsmöglichkeit der virtuellen Konfliktbearbeitung nannten die Interviewten viele positive Einflussmöglichkeiten der genutzten Medien auf die Teilnehmer im virtuellen Kontext:
1.
Der Prozess wird zum Teil als wesentlich intensiver wahrgenommen, da der Kameraausschnitt in der Regel nur das Gesicht zeigt und somit mehr Fokus gibt.
 
2.
Im Prozess entstehen eine größere Offenheit und ehrlichere Antworten. Es besteht die Annahme, dass das persönliche Umfeld der Teilnehmer eine größere Sicherheit und Schutz bietet. Zudem wird die Distanz zum Konfliktpartner durch den virtuellen Kontext als größer wahrgenommen. Dadurch kann einerseits eine emotionale Entzerrung erlangt werden; andererseits wird die Individualität erhalten. Man kann vermuten, dass in der Präsenzsituation einige Menschen schneller geneigt sind, sich der Gruppenidentität und -dynamik anzupassen. Durch den virtuellen Kontext und den damit verbundenen Abstand zu den anderen Teilnehmern fällt es ihnen leichter, die eigenen Bedürfnisse und Standpunkte zu äußern.
 
3.
Der virtuelle Raum hat den Vorteil, dass negative Stimmungen als weniger intensiv wahrgenommen werden, wodurch eine schnellere Rückkehr in eine effektive Arbeitsatmosphäre realisierbar ist. Auch die Hemmungen bei der Nutzung virtueller Werkzeuge ist geringer, da z. B. das parallele Arbeiten an digitalen Whiteboards möglich ist.
 
Die Experten berichteten ebenfalls vom Einfluss der Medien auf das Kommunikationsverhalten. Der virtuelle Raum bietet durch seine stärkere Strukturierung den Vorteil, dass gerade introvertierte Personen sich den Rederaum nicht eigenständig nehmen müssen. Extravertierte oder sehr präsente Persönlichkeiten disziplinieren sich stärker und fassen sich im Redefluss kürzer.
Teilweise wurde explizit von der Nutzung von E‑Mails abgeraten. Als Grund wurden die Risiken der (vorschnellen) (Fehl‑) Interpretation und das Entstehen von Missverständnissen genannt, da die Interpretation der E‑Mail-Inhalte stark von der Stimmung des Lesers beeinflusst werden. Ebenso steigt das Eskalationspotenzial mit der Nutzung von E‑Mails oder dem Telefon, da die Zurückhaltung kritischer Aussagen aufgrund des fehlenden Augenkontakts sinkt. Der limitierte Kameraausschnitt kann ebenfalls dazu führen, dass durch die unvollständige Wahrnehmung und das fehlende Gesamtbild einer Person vorschnelle negative Beurteilungen entstehen.
Auch das Risiko, dass sich Teilnehmer dem Prozess entziehen, was durch die Mediennutzung ermöglicht wird, sollte Beachtung finden. Die intervenierende Person sollte diese Problematik thematisieren und einen entsprechenden Umgang im Vorfeld festlegen, wie z. B. das Stoppen des Prozesses.

4.3.2 Grenzen und Hindernisse

In den Interviews wurde oft argumentiert, dass auch in Präsenzsituationen nicht jeder Konflikt lösbar sei und eine Trennung manchmal die beste Lösung darstelle. Jedoch wurde für den virtuellen Kontext die eingeschränkte Wahrnehmung aufgrund des limitierten Bildausschnittes als größtes Hindernis bezeichnet. Die genannten Gründe sind die daraus resultierenden fehlerhaften Einschätzungen des Gegenübers sowie ein Informationsverlust. Auch das Spüren der Atmosphäre, Anspannung und Emotionen sowie die Analyse der Atmung wird durch die virtuelle Umgebung erschwert bzw. ist nicht umsetzbar. Folglich ist „gerade bei dem Thema Konflikte tatsächlich das Medium der Wahl das Präsenztreffen“ (Interview_B7, Pos. 86). Diese Einschätzung wurde jedoch nicht einheitlich geteilt, da der größte Teil der Wahrnehmung über die obere Körperhälfte abläuft, die virtuell sichtbar ist. Somit können viele Veränderungen in den Emotionen oder in der Stimmung auch virtuell wahrgenommen werden. Die dargelegten Hilfestellungen zeigen, dass ein bedingtes Abfangen der Konsequenzen eingeschränkter nonverbaler Kommunikation möglich ist.
Zudem wurde berichtet, dass die Einschätzung der Konflikthärte im virtuellen Kontext schwieriger sei, da diese häufig über- oder unterschätzt werde. Ein Teil der Interviewten sieht weitere Grenzen in hohen Eskalationsstufen (ab Stufe sechs nach Glasl) und spricht sich ab dieser Stufe für ein Treffen in Präsenz aus. Auch die Gruppengröße wurde von einer Person als Grenze genannt. Sie erläuterte, dass bis zu 20 Personen an einer Mediation in Präsenz teilnehmen, im Virtuellen sechs bis sieben Teilnehmer. Schließlich wurde mit Blick auf die Grenzen zu bedenken gegeben, dass im Falle eines nicht lösbaren Konflikts nicht geschlussfolgert werden sollte, dass die virtuelle Umsetzung „grundsätzlich schlechter ist als in der Präsenz. Sondern ich würde dann eher über das Format nachdenken“ (Interview_B7, Pos. 254–255).

5 Diskussion der Ergebnisse

5.1 Einordnung der Ergebnisse in die Literatur

Mit Blick auf den Grad der Virtualität nach Kirkman und Mathieu (2005) zeigt sich, dass die Interviewten im Konsens einen möglichst niedrigen Grad der Virtualität für die virtuelle Konfliktbearbeitung empfehlen. Dies drückt sich z. B. in der einstimmigen Empfehlung einer Videokonferenz aus, um eine möglichst realitätsnahen Begegnungssituation zu schaffen. Bezüglich der genannten Methoden kann herausgestellt werden, dass in Übereinstimmung mit der Aussage von Schaubroeck und Yu (2017) für das effektive virtuelle Konfliktmanagement keine neuen Methoden entwickelt, sondern Adaptionen für den virtuellen Kontext angewendet werden müssen. Somit widersprechen die Forschungsergebnisse der Aussage von Griffith et al. (2003), dass starke Unterschiede in der Konfliktbehandlung virtueller Teams im Vergleich zu face-to-face-Teams bestehen.
In allen Interviews sind die Kernaspekte der unter 2.2 dargelegten theoretischen Modelle erkennbar, was die Praxisrelevanz der Modelle auch im virtuellen Kontext verdeutlicht. Die konkrete Intervention erfolgt auf Basis der Ausbildung der Experten.
Verglichen mit den dargelegten Ergebnissen empirischer Forschung (z. B. Walter und Meluch 2012) schätzen die interviewten Experten den negativen Einfluss der virtuellen Umgebung als weniger drastisch ein. Als Ausnahme ist die bedingte Übereinstimmung der Expertenerfahrung und der Literatur in Hinblick auf das erhöhte Konfliktpotenzial im virtuellen Kontext (z. B. Hinds und Bailey 2003) zu nennen. Ebenso stehen die Expertenberichte über Kommunikationsprobleme und Fehlinterpretationen als Risiken der virtuellen Umgebung im Einklang mit der aktuellen Literatur (z. B. Folger et al. 2021). Dennoch konnten diverse Vorteile der virtuellen Konfliktbearbeitung herausgearbeitet werden.
In Übereinstimmung mit der Literatur (z. B. Martínez-Moreno et al. 2015) wurde verdeutlicht, dass für effektives virtuelles Konfliktmanagement ein ausreichender Raum für die Darlegung der Standpunkte und Bedürfnisse geboten werden muss.
Im Gegensatz zu der bestehenden Literatur (z. B. Hinds und Mortensen 2005; Morrison-Smith und Ruiz 2020) wurden spontane Kommunikation und der Umgang mit der Einschränkung dieser in den Interviews sehr wenig thematisiert. Dies deutet darauf hin, dass das Problem der geringen spontanen Kommunikation bei der Entstehung von Konflikten im virtuellen Kontext, jedoch nicht während des virtuellen Konfliktmanagements relevant ist. Die aufgezeigten Handlungsmöglichkeiten des effektiven Konfliktmanagements können ebenfalls die in der Literatur (z. B. de Guinea et al. 2012) postulierten Herausforderungen der stark eingeschränkten nonverbalen Kommunikation abfangen. Bei einer eingeschalteten Kamera sind Mimik und Gestik erkennbar, wodurch die nonverbale Kommunikation weniger stark eingeschränkt ist, als in der Literatur dargelegt. Jedoch fielen auch im Rahmen dieser Arbeit die Einschätzungen des negativen Einflusses der eingeschränkten nonverbalen Kommunikation und Wahrnehmung unterschiedlich stark aus. Dies könnte auf die verschiedenen Erfahrungen und die jeweilige Ausbildung der Experten zurückzuführen sein.

5.2 Implikationen für die Praxis

Zusammenfassend hat der Abschn. 5.1 gezeigt, dass die in der Literatur aufgezeigten Herausforderungen des virtuellen Konfliktmanagements virtueller Teams mithilfe der Expertenempfehlungen zum großen Teil abgefangen und eingedämmt werden. Somit lassen sich folgende Praxisimplikationen aus den Forschungsergebnissen ableiten:
1.
Für die virtuelle Konfliktbearbeitung ist eine möglichst realitätsnahe Begegnungssituation zu schaffen, indem ein Videokonferenz-Tool angewendet und das Einschalten der Kamera als Verpflichtung festgelegt wird. Zusätzlich ist es empfehlenswert, auf E‑Mails oder das Telefon bei der Konfliktklärung zu verzichten, um Fehlinterpretationen und das Entstehen von Missverständnissen zu vermeiden.
 
2.
Die intervenierenden Personen sollten sich die Einflüsse der genutzten Medien vor der Intervention bewusst machen, um so Vorteile wie die stärkere Offenheit, den Erhalt der Individualität und die Intensität des Konfliktbearbeitungsprozesses zu nutzen und die potenziellen Risiken wie das Verlassen des Prozesses einkalkulieren zu können.
 
3.
Die in der Literatur aufgezeigten Methoden wie das moderierte Gespräch oder die Mediation können mit spezifischen Adaptionen für den virtuellen Kontext, z. B. das Ein- und Ausschalten der Kamera, als Intervention angewendet werden. Entscheidend für die erfolgreiche Umsetzung ist dabei das technische Funktionieren der genutzten Geräte aller Beteiligten, das vor der Intervention geprüft werden muss. Methoden zur Konfliktanalyse inklusive des Führens von Auftragsklärungsgesprächen und Vorgesprächen können ohne große Veränderungen von der Präsenzdurchführung übernommen werden.
 
4.
Besonders wichtig sind die Kommunikation und das Hinterfragen der eigenen Wahrnehmung und Emotionen sowie das Abfragen der Stimmung und das Einholen von Feedback aller Beteiligten. Einerseits können dadurch die eingeschränkte Wahrnehmung und die damit verbundene geringere nonverbale Kommunikation zum Teil ausgeglichen werden; andererseits dient dies der Vorbeugung von Missverständnissen. Zusätzlich sollten die vorhandenen technischen Möglichkeiten vollends ausgeschöpft werden, um eine Effizienzsteigerung des virtuellen Konfliktbearbeitungsprozesses zu erreichen. Beispiele sind die Nutzung digitaler Whiteboards für die Dokumentation, Emoticons zur Verdeutlichung der eigenen Reaktionen, die Ein- und Ausschaltfunktion der Kamera als Interventionsmöglichkeit, die bedarfsabhängige Verwendung von Break-out-Rooms zur Entzerrung emotionaler Situationen oder die Verwendung des Chats für Rückmeldungen.
 
5.
Alle beteiligten Personen sollten sich bewusst machen, dass auch in der Präsenz nicht alle Konflikte lösbar sind, sodass keine unrealistischen Erwartungen an den virtuellen Konfliktbearbeitungsprozess gestellt werden. Dennoch ist zu empfehlen, ab der sechsten Eskalationsstufe nach Glasl (2013) (Drohstrategien und Erpressung) die Konfliktbearbeitung in einem Präsenzformat durchzuführen.
 

5.3 Limitationen und zukünftige Forschung

Als Limitation der vorliegenden Arbeit kann der forschungsmethodische Mangel, dass keine Interrater-Reliabilität, sondern nur eine Intrarater-Reliabilität berechnet wurde, genannt werden. Zwar liegt der berechnete Kappa-Wert in einem Bereich, der dem Codierleitfaden und der darauf basierenden Auswertung eine gute Qualität zuspricht, für eine aussagekräftigere Qualitätseinschätzung ist dennoch die Berechnung einer Interrater-Reliabilität notwendig (Mayring 2020). Insgesamt erfüllt die Studie jedoch die Anforderungen qualitativer Forschung.
Zudem kann die kleine Stichprobe als Limitation angesehen werden. Alle Interviewten weisen sowohl Erfahrungen mit Konfliktmanagement in der Präsenz als auch im virtuellen Kontext auf. Folglich konnte z. B. eine Perspektive, die ausschließlich auf virtuellem Konfliktmanagement basiert, nicht mit einbezogen werden. Zudem besteht die Einschränkung, dass nur Teile erfolgreichen virtuellen Konfliktmanagements ermittelt wurden und das Konstrukt nicht vollumfänglich erfasst wurde. Jedoch handelt es sich um eine explorative Studie ohne Anspruch an eine vollumfängliche Erfassung des Konstrukts vergleichbar mit der „Grounded Theory“ (Schreier 2020). Nichtsdestoweniger bietet die kleine Stichprobe erste hilfreiche Ansatzpunkte für effektives Konfliktmanagement in virtuellen Sitzungsformaten. Ein weiterer Aspekt, der zu einer positiven Verzerrung im Antwortverhalten geführt haben könnte, ist die Frage nach den Grenzen und Hindernissen, da die Experten indirekt die Grenzen und die potenzielle Kritik an der eigenen Arbeit aufzeigen mussten.
Zukünftige Forschung sollte die Grenzen virtuellen Konfliktmanagements weiter fokussieren, da von den Experten sehr unterschiedliche Grenzen genannt wurden (z. B. Eskalationsstufen, Gruppengröße). Deren genauere Betrachtung gibt weiteren Aufschluss über die Spezifika virtuellen Konfliktmanagements und mögliche Ansatzpunkte, um sowohl die eingesetzten Methoden und Adaptionen virtuellen Konfliktmanagements auszuweiten als auch die technische Entwicklung in Richtung virtuellen Konfliktmanagements voranzutreiben. Auch eine Vergleichsstudie zwischen virtuellem und face-to-face-Konfliktmanagement könnte weiteren Aufschluss über essenzielle Unterschiede geben, da die Vor- und Nachteile beider Settings herausgearbeitet und Trainings entsprechend konzipiert werden könnten. Die Ergebnisse könnten einen ersten Ansatzpunkt in Hinblick auf hybride Konfliktmanagementkonzepte geben.
Schließlich könnte zur Überprüfung der praktischen Umsetzbarkeit der herausgearbeiteten Empfehlungen eine Vergleichsstudie entwickelt werden, bei der ein Team die Handlungsempfehlungen erhält und ein weiteres als Vergleichsgruppe fungiert. Da die Befragten in ihrer Rolle als Mediator oder Berater eine umfassende Ausbildung auf diesem Gebiet absolviert haben, bleibt die Frage offen, ob die Empfehlungen auch für Teams und Führungskräfte umsetzbar sind, die keine vergleichbare Qualifikation aufweisen. Die spezifische Rolle der Führungskraft im Rahmen virtuellen Konfliktmanagements blieb in den Interviews größtenteils unberücksichtigt. Folglich sollte zukünftige Forschung die Rolle der Führungskraft beim virtuellen Konfliktmanagement näher betrachten. Der erarbeitete Handlungsleitfaden könnte ein Ansatzpunkt für Führungskräftetrainings sein, die ihre Teams bei der virtuellen Bearbeitung von Konflikten als schlichtende Partei unterstützen.

6 Fazit

Die qualitative Studie zu der Frage „Wie können interpersonelle Konflikte und Intragruppenkonflikte in virtuellen Sitzungsformaten effektiv behandelt werden?“ führte zur Erstellung eines praxisrelevanten Leitfadens für ein virtuelles Konfliktmanagement. Aus den Ergebnissen lässt sich schließen, dass etablierte theoretische Modelle sowie Methoden zur Konfliktanalyse und Interventionen auch für virtuelle Sitzungsformate relevant sind und angewandt werden. Folglich muss für die virtuelle Konfliktbearbeitung kein neues theoretisches Verständnis entwickelt werden.
Zusammenfassend zeigen die Ergebnisse, dass ein effektives virtuelles Konfliktmanagement eine möglichst realitätsnahe Begegnung durch die Nutzung von Videokonferenz-Tools verlangt. Die in der Literatur postulierten Einschränkungen und Risiken können mithilfe der Praxisimplikationen großenteils eingedämmt werden. Die dargelegten Vorteile des virtuellen Konfliktmanagements können sich Manager, Führungskräfte und Teams zunutze machen, um die virtuelle Zusammenarbeit zu verbessern und in diesem Rahmen entstehende Konflikte effektiv zu bearbeiten. Dennoch wurde die eingeschränkte Wahrnehmung nonverbaler Reize neben Konflikten ab der Eskalationsstufe sechs als Grenze des virtuellen Konfliktmanagements genannt. Weiterführende Forschung könnte an die aufgezeigten Grenzen anknüpfen, um sowohl methodische als auch technische Entwicklungen voranzubringen. Zudem stellen Vergleichsstudien eine gute Möglichkeit dar, um die Anwendbarkeit der Empfehlungen sowie deren Wirkung in der Praxis zu überprüfen.
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
Die in diesem Artikel enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbildungslegende nichts anderes ergibt. Sofern das betreffende Material nicht unter der genannten Creative Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschriften erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen.
Weitere Details zur Lizenz entnehmen Sie bitte der Lizenzinformation auf http://​creativecommons.​org/​licenses/​by/​4.​0/​deed.​de.

Our product recommendations

Organisationsberatung, Supervision, Coaching

Die Zeitschrift OSC ist ein internationales Diskussionsforum für eine qualifizierte Beratungspraxis. OSC widmet sich Innovationen in der Organisationsberatung, in der Supervision und im Coaching.

Footnotes
1
Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird im Folgenden ausschließlich das generische Maskulinum verwendet. Jegliche Personenbezeichnungen beziehen sich auf jegliche Geschlechter.
 
Literature
go back to reference Bernardy, V., Müller, R., Röltgen, A. T., & Antonio, C. H. (2021). Führung hybrider Formen virtueller Teams – Herausforderungen und Implikationen auf Team- und Individualebene. In S. Mütze-Niewöhner, W. Hacker, T. Hardwig, S. Kauffeld, E. Latniak, M. Nicklich & U. Pietrzyk (Hrsg.), Projekt- und Teamarbeit in der digitalisierten Arbeitswelt: Herausforderungen, Strategien und Empfehlungen (S. 115–138). Berlin: Springer Vieweg.CrossRef Bernardy, V., Müller, R., Röltgen, A. T., & Antonio, C. H. (2021). Führung hybrider Formen virtueller Teams – Herausforderungen und Implikationen auf Team- und Individualebene. In S. Mütze-Niewöhner, W. Hacker, T. Hardwig, S. Kauffeld, E. Latniak, M. Nicklich & U. Pietrzyk (Hrsg.), Projekt- und Teamarbeit in der digitalisierten Arbeitswelt: Herausforderungen, Strategien und Empfehlungen (S. 115–138). Berlin: Springer Vieweg.CrossRef
go back to reference Folger, J. P., Poole, M. S., & Stutman, R. K. (2021). Working through conflict: strategies for relationships, groups and organizations (9. Aufl.). New York: Routledge.CrossRef Folger, J. P., Poole, M. S., & Stutman, R. K. (2021). Working through conflict: strategies for relationships, groups and organizations (9. Aufl.). New York: Routledge.CrossRef
go back to reference Glasl, F. (2013). Konfliktmanagement: Ein Handbuch für Führungskräfte, Beraterinnen und Berater. Bd. 11. Bern: Haupt. aktual. Aufl. Glasl, F. (2013). Konfliktmanagement: Ein Handbuch für Führungskräfte, Beraterinnen und Berater. Bd. 11. Bern: Haupt. aktual. Aufl.
go back to reference Griffith, T. L., Mannix, E. A., & Neale, M. A. (2003). Conflict and virtual teams. In C. B. Gibson & S. G. Cohen (Hrsg.), Virtual teams that work: creating conditions for virtual team effectiveness (S. 335–352). San Francisco: Jossey-Bass. Griffith, T. L., Mannix, E. A., & Neale, M. A. (2003). Conflict and virtual teams. In C. B. Gibson & S. G. Cohen (Hrsg.), Virtual teams that work: creating conditions for virtual team effectiveness (S. 335–352). San Francisco: Jossey-Bass.
go back to reference Kuckartz, U. (2018). Qualitative Inhaltsanalyse. Methoden, Praxis, Computerunterstützung (4. Aufl.). Weinheim: Beltz Juventa. Kuckartz, U. (2018). Qualitative Inhaltsanalyse. Methoden, Praxis, Computerunterstützung (4. Aufl.). Weinheim: Beltz Juventa.
go back to reference Mayring, P. (2020). Qualitative Forschungsdesigns. In G. Mey & K. Mruck (Hrsg.), Designs und Verfahren 2. Aufl. Handbuch Qualitativer Forschung in der Psychologie, (Bd. 2, S. 3–17). Wiesbaden: Springer. erw. u. überarb. Aufl. Mayring, P. (2020). Qualitative Forschungsdesigns. In G. Mey & K. Mruck (Hrsg.), Designs und Verfahren 2. Aufl. Handbuch Qualitativer Forschung in der Psychologie, (Bd. 2, S. 3–17). Wiesbaden: Springer. erw. u. überarb. Aufl.
go back to reference Rädiker, S., & Kuckartz, U. (2019). Analyse qualitativer Daten mit MAXQDA: Text, Audio, Video. Wiesbaden: Springer.CrossRef Rädiker, S., & Kuckartz, U. (2019). Analyse qualitativer Daten mit MAXQDA: Text, Audio, Video. Wiesbaden: Springer.CrossRef
go back to reference Rahim, M. A. (2001). Managing conflict in organizations (3. Aufl.). Westport: Quorum Books. Rahim, M. A. (2001). Managing conflict in organizations (3. Aufl.). Westport: Quorum Books.
go back to reference Schreier, M. (2020). Fallauswahl. In G. Mey & K. Mruck (Hrsg.), Designs und Verfahren 2. Aufl. Handbuch Qualitativer Forschung in der Psychologie, (Bd. 2, S. 19–39). Wiesbaden: Springer. erw. u. überarb. Aufl. Schreier, M. (2020). Fallauswahl. In G. Mey & K. Mruck (Hrsg.), Designs und Verfahren 2. Aufl. Handbuch Qualitativer Forschung in der Psychologie, (Bd. 2, S. 19–39). Wiesbaden: Springer. erw. u. überarb. Aufl.
go back to reference Steinke, I. (1999). Kriterien qualitativer Forschung: Ansätze zur Bewertung qualitativ-empirischer Sozialforschung. Weinheim: Juventa. Steinke, I. (1999). Kriterien qualitativer Forschung: Ansätze zur Bewertung qualitativ-empirischer Sozialforschung. Weinheim: Juventa.
go back to reference Steinke, I. (2007). Qualitätssicherung in der qualitativen Forschung. In U. Kuckartz, H. Grunenberg & T. Dresing (Hrsg.), Qualitative Datenanalyse: Computergestützt: Methodische Hintergründe und Beispiele aus der Forschungspraxis (2. Aufl. S. 176–187). Wiesbaden: VS. überarb. u. erw. Aufl. Steinke, I. (2007). Qualitätssicherung in der qualitativen Forschung. In U. Kuckartz, H. Grunenberg & T. Dresing (Hrsg.), Qualitative Datenanalyse: Computergestützt: Methodische Hintergründe und Beispiele aus der Forschungspraxis (2. Aufl. S. 176–187). Wiesbaden: VS. überarb. u. erw. Aufl.
go back to reference Thomas, K. W. (1992). Conflict and conflict management: reflections and update. Journal of Organizational Behavior, 13(3), 265–274.CrossRef Thomas, K. W. (1992). Conflict and conflict management: reflections and update. Journal of Organizational Behavior, 13(3), 265–274.CrossRef
go back to reference Walter, H., & Meluch, A. (2012). Conflict management styles and argumentativeness: examining the differences between face-to-face and computer-mediated communication. Ohio Communication Journal, 50(1), 31–48. Walter, H., & Meluch, A. (2012). Conflict management styles and argumentativeness: examining the differences between face-to-face and computer-mediated communication. Ohio Communication Journal, 50(1), 31–48.
go back to reference Walton, R. E. (1969). Interpersonal peacemaking: confrontations and third-party consultation. Reading: Addison-Wesley. Walton, R. E. (1969). Interpersonal peacemaking: confrontations and third-party consultation. Reading: Addison-Wesley.
Metadata
Title
Konfliktmanagement von interpersonellen und Intragruppenkonflikten in virtuellen Sitzungsformaten – Eine explorative Studie
Author
Marleen Birkmann
Publication date
05-12-2022
Publisher
Springer Fachmedien Wiesbaden
Published in
Organisationsberatung, Supervision, Coaching / Issue 1/2023
Print ISSN: 1618-808X
Electronic ISSN: 1862-2577
DOI
https://doi.org/10.1007/s11613-022-00798-9

Other articles of this Issue 1/2023

Organisationsberatung, Supervision, Coaching 1/2023 Go to the issue

Premium Partner