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2008 | Book

Kultur Macht Sinn

Author: Max Fuchs

Publisher: VS Verlag für Sozialwissenschaften

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Table of Contents

Frontmatter
1. Einleitung: Eine erste Orientierung über Kulturbegriffe
Auszug
Gerade bei dem Thema dieses Textes, dem Umgang mit Theorien, Konzeptionen oder auch nur Vorstellungen dessen, was „Kultur“ sein könnte, muss man nicht so tun, als bearbeite man ein völlig unbebautes Gebiet. Vielmehr ist es so — und das macht ja gerade die Schwierigkeit aus —, dass jeder eine Menge meist ungeordneter Vorstellungen über Kultur mit sich herumträgt. Jeder von uns verwendet ohne Probleme Bezeichnungen wie Kulturbeutel, Weltkulturen, Unternehmenskultur oder Kulturhauptstadt, ohne weiter über die jeweilige Bedeutung von Kultur nachzudenken. Offenbar — so muss man konstatieren — funktioniert das auch so im Alltag. Auch in fachlichen Diskussionen klappt dieser eher unreflektierte Umgang mit diesem mysteriösen Wort. Die Frage nach dem jeweiligen Kulturbegriff wird oft nur dann gestellt, wenn man sich in einer Sach— oder Bewertungsfrage uneins ist: ob ein Projekt zu Recht gefördert werde oder ob etwas überhaupt Kultur sei. Die Frage nach dem Kulturbegriff ist also offenbar etwas, das man ins Feld führt, wenn man sich uneinig ist bzw. wenn eine bislang undiskutierte Einvernehmlichkeit gestört wird.
2. Und weil der Mensch ein Mensch ist: Der Kulturdiskurs in der Kulturphilosophie
Auszug
Kulturphilosophie ist eine der jüngeren philosophischen Disziplinen. Eine wesentliche Motivation bei ihrer Entstehung war die Kritik der Kultur (der Moderne), war die Bestürzung über destruktive Potentiale menschlichen (Kultur) Schaffens. Dies hat sich im Grundsatz bis heute nicht geändert. Dieses Kapitel zeichnet einige Entwicklungslinien dieser Disziplin nach und versucht anhand aktueller Darstellungen eine Beschreibung ihres Gegenstandes und ihres Arbeitsauftrages. Dabei wird deutlich, dass Kulturphilosophie als kritische Reflexionsinstanz für kulturelle Entwicklungen notwendig ist, will der Mensch das Ziel einer „wachsenden Selbstbefreiung“ (Ernst Cassirer) nicht aus dem Auge verlieren. Sie sollte sich jedoch davor hüten, das wohlfeile und aktuelle Angebot gängiger Zeitdiagnosen durch die Medien, aber auch durch Fachwissenschaften wie etwa die Soziologie einfach nur zu erweitern.
3. Soziologie als Kulturwissenschaft oder Kultursoziologie? Von Herder bis zu den cultural und postcolonial studies.
Auszug
Unter den Lesern anspruchsvoller Feuilletons dürfte es kaum jemanden geben, der nicht von der „Erlebnisgesellschaft“ von Gerhard Schulze (1992) gehÖrt hat. Immerhin wird dieses Buch im Untertitel als „Kultursoziologie der Gegenwart“ ausgewiesen. Wer sich das Buch genauer anschaut und insbesondere die Thesen betrachtet, die diskutiert werden, wird zu der Schlussfolgerung kommen, dass weitaus mehr hier beabsichtigt wird, als bloß einen Teilbereich der Gesellschaft — etwa das Subsystem Kultur — soziologisch zu analysieren. Es handelt sich vielmehr um einen soziologischen Gesamtentwurf. Als solcher wird daher folgerichtig dieser Ansatz in überblicksdarstellungen von soziologischen Gesellschaftsanalysen behandelt. Damit sind wir bei einem Problem, das inzwischen quer durch alle Wissenschaften geht: Wir haben in allen Einzelwissenschaften in den letzten Jahren einen cultural turn erlebt, der bedeutet, dass eine kulturbezogene Herangehensweise etwa an Ökonomie, Literaturwissenschaften, Geographie, Politik etc. die einzig richtige Erkenntnismethode ist. Es ist daher zu unterscheiden, ob es sich jeweils um eine „Bindestrichdisziplin“, es sich also etwa um eine Kultur—Soziologie als Soziologie des Kulturellen handelt, oder ob vielmehr ein Gesamtentwurf vorliegt.
4. Der Kulturbegriff der Kulturwirtschaft, populäre Kultur und die cultural studies
Auszug
B. Brecht verliert Anfang der dreißiger Jahre trotz gültiger Verträge seinen Prozess (Brecht 1967, Band 3) gegen eine Filmfirma, bei dem es um seine Mitsprache bei der filmischen Umsetzung der Dreigroschenoper geht. Er dokumentiert dies als „soziologisches Lehrstück“, das die überlebtheit der Kategorien der idealistischen ästhetik mit ihrem „Autonomie“-Begriff in einem warenförmig organisierten Kunstbetrieb belegen soll.
5. Der Kulturdiskurs der Ethnologie
Auszug
Die (frühere) Volks— und Völkerkunde und die heutige Kulturanthropologie und Ethnologie können kaum anders als von einem denkbar weiten Kulturbegriff auszugehen. Es geht um eine möglichst unvoreingenommene Erfassung der Lebensweise von Gruppen von Menschen, wobei immer wieder beide Wissenschaften über diesen Anspruch an Unvoreingenommenheit stolpern. Immer wieder geraten beide Disziplinen an dieser Stelle in Grundlagenkrisen, da — aus eigenen Reihen — infrage gestellt wird, man könne Lebensweisen und Kulturen überhaupt darstellen. Die „Krise der Repräsentation“ ist seit einigen Jahren das zentrale wissenschaftstheoretische und — politische Thema. Offensichtlich hängt diese Frage der Darstellbarkeit damit zusammen, was eigentlich dargestellt werden soll.
6. „Kultur“ in der politischen Philosophie und im Staatsrecht
Auszug
„Der Staat schützt und fördert die Kultur.“ — So oder so ähnlich diskutiert man zur Zeit — wieder einmal — eine mögliche Ergänzung des Grundgesetzes. Die Enquête—Kommission des Deutschen Bundestages „Kultur in Deutschland“ hat Anhörungen von Staatsrechtlehrern durchgeführt, Kulturverbände fordern es schon seit langem, zumal weniger existentielle Fragen wie etwa Tier— oder Verbraucherschutz schon längst Eingang in das Grundgesetz gefunden haben. Selbst die Sorge der öffentlichen Hand, vor allem der Kommunen, man ginge hiermit neue Rechtsverpflichtungen ein, für die ohnehin kein Geld vorhanden sei, lässt sich nehmen. Immerhin ist es auch bei präziseren Staatszielbestimmungen wie etwa dem des Sozialstaates auch nicht möglich, eine bestimmte Höhe einer eventuellen staatlichen Unterstützung einzuklagen. Hier hat in jedem Fall der Gesetzgeber das letzte Wort und die Exekutive einen großen Gestaltungsspielraum.
7. „Kultur“ in Kulturpolitik und Kulturpädagogik
Auszug
Kulturpolitik und Kulturpädagogik sind zwei Disziplinen, in denen man — schon von der Bezeichnung her — damit rechnet, dass es einen lebhaften Kulturdiskurs geben muss, weil dort „Kultur“ praktisch wird. För die Kulturpolitik ist dabei auf Kap. 6 zu verweisen. Denn eine Thematisierung von Kulturpolitik im Kontext einer Staatsrechtsdebatte erfasst in der Tat ein weites Feld des gesamten Kulturdiskurses in der Kulturpolitik. Es ist dabei bis heute immer wieder notwendig daran zu erinnern, dass es nicht „der Staat“ alleine ist, der Kulturpolitik betreibt, selbst wenn dort, wo es um gesetzliche Rahmenbedingungen und ihre Umsetzung geht, der Staat als Parlament (Legislative) und als Regierung (Exekutive) die alleinige Handlungsmöglichkeit hat und die Justiz als dritte Dimension des Staates zivil—, straf— oder verwaltungsrechtlich involviert werden kann, da sich auch alles kulturelle und kulturpolitische Handeln im Rahmen des Rechtsstaates abspielt.
8. „Kultur“ und die Kulturwissenschaften
Auszug
Was als Wissenschaft auf sich hält, befindet sich immer in einer existentiellen Krise, so könnte man salopp ein Qualitätskriterium für Wissenschaftlichkeit formulieren. Denn jede lebendige Wissenschaft hat und braucht ihren Streit unterschiedlicher Schulen und Ansätze, befindet sich also immer in einem gewollten oder zu verhindern gesuchten Paradigmenwechsel, was eben nicht blo× hei×t, dass es um einen Streit um Methoden oder Untersuchungsgegenstände geht: Es geht immer auch um Stellen und Forschungsgelder, die Institute oder Lehrstühle bekommen — oder eben auch nicht. Zu jedem „Schuloberhaupt“ gehört daher nicht blo× die kreative Kraft, ein neues Forschungsparadigma zu entwickeln, man erwartet zudem, dass er wissenschaftspolitisch dieses Paradigma — also seinen Anhängern und Schülern — zum Durchbruch verhilft: Durch Publikationsmöglichkeiten, durch Auftritte bei Kongressen, durch Stellen, durch eigene Zeitschriften und Buchreihen und zunehmend auch: durch Medienresonanz. Die Geisteswissenschaften sind so gesehen typische Wissenschaften: Als Kampfbegriff wendet sich ihre Bezeichnung bereits gegen etwas, nämlich gegen die Naturwissenschaften. Ihr wichtigster „Chefideologe“ im 19. Jahrhundert (nach Humboldt, Schleiermacher und anderen) war Wilhelm Dilthey. Er entwickelte seine hermeneutische Methode als Methode des Sinnverstehens kultureller Akte gegen das (blo×) erklärende Verfahren der Naturwissenschaften, die sich damals — ebenfalls auf der Höhe ihrer wissenschaftlichen Durchschlagskraft — anheischig machten, mit ihren Methoden alle Bereiche menschlicher Existenz erfassen zu können und so den Ma×stab von „Wissenschaftlichkeit“ zu definieren. Dieser Ansatz lebt bis heute weiter und hat in einigen Disziplinen zu gro×en Grundsatzstreitigkeiten geführt (etwa zum Positivismusstreit in der Soziologie oder zum Streit über den Behaviorismus in der Psychologie). Doch haben sich die Geisteswissenschaften etabliert, u. a. auch deshalb, weil Wilhelm Dilthey die oben angeführten Aufgaben eines Schuloberhauptes gut erfüllt hat. Geisteswissenschaftler besetzten zudem nicht nur in den Wissenschaften und der Wissenschaftspolitik wichtige Funktionsstellen, sie konnten sich auch in staatlichen Instanzen so etablieren, dass weite Gesellschaftsfelder — etwa das Bildungswesen — von ihnen besetzt wurden.
9. Kultur als Tätigkeit — Eine Skizze
Auszug
Dass der Mensch handelnd sein Leben bewältigen muss, weiß eigentlich jeder: Die Philosophen, die in der Anthropologie die tätige Lebensbewältigung studieren, die über die Dialektik von Aneignung und Vergegenständlichung nachdenken, die die Dialektik von Gestaltungsmöglichkeiten und den Freiheitsentzug dadurch, dass alles schon gestaltet ist, beschreiben, die die Rolle des Werkzeuggebrauchs und vor allem der Werkzeugherstellung bei der Anthropogenese betonen. Und selbst dann, wenn man nicht Arbeit und Werkzeugumgang als Motor der Entwicklung versteht, sondern vielmehr eine künstlerische, religiöse oder sprachliche Praxis im Mittelpunkt sieht, so sind dies doch alles Handlungen. Der Handlungs — oder Tätigkeitsbegriff ist also denkbar weit: Er umfasst Produktion und Reproduktion, soziale, künstlerische und spirituelle Aktivitäten. Auch die (christlichen) Theologen wissen, dass mit Arbeit die eigentliche Menschheitsgeschichte begann: Denn die paradiesischen Zustände waren in dem Augenblick vorüber, als Adam dem von der Schlange seiner Partnerin Eva eingeflüsterten Angebot nicht widerstehen konnte und vom Apfel aß. Nun war Arbeiten angesagt. Mit der Arbeit kam das Verbrechen, kam der Brudermord. „Kultur“, so mag man sagen, entsteht dadurch, dass ein zorniger Gott ständig den Menschen für seinen Ungehorsam bestraft und ihm neue Bürden aufhalst, die er tätig bewältigen muss.
10. Zur praktischen Relevanz des Kulturbegriffs
Auszug
Spielt es wirklich eine Rolle, ob man einem engen oder weiten Kulturbegriff anhängt? Zweifellos bestehen zwischen Konzepten und programmatischen Texten deutliche Unterschiede, je nachdem, ob sie „Kultur“ als Hoch- und Alltagskultur verstehen. Doch lassen sich auch Unterschiede in der jeweiligen Praxis ausmachen?
Backmatter
Metadata
Title
Kultur Macht Sinn
Author
Max Fuchs
Copyright Year
2008
Publisher
VS Verlag für Sozialwissenschaften
Electronic ISBN
978-3-531-91164-9
Print ISBN
978-3-531-15892-1
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-531-91164-9