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Open Access 2020 | OriginalPaper | Chapter

„So wie Müller reden nur Dogmatiker“

Das Format „Müllers Memo“ bei Spiegel Online: ein Werkstattbericht

Author : Henrik Müller

Published in: Wissenschaft und Gesellschaft: Ein vertrauensvoller Dialog

Publisher: Springer Berlin Heidelberg

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Zusammenfassung

In seinem Beitrag „So wie Müller reden nur Dogmatiker“ gibt Henrik Müller in Form eines Werkstattberichts Einblicke in die Entstehung seiner wöchentliche Kolumne „Müllers Memo“ bei Spiegel Online, die in den Jahren 2017 und 2018 bei rund der Hälfte der Texte sechsstellige Leserzahlen erreichte. Dabei erläutert er nicht nur Prozesse und Schwerpunkte der Themenfindung, sondern auch welche Ziele er als Journalist verfolgt sowie welche redaktionellen Arbeitsschritte bis zum Erscheinen eines Artikels hinter den Kulissen durchlaufen werden. Des Weiteren geht er darauf ein, welche (konstruktiven und reflektierten) Debatten sich unter den Lesern in einem Online-Forum entwickeln können und wie er als Autor mit persönlicher Kritik und polemischen Kommentaren umgeht. Wissenschaftler sind Müllers Einschätzung nach gehalten, sich an gesellschaftlichen Diskursen zu beteiligen: „Wissenschaftler, die aus öffentlichen Geldern bezahlt werden, haben die Aufgabe, sich gegenüber der Öffentlichkeit zu erklären. Sie sollten an politischen Debatten teilnehmen, weil sie zur Versachlichung und Aufklärung beitragen können. Sich kontroversen Diskussionen zu stellen, hilft übrigens auch bei der Schärfung der eigenen Argumente“.

Einleitung

Wissenschaftler, die aus öffentlichen Geldern bezahlt werden, haben die Aufgabe, sich gegenüber der Öffentlichkeit zu erklären. Sie sollten an politischen Debatten teilnehmen, weil sie zur Versachlichung und Aufklärung beitragen können. Sich kontroversen Diskussionen zu stellen, hilft übrigens auch bei der Schärfung der eigenen Argumente. Als ehemaligem Journalisten kommt bei mir noch ein hedonistisches Motiv hinzu: Der öffentlich ausgetragene argumentative Schlagabtausch macht mir Spaß. Deshalb schreibe ich seit Herbst 2013 jede Woche eine Kolumne für Spiegel Online („Müllers Memo“). Die Texte erscheinen fast immer sonntags. Meist greifen sie ein wirtschaftspolitisches Thema der bevorstehenden Woche auf, ergänzt um einen kommentierten Terminplan mit den wichtigsten bevorstehenden wirtschaftspolitischen Ereignissen. Insgesamt sind bis Ende 2018 gut 260 Texte erschienen. Dieser „Werkstattbericht“ ist der Versuch einer selbstkritischen Zwischenbilanz, die auf gemessenen Nutzungsdaten und persönlichen Erfahrungen basiert – und so auch ein Schlaglicht auf die Mechanismen öffentlicher Debatten in Zeiten der Aufmerksamkeitsökonomie wirft.
Der Beitrag ist wie folgt gegliedert: Der nächste Abschnitt gibt Einblicke in Ziele, Nebenbedingungen und Arbeitsprozesse bei der Produktion von „Müllers Memo“. Abschn. „Bitcoin, Trump, Europa: Was gelesen wird – und was nicht“ zeigt, welche Beiträge gut im Lesermarkt ankommen – und welche nicht. Abschn. „Unverifizierte Ideologie und gequirlter Unsinn“ – Kommentare von Lesern“ wirft einen Seitenblick auf die Kommentare der Leser in den Foren. Abschn. „Schlussfolgerungen“ schließlich zieht einige verallgemeinernde Schlussfolgerungen.

Ziele, Nebenbedingungen und Produktionsprozesse

Mit den Kolumnen verfolge ich vier Ziele:
1.
Aspekte und Themen herausstellen, die meinem Eindruck nach in der öffentlichen Debatte vernachlässigt werden;
 
2.
Hintergründe und Zusammenhänge auf Basis von nachprüfbaren Fakten (Zahlen!) beleuchten, gerade im Grenzbereich zwischen Wirtschaft und Politik;
 
3.
Gesprächsstoff für eine hoffentlich kontroverse Debatte liefern, damit sich die Leser selbst ein Urteil bilden können;
 
4.
Aufmerksamkeit schaffen: Ein Text muss sich durchsetzen können gegen das allgemeine Grundrauschen der Nachrichten und Aufregungen – was nicht gelesen wird, ist leider nicht viel wert.
 
Die Memos sind, so gesehen, eine Mischung aus Journalismus und Populärökonomik, aus Aufklärung und Provokation. Die vier Ziele sind nicht widerspruchsfrei. Ziel 1 und 2 laufen tendenziell Ziel 4 zuwider: Ein abgewogener Text über ein Thema, das am Erscheinungstag kaum jemanden interessiert, droht unterzugehen und kaum gelesen zu werden – und damit auch Ziel 3 zu verfehlen. Ein stark zugespitztes Stück zu einem gerade heiß diskutierten Thema, geschrieben im Sound des Alarmismus, erfüllt vielleicht Ziel 1, 3 und 4, aber nicht unbedingt Ziel 2 – der aufklärerische Ansatz bleibt womöglich auf der Strecke. Allen vier Zielen gerecht zu werden gelingt mal besser und mal schlechter, je nach Thema, Anlass, Nachrichtenumfeld und persönlicher Form (auch ein Kolumnist hat bessere und schlechtere Wochen).
Immerhin haben in den Jahren 2017 und 2018 rund die Hälfte der Stücke sechsstellige Leserzahlen erreicht. Ziel 4 erreiche ich also ziemlich häufig. Was die Beurteilung des Erreichungsgrads der anderen drei Ziele angeht, bin ich als Autor naturgemäß befangen.
Es sei nicht unterschlagen, dass die Zielerreichung diversen Nebenbedingungen unterliegt. Insbesondere:
  • Die Gesamtheit der Kolumnen sollte ein konsistentes Bild ergeben. Das ist ein Gebot der Glaubwürdigkeit. Die Texte sollten einander nicht widersprechen, sondern Entwicklungen fortschreiben, mit neuen Fakten konfrontieren und, wenn es gut läuft, gewissermaßen über die Zeit eine Story erzählen.
  • Ein Memo sollte beim Lesen möglichst wenig Mühe bereiten. Die Materie mag kompliziert sein, der Text sollte sich so leicht wie möglich konsumieren lassen. Das heißt: Er braucht eine klare These, eine klare Struktur und eine schnörkellose, aber abwechslungsreiche Sprache.
  • Ein Text sollte knapp sein. Die Aufmerksamkeitsspannen sind beschränkt, gerade bei Nutzern, die unterwegs oder nebenbei auf dem Smartphone auf die Seite zugreifen. Andererseits sollte ein Stück nicht zu knapp sein – nicht nur um den Inhalt hinreichend differenziert und mit Fakten und Quellen belegt darstellen zu können, sondern auch weil die Verweildauer inzwischen eine wichtige Kennziffer für die Verlage darstellt.
  • Der Zeitaufwand muss vertretbar sein. Das heißt: Ich schreibe nicht über jedes Thema, sondern ausschließlich über solche, bei denen ich mich auskenne. Die Produktion inklusive Recherche sollte eher eine Sache von Stunden als von Tagen sein – was nicht ausschließt, dass ich mich gelegentlich in neue Themen, die auf die Agenda kommen, einarbeite.
  • Die Memos müssen in die sonstige Themenplanung der Redaktion passen. Ein Text zu einem Thema, zu dem bereits ein Dutzend anderer Artikel erschienen ist, geht mit großer Wahrscheinlichkeit in der Nutzerwahrnehmung unter. Umgekehrt: Einen Text, der völlig neben der Aktualität liegt, wird die Redaktion vermutlich nicht prominent platzieren.
Damit keine Missverständnisse entstehen: Die Redaktion von Spiegel Online lässt mir größtmögliche Freiheit. Das betrifft die Themenwahl, die von mir vertretenen Thesen und die Form. Über Ziele und Nebenbedingungen haben ich nie mit den Kolleginnen und Kollegen gesprochen; die oben erwähnten Maximen sind meine eigenen, sie haben sich im Laufe der Zeit implizit herausgebildet. Aber wir alle wissen natürlich, dass das Format „Müllers Memo“ für alle Beteiligten nur befriedigend funktioniert, wenn die Stücke das Interesse einer hinreichend großen Zahl von Nutzern wecken. Nutzungsdaten bekomme ich selten zurückgespielt, schon gar nicht, wenn eine Kolumne kaum gelesen wurde.
In der Regel schlage ich der Leitung des Wirtschaftsressorts irgendwann am Donnerstag per knapper E-Mail ein Thema vor, insbesondere um zu eruieren, ob es sich mit der übrigen redaktionellen Planung beißt. Gelegentlich bitte ich die Kollegen um thematische Wünsche. Vor dem Erscheinen werden die Texte kompetent redigiert, manchmal gibt es Rückfragen zu Fakten und Formulierungen. Ich mache Vorschläge für Überschriften und Vorspänne („Teaser“), die manchmal von der Redaktion übernommen werden, häufig aber auch nicht.

Bitcoin, Trump, Europa: Was gelesen wird – und was nicht

Tab. 1 zeigt die Top 20 und die Flop 20 der Jahre 2017 und 2018. Ganz oben steht ein Text, der das Phänomen Bitcoin in einen größeren Kontext stellt. Keine andere Kolumne fand so viele Leser. Insgesamt wurde der Text mehr als eine Million Minuten lang genutzt – das sind rechnerisch mehr als 690 Tage. Dabei ist das Stück alles andere als leichte Kost. Es schlägt einen weiten Bogen – von Mutmaßungen über die Natur des Geldes bis hin zur Frage, wohin die Strategie der großen Notenbanken führt. Kostprobe:
Tab. 1
Top 20- und Flop 20-Kolummen der Jahre 2017 und 2018. (Quelle: Analysetool Parse.ly, Stand: 7. Januar 2019)
 
Titel
Erschienen
Top 20
  
1
Kryptogeld: Warum der Bitcoin-Hype Vorbote eines großen Crashs sein könnte
10.12.2017
2
USA vs. China: Warum Trump diesmal richtig liegen könnte
23.09.2017
3
Wirtschaft und Populismus: Das Ende der Trump-Blase
26.03.2017
4
Neue Weltordnung: Die fünf Feinde der Globalisierung
18.03.2018
5
„Abwärtsrisiken“ für die Weltwirtschaft: Deutschland droht der Realitätsschock
12.08.2018
6
Brexit und die Wirtschaft: Der Abstieg hat begonnen
17.12.2017
7
Deutschland vs. USA: Konflikt mit Ansage
12.03.2017
8
Zinspolitik der EZB: Wenn die Party zu Ende geht
21.01.2018
9
Demokratie in der Demografie-Falle: Landluft macht unfrei
05.08.2018
10
Trotz Pöbeleien und Tabubrüchen: Deutschlands stiller Zuwanderungskonsens
04.11.2018
11
Zukunft der EU: Italien ist die Sollbruchstelle des Euro
27.05.2018
12
Politische Instabilität: Deutschland sucht den Super-Kanzler
11.02.2018
13
Freiheit in Gefahr: Ist der Westen noch zu retten?
21.10.2018
14
G20-Gipfel: Intoleranz gegen Intoleranz
02.07.2017
15
28 Jahre Wiedervereinigung: Deutschland droht die Ausländer-Lücke
30.09.2018
16
EU-Annäherung an Peking: Willkommen in Chinopa
28.05.2017
17
Deutschlands Autofixierung: Wer bremst, verliert
23.07.2017
18
Großbritannien gegen die EU: Europa lässt sich nicht auflösen
18.11.2018
19
30 Prozent Inflation in Argentinien: Die nächste Krise zieht herauf
16.09.2018
20
200. Geburtstag von Karl Marx: Der Kapitalismus geht zugrunde
29.04.2018
Flop 20
  
20
Weltwirtschaft: Warum ökonomische Gesetze Populisten ausbremsen
02.09.2018
19
Woche der Entscheidungen: Misstrauen gegen das System
25.02.2018
18
Deutschland nach dem Jamaika-Aus: Die verunsicherte Republik
25.11.2017
17
Kanzlerin in der Krise: Nervöse Demokratie, brüchiges Europa
24.06.2018
16
Europäische Geldpolitik: Immer den Amis nach
16.07.2017
15
Katalonien, Brexit, Trump: Geistige Kleinstaaterei
08.10.2017
14
Müllers Memo: Präsident Xi und die Zombies
15.10.2017
13
Expansive Geldpolitik: Draghis Dilemma
03.09.2017
12
Politik des billigen Geldes: Europas Qualen und Draghis Beitrag
24.04.2017
11
Zukunft der EU: Legt Europa in die Hand der Bürger!
06.08.2018
10
Müllers Memo: Attention, Monsieur Macron!
14.05.2017
9
Zehn Jahre nach Lehman: Der Krisen-Knick
09.09.2018
8
Unsichere Wirtschaft: Emanzipation vertagt
22.04.2018
7
Kapitalismus in der Krise: Stresstest für die Demokratie
19.02.2017
6
Zuwanderung: Doch, wir sind ein offenes Land!
15.04.2018
5
Europas Probleme: Auf den letzten Drücker
14.10.2018
4
Wirtschaft, Börsen, Politik 2018: Heiße Zeiten
31.12.2018
3
EU-Wirtschaftspolitik: Globalisierung ist nicht zu stoppen
27.08.2017
2
Klimagipfel in Bonn: Wir sind viel zu pessimistisch
05.11.2017
1
Themen für den Wahlkampf 2017: Eine Strategie gegen die Angst
09.07.2017
Was ist Geld? Klingt nach einer simplen Frage. Aber ganz so leicht ist sie nicht zu beantworten.
In der bevorstehenden Woche wird das Geld im Mittelpunkt stehen. Mittwoch wird die US-Notenbank Fed ihren weiteren Kurs bekanntgeben, Donnerstag die Europäische Zentralbank (EZB). Donnerstag und Freitag soll es beim EU-Gipfel nicht nur um den Brexit gehen, sondern am Rande auch um die Zukunft der Eurozone. Währenddessen bläht sich beim Krypto-Geld Bitcoin eine Blase sondergleichen auf; die Kurssprünge der vergangenen Woche waren atemberaubend.
All das hat etwas miteinander zu tun.
Geld hat ein paar magische Eigenschaften. Sein Wert beruht auf einem komplexen Glaubensgebäude, auf Dogmen und kollektiven Überzeugungen. Geld ist letztlich soviel wert, wie wir ihm alle miteinander zubilligen. Wenn der Glaube daran schwindet, geraten Gesellschaften in ernste Schwierigkeiten, weil dann der Maßstab verlorengeht, an dem wir uns messen und mittels dessen wir aushandeln, wer wem was schuldet.
Das mag reichlich esoterisch klingen; schließlich ist der Umgang mit Geld so alltäglich und so technisch geworden, dass von Magie nicht viel zu spüren ist. […]
Der Aufhänger Bitocin wird hier genutzt, um die Mechanismen des modernen Notenbankings zu erläutern. Ohne Zweifel ein sperriges Thema. Der Text ist lang für ein aktuelles Stück auf einer Nachrichtenwebsite, fast 8000 Zeichen. Doch er verfügt über einen wertvollen Aktivposten: Timing. Das Stück erschien im Dezember 2017, als die Bitcoin-Blase gerade ihr Maximum erreichte. Ein geradezu idealer Zeitpunkt, denn der immer weiter nach oben schnellende Bitcoin-Kurs beflügelte damals die Fantasie vieler (übrigens auch einiger meiner Studenten). Während der Text im Urteil relativ abgewogen war und dementsprechend mein Headline-Vorschlag („Bitcoin, Draghi und die Magie des Geldes“) eher ätherisch klang, entschied sich die Redaktion (glücklicherweise) für eine eindeutige Zuspitzung:
Kryptowährung
Warum der Bitcoin-Hype Vorbote eines großen Crashs sein könnte
Unser Geldsystem ist aus den Fugen geraten. Die Notenbanken verpassen den Ausstieg aus ihrer Niedrigzinspolitik, an den Märkten blähen sich Spekulationsblasen auf. Die absurdeste zeigt sich im Bitcoin-Boom.
Das ging in Ordnung; die Tendenz war durch den Text gedeckt.
Schlechter erging es hingegen der Kolumne vom 9. Juli 2017. Leider. Der Text war ein Plädoyer dafür, den damals dahinplätschernden Bundestagswahlkampf mit einem großen Zukunftsentwurf für die Eurozone anzureichern – einer echten, ernsthaften Antwort auf die Vorschläge des französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Eigentlich ein kontroverses Thema. Doch das Stück erreichte lediglich ein Zwanzigstel der Leser der Bitcoin-Kolumne. Die Redaktion hatte meinen Headline-Vorschlag („Eine Strategie gegen die Angst“) übernommen – vielleicht zu wenig konkret, oder zu konstruktiv? Erschwerend kamen die beginnenden Sommerferien hinzu, eine Zeit, in der viele Bürger harte Themen offenkundig lieber meiden. Auch der Text zur Klimakonferenz von Anfang November 2017 („Wir sind viel zu pessimistisch“) – ein Stück, das die enormen Effizienzgewinne bei erneuerbaren Energien in Zentrum der Argumentation stellte – erreichte nur wenige Leser.
Daraus zu schließen, konstruktive Ansätze funktionierten nicht und nur Negativität und Alarmismus locke Leser an, wäre jedoch voreilig. Das Memo auf Rang 2 wird durchaus positiv eingestimmt („Warum Trump diesmal richtigliegen könnte“); es geht um die US-Linie im Handelskonflikt mit China. Das Timing ist in Ordnung, auch wenn man nach einem Dreivierteljahr Zuspitzung im Handelskrieg zum Erscheinungsdatum allmähliche Ermüdung beim Publikum hätte vermuten können. Aber offenbar ist die Headline überraschend genug, in einer ansonsten hochgradig negativ gefärbten Berichterstattung über den US-Präsidenten. Der Text erreichte annähernd so viele Leser wie die Bitcoin-Kolumne.
Nicht selten bin ich überrascht von den Leseresultaten eines Texts, so bei „Deutschlands stiller Zuwanderungskonsens“ (Rang 10). Ein Stück ohne konkreten aktuellen Anlass, mit der abgewogenen These, dass sich die Extrempositionen pro und kontra Zuwanderung inzwischen so weit angenähert hätten, dass sich eine Art neuer Konsens herauszukristallisieren schien, was ich als hoffnungsfrohes Zeichen für die deutsche Diskurskultur wertete. Aber das Thema erregt immer noch viele Gemüter, was auch die große Zahl von 670 Leserkommentaren zeigt (dazu mehr im folgenden Abschnitt).
Manchmal hilft eine spielerische Überschrift („Deutschland sucht den Super-Kanzler“, „Brüssel, wir haben ein Problem!“), Interesse für ein sperriges Thema zu wecken. Doch dieses Rezept funktioniert nicht zuverlässig; „Europas Qualen und Draghis Beitrag“ (über die Nebenwirkungen des expansiven EZB-Kurses) schnitt ebenso mau ab wie „Präsident Xi und die Zombies“ (über eigentlich bankrotte chinesische Staatskonzerne), der kaum mehr Leser erreichte. Manchmal lenkt brutale Zuspitzung die Aufmerksamkeit auf einen intellektuell eher verspielten Text, wie den zum 200. Geburtstag von Karl Marx („Der Kapitalismus geht zugrunde“), der über die Frage spekulierte, mit welchen Phänomenen sich der linke Großdenker heute wohl beschäftigen würde (Rang 20). Doch auch Zuspitzung ist kein Patentrezept: Dass die Probleme des real existierenden Kapitalismus dem Populismus Auftrieb geben und daher einen „Stresstest für die Demokratie“ darstellen, wollten am 19. Februar 2017 nur vergleichsweise wenige Leser wissen.
Welche Themen gut laufen und welche schlechter, ist im Einzelfall schwer prognostizierbar. Abb. 1 zeigt eine Kategorisierung der Top 20/Flop 20 der Jahre 2017 und 2018. Allenfalls lässt sich sagen, dass es Kolumnen zum Thema Europa mit einem konstruktiven Ansatz schwer haben. Negativ gedreht hingegen wird das Thema im Kontext von Krisen (Brexit, Italiens Schuldenprobleme, in früheren Jahren: Griechenland) sehr wohl wahrgenommen. Die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank war jahrelang ein Aufreger, inzwischen aber scheint eine gewisse Gewöhnung eingetreten zu sein, bei entsprechend geringerem Leserinteresse.
Neben prinzipiell beeinflussbaren Gründen – interessantes Thema, überraschende These, originelle Überschrift – hängt der Erfolg bei den Lesern von diversen weiteren Faktoren ab, die jenseits der Beeinflussbarkeit durch den Autor liegen, darunter die sonstige Nachrichtenlage und das übrige redaktionelle Programm. Kolumnen, die beispielsweise wegen aktueller Ereignisse erst abends auf der Seite erscheinen, haben es schwerer. Desgleichen hat die initiale Positionierung erheblichen Einfluss auf den Erfolg im Lesermarkt. Ein Text, der zur Primetime ganz oben auf der Website erscheint, hat die besten Chancen. Werktags ist die Primetime morgens etwa zwischen 8 und 9 Uhr, wenn die Leute auf dem Weg zur Arbeit via Smartphone zugreifen oder, am Arbeitsplatz angekommen, erst mal die Nachrichtenlage checken. Sonntags ist die nutzungsintensivste Zeit später. Wie für Online-Texte typisch, folgt die Nutzungsintensität einer Verteilung, die aussieht wie eine etwas windschiefe Gauß’sche Glockenkurve. So hatte der Konjunkturausblick vom 6. Januar 2019 („Dem deutschen Exportmodell droht das Ende“) das Glück, um 11.27 Uhr auf Position 1 online zu gehen (Abb. 2). Allmählich bröckeln im Zeitablauf die Zugriffe, sodass der zuständige Chef vom Dienst den Text allmählich auf tiefere Positionen schiebt und irgendwann ganz von der Homepage verschwinden lässt. Gegen 15 Uhr geht die Nutzungsintensität daher stark zurück. Texte, die initial viele Leser erreichen, haben bessere Chancen, in die Empfehlungslisten („meist gelesen“, „meist empfohlen“) aufzutauchen, was einen zusätzlichen Schub bei den Leserzahlen entfacht.

„Unverifizierte Ideologie und gequirlter Unsinn“ – Kommentare von Lesern

Anders als andere Formen des klassischen Journalismus bieten Online-Medien den Lesern die Gelegenheit, Texte zu kommentieren, ohne dabei ihre Identität preisgeben zu müssen. Dadurch entsteht ein öffentlicher Resonanzraum, in dem nicht nur berufsmäßige Journalisten und Publizisten das Wort ergreifen, sondern jede und jeder, der oder die sich dazu berufen fühlt. Verhetzende Äußerungen werden von der Redaktion getilgt. Wenn zu viele diffamierende Äußerungen auf die Redaktion einprasseln, kann es vorkommen, dass die Kommentarfunktion gesperrt wird. Kritik, auch in der Wortwahl harsche, gelangt jedoch reichlich auf die Seiten.
Autoren haben verschiedene Strategien entwickelt, mit den Kommentaren umzugehen. Einige Kollegen greifen sofort nach Erscheinen selbst in die Debatte ein, um einem allzu negativen Spin entgegenzutreten. Manche ignorieren die Lesermeinungen gänzlich. Ich halte es so: In Debatten mische ich mich nie ein. Zum einen möchte ich mich nicht in die Freiräume der Leser hineindrängen. Zum anderen fehlt mir die Zeit. Und manchmal habe ich dafür auch schlicht nicht die Nerven. Aber wenn ich etwas Muße habe, lese ich durchaus Leserkommentare. Manchmal entspinnen sich dort wunderbar reflektierte und perspektivenreiche Debatten. Der Philosoph Jürgen Habermas, der den „deliberativen Diskurs“ zum Ideal erhoben hat, wäre wohl von dieser Lektüre angetan. So animierte der Beitrag zum 200. Marx-Geburtstag immerhin 132 Kommentare – ein anregender Lesegenuss.
Manchmal allerdings ist das Resultat zum Haareraufen: Aggression, vorgefasste Meinungen, persönliche Angriffe – die allermeisten hinter Pseudonymen versteckt. Da unterstellt dann beispielsweise Kommentarschreiber „hle“, dass eine Kolumne, die eine ziemlich abgewogene Analyse zum Zuwanderungsdiskurs präsentierte – das bereits erwähnte Stück „Deutschlands stiller Zuwanderungskonsens“ – wohl „eine Auftragsarbeit“ sei, „um jedem einzutrichtern, dass man mehr Ausländer braucht“, nämlich mit dem Ziel, die Löhne niedrig zu halten. Zu einem anderen Text schreibt „Sossossos“: „Wie verpeilt muss man eigentlich sein um so einen Nonsens schreiben zu können.“ Ein gewisser „Rubikon2016“ meint, der Memo-Autor litte, „wie viele der gut situierten Menschen in diesem Land darunter, dass sie die Realität nicht mehr wahrnehmen können, da Sie sich offensichtlich in einer Parallelgesellschaft befinden“.
„spon 1873159“ fragt: „Wie lange noch Henrik Müller? Wie lange müssen wir noch solchen Unfug ertragen?“ Ein – oder eine – „Öko Nom“ meint: „So wie Müller reden nur Dogmatiker. Blind gegenüber der Realität. Das sind die wirklich gefährlichen Charaktere für eine Gesellschaft.“ Und so weiter und so fort.
Zu einem Beitrag, in dem ich mich kritisch mit den Protesten der „Gilets Jaunes“ in Frankreich auseinandersetze, hält mir „Soziopathenland“ vor, mein Text sei ein Versuch, „die Gelbwesten niederzuschreiben“. Anlässlich einer Kolumne, in der ich mich mit den Schwierigkeiten des EU-Ausstiegs Großbritanniens beschäftige und die These zur Diskussion stelle, die EU sei womöglich faktisch nicht auflösbar, jedenfalls nicht zu halbwegs vertretbaren Kosten, und man deshalb über Modelle der abgestuften EU-Integration nachdenken solle, schreibt „tailspin“, das sei „alles unverifizierte Ideologie und gequirlter Unsinn“. Einer von 183 Beiträgen.
Ein Kollege fragte mich kürzlich besorgt, ob ich das wirklich alles lese und wie ich das eigentlich aushielte. Nein, ich lese das nicht alles. Und ich halte es aus, weil ich es zunächst einmal gut finde, dass sich Leute aktiv und kritisch mit jenen Themen auseinandersetzen, die ich selbst für wichtig erachte. Im Übrigen glaube ich daran, dass, wer sich mit Meinungsbeiträgen öffentlich äußert, sich über Kritik, auch beißende, nicht beklagen darf. Wer Leser dazu provozieren will, selbst nachzudenken, sollte nicht beleidigt sein, wenn genau das eintritt, auch wenn einem selbst die Richtung nicht gefällt. Kritik gehört zum Projekt der Aufklärung. Wenn Leser miteinander in Debatten eintreten – umso besser. Auch das findet sich in den Foren: Diskussionen, die sich von meinen Texten lösen und sich verselbstständigen, manchmal über Nebenaspekte, die den Diskutanten besonders wichtig sind. Davon abgesehen: Undifferenzierte Angriffe schätze ich selbstverständlich nicht. Gerade der offene, unmoderierte Diskurs braucht Form und Anstand.

Schlussfolgerungen

Alle, die sich professionell öffentlich äußern, tun dies unter den Bedingungen der Aufmerksamkeitsökonomie. Das gilt für Wissenschaftler genauso wie für Politiker, Journalisten oder Aktivisten. Wer nicht öffentlich wahrgenommen wird, spielt keine Rolle, verliert womöglich sogar seine wirtschaftliche Existenz. Wem an evidenzbasierter Aufklärung und der Verständigung auf vernünftige politische Ziele gelegen ist, sich aber aus dem Diskursgetümmel heraushält, der überlässt den öffentlichen Raum jenen, denen an Polarisierung und Konflikt gelegen ist. Insofern verstehe ich meine eigenen sonntäglichen Texte als kleinen, bescheidenen Beitrag im großen Ringen um den Fortbestand von Vernunft und Liberalität.
Aus meinen wöchentlichen Erfahrungen ziehe ich insbesondere drei vorläufige Schlussfolgerungen:
Erstens: Wellen zu reiten ist gefährlich, aber notwendig. Öffentlichkeiten sind heute durchzogen von Erregungszyklen. Solche „issue-attention cycles“ gab es auch früher; der US-Kommunikationswissenschaftler Anthony Downs hat sie bereits 1972 beschrieben (Downs 1972). Affektzentrierte Öffentlichkeiten produzieren sie allerdings heute in rascher Abfolge. Und es scheint, als habe ihre Dauer ab- und ihre Intensität zugenommen. Diese Zyklen stellen eine zentrale Nebenbedingung dar für alle, die öffentlich wahrgenommen werden wollen. Aber sie sollten eben dies sein: eine Nebenbedingung – nicht das Ziel selbst. Erregungszyklen kann man nutzen, um Themen, Thesen, Argumente und Fakten in die Diskussion zu streuen, die ansonsten unterbelichtet bleiben. Doch die Versuchung ist groß, die Erregungszyklen als Selbstzweck zu nutzen, selbst aufzuspringen, die Emotionen womöglich nochmal zu befeuern mit einer weiteren Zuspitzung und Dramatisierung. Ich spreche in diesem Zusammenhang von „Lärmspiralen“ (Müller 2017). Sie sind hochproblematisch, zumal wenn sie von Populisten in Gang gesetzt werden. Die Bürger haben nicht selten das Gefühl, dass die wirklich relevanten Themen gar nicht öffentlich verhandelt werden, wie eine Umfrage zum „ARD-Deutschlandtrend“ vom Sommer 2018 zeigte: Die Befragten äußerten dort den Eindruck, in der Debatte werde dem Thema Zuwanderung zu viel Aufmerksamkeit zuteil, während Probleme, die sie selbst in ihrer Lebenswirklichkeit viel stärker beschäftigen, Kapazitätsengpässe in der Pflege oder die Qualität von Schulen beispielsweise, zu wenig berücksichtigt werden (Infratest dimap 2018). Der Grund für diese Schieflage liegt auf der Hand: Über das generelle Thema Zuwanderung kann man trefflich populistisch aufgeheizt streiten; die komplexen Problematiken der Pflege oder der Schulen kennen die Bürger aus eigenem Erleben. Der populistische Kurzschluss funktioniert da nicht. Wer als seriöse Stimme wahrgenommen werden will, sollte auf jene Themen setzen, die man selbst, nach eingehender Befassung, als wichtig und richtig erkannt hat, auch wenn es nur relativ wenige Leser interessieren mag. Mehr als ein Viertel meiner Memos in den Jahren 2017 und 2018 hatten in der einen oder anderen Form Europa zum Thema. Denn ich bin davon überzeugt, dass unser politischer Bezugsrahmen nicht mehr rein national sein sollte, sondern europäisch. Einige dieser Texte schnitten eher dürftig ab, andere landeten unter den Top 20 (s. Tab. 1).
Zweitens: Es ist ein Fehler, die Leser zu unterschätzen. Glücklicherweise gibt es da draußen viele Millionen denkende Menschen, die bereit sind, sich auch auf durchaus anspruchsvolle Argumentationen einzulassen. Der Top-4-Text („Die fünf Feinde der Globalisierung“) ist beispielsweise ein ziemlich kurzes, wenn auch komplexes Stück, das die damals aktuelle Nachrichtenlage anhand großer Abstrakta – von „Institutionen“ bis „Weltordnung“ – zu erhellen versuchte. Der Impuls, zu vereinfachen und zu personalisieren, der in der politischen Kommunikation genauso anzutreffen ist wie im Journalismus, lässt offenkundig eine Menge Bürger zurück: ratlos, frustriert, schlimmstenfalls wütend. Wir sollten diese Leute nicht unterfordern, indem wir zu stark vereinfachen und indem wir ihnen Fakten, Zahlen, Belege, Quellen vorenthalten. Ähnliches gilt für Zuspitzungen. Einerseits basieren die Mechanismen des Internets auf menschlichen Affekten: Das Beängstigende erhält tendenziell mehr Aufmerksamkeit als das Abgewogene, weshalb auch der Online-Journalismus ständig in Gefahr ist, übermäßig zu dramatisieren. Andererseits ist auch Glaubwürdigkeit eine wichtige Währung. Wer ständig „Alarm“ ruft, wird irgendwann nicht mehr ernst genommen, wenn sich nämlich die beschworenen Gefahren doch nicht materialisieren. Leser haben ein Gespür für das Wahrhaftige. An meinem eigenen Schreiben habe ich festgestellt, dass ich im Laufe der Jahre vorsichtiger geworden bin, was meine Urteile angeht. Auch sprachlich habe ich abgerüstet, eine Reaktion auf all das laute Gedröhne um uns herum. Im Zweifel gilt: Konsistenz ist wichtiger als Klicks.
Drittens: Ein bisschen Demut schadet nicht. Traditionelle demokratische Öffentlichkeiten waren hierarchisch strukturiert. Oben eine Elite aus Politikern, Technokraten und Interessenvertretern, unten das Volk – dazwischen standen die Massenmedien. In mediatisierten Systemen wurde Politik im veröffentlichten Raum verhandelt, wobei Politik und Medien ein sich wechselseitig stabilisierendes Doppelsystem bildeten. Die mediale Öffentlichkeit dieser Ära lässt sich als wohlstrukturierter Raum verstehen, durchzogen von Machtstrukturen, die von einer begrenzten Anzahl von etablierten Akteuren dominiert wurden. Diese Zeiten sind längst vorüber, auch wenn das offenkundig noch nicht alle Akteure verstanden haben. Das Internet seit den 1990er-Jahren und mehr noch das Aufkommen sozialer Medien seit den 2000er-Jahren haben die Strukturen der Öffentlichkeit grundlegend verändert. Dieser Wandel vollzog sich vor allem durch das Einreißen von Zutrittsbeschränkungen. Nun gilt: Jeder kann sich äußern. Jeder wird kritisiert. Die vormalige Ehrfurcht vor Prominenz und Eminenz ist einer Haltung gewichen, die zwischen Skepsis und Abscheu changiert. Diesen Wandel zu ignorieren, wäre töricht. Diejenigen, die sich berufsmäßig öffentlich zu Wort melden – und das gilt gerade auch für Wissenschaftler und Journalisten –, sollten dies in einer Form tun, die ihre eigenen Zweifel nicht verhehlt. Schließlich widerspricht der traditionelle Impuls, als Wissenschaftler so etwas wie ewige Wahrheiten verkünden zu wollen, dem Wesen der Wissenschaft, in der es ja immer nur vorläufige Erkenntnisse geben kann, die jederzeit widerlegt werden können – durch neue Erkenntnisse, Messergebnisse und, gerade in den Sozialwissenschaften relevant, Entwicklungen. Zweifel gehören deshalb zur mentalen Grundausstattung des Wissenschaftlers. Niemand ist in Besitz absoluter Wahrheit. Entsprechend sollten wir öffentlich auftreten.
Open Access Dieses Kapitel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz (http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de) veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
Die in diesem Kapitel enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbildungslegende nichts anderes ergibt. Sofern das betreffende Material nicht unter der genannten Creative Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschriften erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen.
Metadata
Title
„So wie Müller reden nur Dogmatiker“
Author
Henrik Müller
Copyright Year
2020
Publisher
Springer Berlin Heidelberg
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-662-59466-7_4