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Soziale Kindernetzwerke bestehen im engsten Kreis vorwiegend aus Mitgliedern der Kernfamilie (Eltern, Geschwister) und im erweiterten Kreis aus weiteren Familienmitgliedern wie Großeltern und Freunden. Netzwerkgröße und Anteil der Freunde im Netzwerk steigen mit dem Alter.
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Ein Literaturüberblick zeigt, dass die kindliche Gesundheit sowohl direkt durch das soziale Netzwerk des Kindes beeinflusst wird als auch indirekt durch das soziale Netzwerk der Eltern.
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Von den verschiedenen theoretischen Mechanismen, die zur Erklärung dieser Befunde infrage kommen – z. B. soziale Unterstützung, soziale Ansteckung oder soziale Kontrolle –, ist der Unterstützungsmechanismus am besten empirisch bestätigt. Allerdings sind „echte“ Netzwerkstudien, in denen Familiennetzwerke namensbasiert aufgespannt werden, im hier betrachteten Altersbereich eher selten.
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Familiales Sozialkapital korreliert in westlichen Industrienationen positiv mit den sozioökonomischen Ressourcen der Eltern. Für Schwellen- und Entwicklungsländer zeigt sich, dass die kindliche Gesundheit hier verstärkt vom Vorhandensein sozialer Unterstützung abhängig ist.
1 Einleitung
„insbesondere über familiale Alltagspraktiken wie die Gestaltung der Mahlzeiten, das Bewegungs- und Freizeitverhalten in der Familie, feste Tageszeiten für das Aufstehen und Ins-Bett-Gehen, die Inanspruchnahme von medizinischen Leistungen sowie über familiale Haltungen zum Beispiel zur Hygiene. Aber auch gesundheitsabträglichen Praktiken wie dem Konsum von Tabak und Alkohol sind Heranwachsende in ihrer Familie mehr oder weniger direkt ausgesetzt“ (Rattay et al. 2012, S. 146).
2 Kindernetzwerke: Struktur, Funktionen und Effekte auf die Gesundheit sowie familiales Sozialkapital
2.1 Strukturen, Funktionen und Gesundheitseffekte von sozialen Netzwerken von Kindern
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Soziale Unterstützung: Im Hinblick auf soziale Unterstützung unterscheiden Erhart und Ravens-Sieberer (2008) zwischen einer Abschirm-, Puffer- und Toleranzwirkung. Emotionale oder instrumentelle Unterstützung beugt Krisensituationen vor (1., Abschirmwirkung), kann in eingetretenen Krisensituationen negative Auswirkungen durch eine produktive Verarbeitung der Anforderungen reduzieren (2., Pufferwirkung) und stärkt Fähigkeiten, mit bereits eingetretenen Gesundheitsstörungen umzugehen (3., Toleranzwirkung). Beispiele für die Abschirmwirkung wären das warme Anziehen des Kindes im Winter oder eine vitaminreiche Ernährung. Stärken Netzwerkpersonen das Selbstwertgefühl und den Bewältigungsoptimismus in Stresssituationen, z. B. bei Schulstress des Kindes, wäre dies ein Beispiel für die Pufferwirkung. Wird ein krankes Kind von Netzwerkpersonen emotional unterstützt, zeigt sich hierin beispielhaft die Toleranzwirkung.
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Soziale Kontrolle: Eltern und auch Personen aus dem Netzwerk der Eltern (z. B. Großeltern) sind in Familien mit hoher Kohäsion durch (informelle) soziale Kontrolle eher in der Lage, Kinder z. B. vor „risk-fashion“ Aktivitäten oder gesundheitsgefährdenden Verhaltensweisen (etwa Drogenkonsum) fernzuhalten. Bei hoher Kohäsion kann der Gesundheitszustand des Kindes zudem besser überwacht und ggf. darauf reagiert werden („monitoring“).
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Soziale Beeinflussung: Eltern haben in Familien mit hoher Kohäsion eher die Möglichkeit, beispielsweise das Essverhalten der Kinder im Rahmen von regelmäßigen gemeinsamen Mahlzeiten aktiv zu beeinflussen und auch das Wissen zu gesunder Ernährung zu fördern. Gleiches gilt für physische Aktivität (z. B. Sport) oder Medienkonsum. Enge familiale Sozialbeziehungen fördern außerdem soziale Gemeinschaft und eine positive Gemütslage. Dies vermeidet negative Isolationseffekte wie Depression oder Vernachlässigung von Ernährung oder Selbstpflege.
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Soziale Ansteckung: Die Eltern selbst, aber auch Personen aus dem sozialen Netzwerk der Eltern, stellen erstens für Kinder und Jugendliche Verhaltensmodelle dar, deren Einstellungen und Verhaltensweisen im Rahmen von sozialem Lernen (Bandura 1977) übernommen werden können. Zweitens besteht ein indirekter Mechanismus darin, dass Betreuungspersonen des Kindes selektiv Beziehungen zu Netzwerkpersonen aufbauen bzw. erhalten, die ähnliche Einstellungen und Verhaltensweisen im Bereich der Gesundheit aufweisen wie sie selbst (Homophilie; Kennedy-Hendricks et al. 2015).
2.2 Der Ansatz des familialen Sozialkapitals von Kindern
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finanzielles Kapital (die finanziellen Ressourcen, die für den Haushalt insgesamt und das Kind zur Verfügung stehen),
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elterliches Humankapital (z. B. die kognitiven Fähigkeiten und Bildungsabschlüsse der Eltern),
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Sozialkapital (die Ressourcen, die im Rahmen von sozialen Beziehungen zur Verfügung stehen und für die kognitive und soziale Entwicklung von Kindern und Jugendlichen nützlich sind).
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die strukturelle Dimension (familiale Struktur): z. B. Kernfamilie (mit zwei biologischen Elternteilen im Haushalt) vs. Stieffamilie oder alleinerziehende Eltern; Anzahl der Geschwister oder
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die funktionale Dimension (das Vorhandensein förderlicher Interaktionen zwischen Eltern und Kindern).
Konstrukt | Unterkonstrukt | Beispielitems |
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Familiale Kohäsion | Kollektive Wirksamkeit | Wahrnehmung, als Familie gut zu funktionieren |
Informelle Kontrolle | Wie viele Stunden sind Kinder nach der Schule ohne Eltern zu Hause? Kennen Eltern Freunde des Kindes? Erlauben Eltern dem Kind, mit ihnen unbekannten Freunden auszugehen? Überprüfen Eltern, ob Kinder ihre Hausaufgaben erledigt haben? | |
Soziale Interaktion | Häufigkeit gemeinsamer Eltern-Kind-Aktivitäten wie z. B. Mahlzeiten, Spiele, Gespräche, Feiern | |
Gefühl der Zugehörigkeit | Respektieren sich Familienmitglieder gegenseitig? Empfinden sie gegenseitig Loyalität und Vertrauen? | |
Familiale Unterstützung | Emotionale Unterstützung | Sprechen Familienmitglieder über Sorgen? Sind Verwandte verlässliche Personen, die bei ernsten Problem helfen? Wird Familienmitgliedern emotionale Unterstützung, Empathie und Liebe entgegengebracht? |
Instrumentelle Unterstützung | Eltern helfen bei den Hausaufgaben | |
Konflikt | Wie häufig kritisieren sich Familienmitglieder? Konfligieren persönliche Ziele mit denen der Familie? | |
Soziales Netzwerk (des Kindes bzw. der Eltern) | Netzwerkstruktur | Netzwerkgröße, -dichte und -zentralität; Geschlechts- und Alterskomposition; Reichweite des Familiennetzwerks (Eltern, Geschwister, Schwiegereltern, weitere Verwandte) |
Beziehungsqualität | Wohnortnähe und Kontakthäufigkeit, emotionale Nähe |
3 Soziale Ungleichheit und kindliche Gesundheit
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Säuglingssterblichkeit: Die bisherige empirische Evidenz, die sich auf regionale Daten beschränkt, zeigt eine erhöhte Säuglingssterblichkeit in unteren sozialen Schichten. Dies gilt auch für Risikofaktoren wie niedrigeres Geburtsgewicht und angeborene Fehlbildungen (Mielck 1998).
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Entwicklungsstörungen: Nach jährlichen Schuleingangsuntersuchungen des Öffentlichen Gesundheitsdienstes (vgl. für das Land Brandenburg: Ellsäßer und Lüdecke 2015) sind Entwicklungsstörungen bei niedrigem Sozialstatus (gemessen über Bildung und Erwerbsstatus der Eltern) deutlich häufiger anzutreffen: Während z. B. Sprach- und Sprechstörungen bei Kindern mit niedrigem Sozialstatus in 43,9 % der Fälle diagnostiziert wurden, waren es bei Kindern mit hohem Sozialstatus nur 13,2 %. Ähnlich große Unterschiede zeigen sich z. B. auch bei Wahrnehmungs- und psychomotorischen Störungen, intellektuellen Entwicklungsverzögerungen, emotionalen und sozialen Störungen sowie psychischen Auffälligkeiten. Eine Ursache mag darin liegen, dass die U-Untersuchungen von sozial benachteiligten Bevölkerungsschichten etwas seltener in Anspruch genommen werden (Ellsäßer und Lüdecke 2015)
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Chronische Krankheiten: Chronische Krankheiten bei Kindern weisen ebenfalls einen sozialen Gradienten auf: Nach den Befunden der Brandenburger Einschulungsuntersuchung des Jahres 2015 (Ellsäßer und Lüdecke 2015) sind Kinder mit niedrigem sozialen Status in 23,7 % der Fälle chronisch krank. Beispiele sind somatische Erkrankungen (z. B. Sprach-, Seh- oder Hörstörungen) oder psychische Erkrankungen wie ADHS und emotionale soziale Störungen. Dieser Anteil liegt bei hohem sozialen Status mit 9,5 % deutlich niedriger.
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Unfallverletzungen: Daten zu Unfällen in der Schule, Kita, zu Hause, in der Freizeit und im Straßenverkehr wurden vereinzelt im Hinblick auf Zusammenhänge mit der sozialen Lage untersucht. Eine ältere Studie von Geyer und Peter (1998) zeigt, dass Kinder von un- und angelernten Arbeitern sowie von Facharbeitern häufiger unfallbedingt im Krankenhaus behandelt werden als Kinder von Angestellten und Personen in höheren beruflichen Personen.
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Psychosoziale Gesundheit: Befunde auf Basis der „Health Behaviour in School-aged Children“ (HBSC)-Studie (z. B. Richter et al. 2008) zeigen für Kinder und Jugendliche im Altersbereich 11–15 Jahre, dass die subjektive Gesundheit in Abhängigkeit des familialen Wohlstands besser beurteilt wird. Ähnliche soziale Unterschiede werden auch für psychosomatische Beschwerden wie Kopf-, Bauch- und Rückenschmerzen, Schlafstörungen oder Items zum emotionalen Befinden berichtet.
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Gesundheitsverhalten: Ebenfalls auf Basis der HBSC-Studien lassen sich schließlich statusabhängige Unterschiede z. B. in der Ernährung zeigen (Kinder aus sozial schlechter gestellten Familien essen z. B. seltener frisches Obst und Gemüse) sowie Unterschiede in der Häufigkeit des Tabak- und Alkoholkonsums, die mit dem sozialen Status abnimmt.
4 Soziale Netzwerke, familiales soziales Kapital und kindliche Gesundheit: Ein Literaturüberblick
4.1 Kindernetzwerke und kindliche Gesundheit
4.2 Elterliche soziale Netzwerke, familiales Sozialkapital und kindliche Gesundheit
5 Familiales Sozialkapital, kindliche Gesundheit und soziale Ungleichheit
6 Abschließende Diskussion des Forschungsstands
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Studie zur Gesundheit von Jugendlichen in Deutschland (KiGGS)Im Rahmen der vom Robert Koch-Institut durchgeführten KiGGS-Studie wurden 2003–2006 erstmals umfassende und bundesweit repräsentative Gesundheitsdaten für Kinder und Jugendliche erhoben. Seit 2009 wird KiGGS als Langzeitstudie fortgeführt. Mithilfe der Daten können sowohl die aktuelle gesundheitilche Lage von Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren als auch – aufgrund der Panelstruktur der Daten – zeitliche Entwicklungstrends und Veränderungen im Lebensverlauf analysiert werden. Familiales Sozialkapital lässt sich über verschiedene Globalindikatoren abbilden die z. B. familiale Kohäsion oder elterliche soziale Kontrolle messen.Zugang über www.kiggs-studie.de
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Health Behaviour in School-Aged Children – WHO Collaborative Cross-National Survey (HBSC)Die alle vier Jahre stattfindende Befragung HSBC wurde 1982 initiiert und wird derzeit in 48 Ländern (Europa und Nordamerika) durchgeführt. Das Ziel der Studie ist die Sammlung landesweit repräsentativer Daten über die Gesundheit, das familiäre und soziale Umfeld sowie das gesunheitsrelevante Verhalten von Jungen und Mädchen des 5. bis 9. Schuljahres, die in der Regel zwischen 11 und 15 Jahre alt sind. Familiales Sozialkapital wird über einige Globalindikatoren wie z. B. emotionale oder instrumentelle Unterstützung durch die Eltern operationalisiert.