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2022 | OriginalPaper | Chapter

2. Struktur der Organisation und des Projekts: Entscheidung und Entscheidungsprämissen im Veränderungsprozess

Author : Marcel Schütz

Published in: Die Realität der Reform

Publisher: Springer Fachmedien Wiesbaden

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Zusammenfassung

Mit diesem Kapitel werden einige elementare Klärungen über Organisationen als soziale Systeme und im Besonderen über ihre Entscheidungsstruktur vorgenommen. Der Ausgangspunkt dafür ist soziologisch-systemtheoretischer Art. In dieser Linie soll die Voraussetzung geschaffen werden, den Bericht des Reformprojekts nach drei grundlegenden Strukturen einer Organisation auszuwerten: erstens im Blick auf programmatische Ordnung, zweitens auf kommunikative Verfahren und drittens bezüglich der Personalien. Alle drei bilden die organisatorische Entscheidungsstruktur.

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Footnotes
1
Im Forschungsenglisch werden Entscheidungsprämissen direkt als Decision Premises gefasst, wie sich in der Literatur einheitlich zeigt (Cooren & Seidl, 2020, S. 483; Luhmann, 2018a, S. 181; erste Ausformulierung bei Simon, 1957, S. 201 – dazu s. u.; vgl. Tacke & Drepper, 2018, S. 63).
 
2
In der frühen, sich noch entwickelnden Systemtheorie wurden die Prämissen begrifflich des Öfteren alterniert. So stehen Organisation, Organisationsvorschriften, Macht und Kommunikationsnetze bei Luhmann (1970/1971) originär gesammelt gleichlautend für Kommunikation. Aus dem Universitätsarchiv der Universität Bielefeld liegt die Kopie des ursprünglich abgetippten Manuskripts Luhmanns vor, in das auch eine Reihe von Grafiken bzw. Einzeichnungen zur Veranschaulichung der organisatorischen Entscheidungsstruktur eingearbeitet wurden – eine im Hinblick auf das anschließende Werk Luhmanns relativ seltene Vorgehensweise am Text. Personal wird noch – wenngleich es auch hier nicht um ‚ganze‘ Menschen im engeren Sinne geht – sehr direkt mit Persönlichkeiten gewechselt. Obwohl, wie in der Einleitung bereits notiert, Vorschriften eine direkte Übersetzung von Programmen darstellen, werden sie von Luhmann für Kommunikation gesetzt, was zu einer irrtümlichen Interpretation führen könnte. Die Terminologie wird später aber auf Programme, Kommunikation und Personal (Luhmann 2011, 2018a) reduziert bzw. vereinheitlicht. Im Übrigen wird die oft erwähnte Veränderung der Systemtheorie mit der gängigen Unterscheidung früherer und späterer Ausprägung (Stichwort ‚autopoietische Wende‘) im vorliegenden Untersuchungszusammenhang nicht weiter problematisiert.
 
3
Eine solche Grundordnung sollte gleichwohl nicht zu voraussetzungsvoll und schon gar nicht als ‚statisch‘ missverstanden werden. In der frühen Systemtheorie dürfte die Annahme einer vorgängigen Ordnung überwiegen, wovon später abgewichen wird. „Das Verhältnis von Ereignis und Struktur wird dabei als ein rekursives und zirkuläres bestimmt, es wird also nicht mehr davon ausgegangen, dass eine der beiden Sinnformen der jeweils anderen vorgängig ist.“ (Tacke & Drepper, 2018, S. 63)
 
4
Hierunter ist vor allem die forscherische Unabhängigkeit zu verstehen. Die Kompatibilitätserwartung im Hinblick auf die Praxis wird sich häufig kritischen Fragen stellen müssen. Es gibt Gründe zu der Annahme, dass das organisationstheoretische Studium nicht deckungsgleich mit der Realität der Organisationspraxis verstanden werden kann. Möglicherweise wäre Organisationstheorie ansonsten auch kaum im bekannten Maße möglich (vgl. Kette, 2018, S. 113–118). Siehe für entsprechende Restriktionen und Abklärungen Nicolai und Kieser (2002, S. 587–593), die sich an einer Kritik wissenschaftlich formulierter „Erfolgsfaktoren“ in der Managementforschung abarbeiten und dazu die Divergenz wissenschaftlicher und betriebspraktischer Legitimationen aufzeigen.
 
5
Der im Weiteren entfaltete soziologisch-systemtheoretische Ansatz bleibt auf einige Grundzüge des Systemtyps Organisation beschränkt. Die ihm zugrunde liegende theoretische Tradition und der innere sowie zeitliche Auf- und Ausbau dieser Großtheorie können hier nicht entfaltet werden. Luhmann hat seine Gesellschaftstheorie zunächst insbesondere aus einer Organisations- und Verwaltungstheorie entwickelt, wodurch dieser Bereich einen prominenten Rang in der späteren gesamthaften, universellen Gesellschaftstheorie behielt. Wahrscheinlich gehört Luhmann überhaupt zu den wenigen Soziologen, die eine vollständige eigene (Gesellschafts-)Theorie der Organisation vorgelegt haben, wie der Organisationsforscher John Mingers meint: „I think it is fair to say that Luhmann is one of the few major sociologists who has the concept of organizations as a fundamental category within their social theory.“ (Mingers, 2003, S. 103) Es gibt im Zuge der Internationalisierung der Luhmann’schen Theorie verschiedene Beiträge zur gesellschaftstheoretischen Einbettung (Seidl, 2004; Seidl & Becker, 2006; Martens, 2006; von Schlippe & Frank, 2013). Eine auch für Neulinge und PraktikerInnen relativ leicht fassliche systemtheoretische Soziologie der Organisation hat Stefan Kühl (2020a, 2013) geschrieben. Eine weitere systemtheoretisch orientierte Organisationssoziologie liegt von Tacke und Drepper (2018) vor. Beide Werke greifen die originären organisationswissenschaftlichen Standardwerke von Niklas Luhmann (1999, 2011) maßgeblich auf und verknüpfen sie mit breiteren Forschungszusammenhängen und Fachterminologien.
 
6
Anders liegen die Dinge wiederum für Interessen- und Neigungsorganisationen, die Mitgliedschaft nur für Professionelle/Bedienstete (Leitung und Verwaltung im engeren Sinne) monetär motivieren, ansonsten aber Motivation über Beteiligung, Interessenvertretung und Gemeinschaft unter Gleichgesinnten herstellen und festigen. Es entspricht dem Charakter solcher Organisationen, hierarchische Mittel gar nicht bzw. nur in begrenztem Maße gebrauchen zu können (vgl. Schütz & Bull, 2017, S. 7, Fn. 3).
 
7
Der Begriff der Autopoiesis wird in Kap. 3 nochmals weitergehend aufgegriffen.
 
8
Gleichwohl gilt das in dieser Schärfe für Arbeitsorganisationen weit expliziter als für Interessen- und Neigungsorganisationen bspw. im Freizeit- und Kulturbereich, die auch Verstöße gegen Erwartungen flexibler behandeln können (die Mitglieder sind als zahlende Personen zugleich halbe Kunden, was wiederum eher latent gehalten wird). Auch sind im Falle von Kirchengemeinden, Fußballvereinen oder Kreisparteitagen weit weniger durchartikulierte formale Erwartungen gegeben. Die Bereitschaft zum Engagement wird von Seiten solcher Organisationen mit einer gewissen Nachsicht erkauft. Überhaupt fehlt es an direkten disziplinarischen Durchgriffen, weshalb Neigungsmitglieder ein buchstäbliches ‚Ausleben‘ ihrer diesbezüglichen Neigungen weniger rigide mäßigen müssen als es von ihnen in vertraglich formalisierten Rollen, die sie als EntscheiderInnen, ArbeitnehmerInnen oder BeamtInnen in Firmen, Behörden oder Banken ausfüllten, gefordert würde. Mitgliedschaft selbst ist oftmals auch außerhalb der soziologischen Systemtheorie eine zentrale Größe zur analytischen Bestimmung formaler Organisationen. Ganz offensichtlich scheinen Mitglieder als ‚rollenformatierte Stimulatoren‘ bürokratischer Ordnungen aus vielerlei Gründen bedeutend zu sein. Der US-amerikanische Organisationspsychologe Karl E. Weick hat es entsprechend in etwas spitze Worte gebracht: „Organisationen halten Leute beschäftigt, unterhalten sie bisweilen, vermitteln ihnen eine Vielfalt von Erfahrungen, halten sie von den Straßen fern, liefern Vorwände für Geschichtenerzählen und ermöglichen Sozialisation. Sonst haben sie nichts anzubieten.“ (Weick, 1985, S. 375) – Immerhin für die in diesem Buch zugrundeliegende Frage, wie Organisationen ihre eigene Realität hervorbringen, sind diese Punkte aber doch schon eine ganze Menge.
 
9
So immerhin die Einschätzung eines der befragten Mitglieder der Institutsleitung in dieser Organisationsstudie, das sich damit auf die Beobachtung von Entscheidungsprozessen in Großprojekten in seinen vormaligen Berufsstationen bezog. Schwerwiegendere Entscheidungspathologien in Organisationen erweisen sich oftmals als Partikularisierung und schleichende Aufhebung der bestehenden Entscheidungsstruktur – gewissermaßen die böse Banalität einer „normalization of deviance“ (vgl. Vaughan, 1996; Schütz, 2020d). Der Begriff Pathologie ist hier nicht direkt wörtlich zu nehmen; bezeichnet wird in der Forschung mit Betriebs- oder Bürokratiepathologie ein Muster verstetigter dysfunktionaler Entwicklung von Routinen bzw. Praktiken, die fehlerhafte oder riskante Entscheidungen bewirken und organisatorische Eskalationen – Störfälle, Unfälle, Katastrophen – begünstigen. Hier können nicht nur Entscheidungsepisoden, sondern deren vorlaufende Prämissen riskante Pfade stabilisieren und ‚aus dem Ruder laufen‘ (vgl. Dosdall, 2018, 2020; Schütz, 2020a). Eine psychologisch-personalisierte Bearbeitung bezüglich Fehlentscheidungen aufgrund mutmaßlich ungeeigneter Persönlichkeitsdisposition (Personalprämisse) steht unter dem Begriff management derailment/decision derailment (vgl. Hogan et al., 2011).
 
10
Im Zusammenhang insbesondere mit theoretischen und empirischen Untersuchungen zur Veränderung und Entwicklung von Organisationen wurde das nach Herbert A. Simon (1957) und Niklas Luhmann (1999) geprägte Dreierschema in den vergangenen Jahren vermehrt aufgegriffen. Siehe (hier nur kursorisch) für theoretische Arbeiten Mingers, 2003; Seidl, 2004; Martens, 2006; Seidl & Mormann 2015; für empirisch und thematisch interessierte Arbeiten: zu Rettungsorganisation, Grothe-Hammer & Berthod, 2017; zu Karriere in Organisationen, Becker & Haunschild, 2003; Röthlin, 2013; zu Organisationskultur, Kühl, 2018a, b; zu Transparenzinitiativen in Organisationen, Ringel 2018; zu Schulentwicklung und Wissensmanagement, Heitmann 2013; zu diakonischen Diensten, Höver 2015; zu Gemeindeentwicklung und -führung in der Kirche, Röbken & Schütz, 2019; zu Glücksspielkonsum Egerer et al. (2020).
 
11
Der Begriff Programm klingt für Ohren der Gegenwart womöglich etwas abstrakt und informationswissenschaftlich eingefärbt. Tatsächlich ist er aus der Informatik entlehnt worden, um dortige Erkenntnisse über Rechenprozeduren und algorithmische Modellierung nach wiederkehrenden Schemata auf den Gegenstand der Organisation zu übertragen (vgl. Luhmann 1993). Wir können hierzu noch einmal wie folgt wiederholen und eingrenzen: Programme dienen zur Bestimmung eines vorgegebenen und nach gefestigten Prinzipien verstetigten Entscheidungsverfahrens.
 
12
Es ist darauf hinzuweisen, dass die Ursprünge bei Simon etwas in Vergessenheit geraten sind. Ein wichtiger Grund für die eher späte Beachtung der Luhmann-Bearbeitung durch die Organisationsforschung besteht wohl teils darin, dass die Zahl der Übersetzungen in die englische Sprache erst in den letzten Jahren gestiegen ist und somit längere Rezeptionsprobleme ausgeglichen werden. Für eine wichtige, erstmalige und aktuelle Übersetzung von Teilen aus Luhmanns Grundlagenwerk „Funktionen und Folgen formaler Organisation“ (1999), siehe Grothe-Hammer/la Cour (2020).
 
13
In der organisatorischen Praxis findet sich für diese Vorannahmen, etwas vereinfacht betrachtet, eine vertraute Formel, insbesondere in juristischen und behördlichen Angelegenheiten – nämlich dann, wenn die Worte ‚Grundlage dieser Entscheidung ist/bildet…‘ fallen und damit in der Regel auf Gesetzeswerke und Richtlinien, jedenfalls programmatische Artefakte oder Dokumente, referiert wird. Freilich müssen hier noch einige theoretische Abstraktionen vorangehend eingerechnet werden, aber die wesentlichen Komponenten (Eingrenzung, Alternativenbereich, Auswahl) sind mit der Hinter- oder Unterstruktur regulatorischer Grundlagen, die über die verfügbaren Möglichkeiten bei Entscheidungsepisoden informieren, vergleichbar gegeben.
 
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Solche digital vermittelten ‚Abwesenheitsanwesenheiten‘ wurden im Zuge der Covid-19-Lage zunehmend thematisiert. Inzwischen sind auch diverse Beiträge erschienen und wohl weiter in Vorbereitung, die sich diesem Thema oganisationswissenschaftlich zu nähern versuchen (vgl. Spicer, 2020). Hier interessiert naheliegend der soziale Umgang mit den technisch-sozialen Schnittstellen von Webkonferenzen bzw. Onlinemeetings in Projekten. Ich habe an anderer Stelle, sehr knapp, dazu ein paar interaktionstheoretisch hergeleitete Überlegungen anskizziert: Schütz (2020b).
 
15
Die Relevanz dessen wird deutlich, wenn z. B. anlässlich des darzustellenden Veränderungsprojekts Informationen der Unternehmensleitung via Telefonkonferenzen der Belegschaft mitgeteilt werden, man allerdings registriert, dass im Vergleich zu Präsenzbesprechungen sich hierbei Monotonien und Aufmerksamkeitsdefizite einstellen. Rückmeldungen, Ideen und Vorschläge hinsichtlich Entscheidungen bleiben sparsam. Im besagten Beispiel wurden die Telefonrunden zugunsten lokaler Abstimmungen und Besuchstermine der Führung in den Filialregionen wieder reduziert.
 
16
Stefan Kühl (2006, S. 4) hat die Entscheidungsprämissen auch als „3 K-Modell“ diskutiert: Kriterien (Programme), Kanäle (Kommunikation) und Köpfe (Personen); wir setzen dies, in angepasster Form, mit der nachfolgenden Gliederung um. Vom in früheren Jahren noch kursierenden „POP-Schema“ (Kühl, 2001b, S. 199; Dammann, 2010, S. 199) – Programme, Organisation/Kommunikation, Personal – scheint man inzwischen abgerückt zu sein.
 
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Organisationale Identität kann hier verstanden werden „als (mehr oder weniger) stabile Strukturen, an denen Mitglieder einer Organisation sich (mehr oder weniger) dauerhaft affirmativ orientieren können/wollen“ und sie ist „oftmals eng mit der Motivation der Mitglieder, für die Organisation zu arbeiten, verbunden“ (Ringel, 2013, S. 4). Organisationale Identität kann maßgeblich über die Selbsterzeugung der Organisation (Autopoiesis) und also ihre Grenzziehung zur Umwelt erklärt werden. Negativ formuliert: „Wenn eine Organisation über ihre Zwecke nicht selbst entscheiden kann, sondern diese von außen verordnet bekommt, dann hat sie nur begrenzte Möglichkeiten, eine eigene Identität zu pflegen.“ (Kühl, 2020a, S. 13, kursiv MS) Traditionell gilt diese Begrenzung für Behörden resp. den öffentlichen Dienst (vgl. Luhmann, 1997). Durch Reformen im Sinne des sog. New Public Management sind hier aber seit einigen Jahren größere Autonomien (also Identitätsstiftung) zu beobachten, u. a. im Bildungs- und Hochschulwesen.
 
18
Beratungsliteratur macht darauf aufmerksam, dass das Thema der Kommunikation in vielen Organisationen gewissermaßen metakommunikativ als Defizienz behandelt wird. Aus meiner eigenen Beratungstätigkeit kenne ich fast nur Organisationen, in denen, wie man hört, ,zu schlecht kommuniziert wird‘. Es scheint so, dass immer mehr Führungskräfte einer Übersetzungssoftware bedürfen, um die Sprache ihres Bodenpersonals zu verstehen. Nicht ausgeschlossen, dass sich damit ein Geschäft machen lässt. Eine typische weitere Klage lautet, dass auch viel zu wenig kommuniziert werde. Die Folge ist, dass Klagen über den Mangel an Kommunikation natürlich in noch mehr Kommunikation und an der frappanten Einsicht geradewegs vorbeiführen: wie ausgiebig man selbst die Nichtkommunikation noch zu kommunizieren versteht. Vielleicht lautet hier die praktische Erkenntnis: Je mehr sich Organisationen mit ihrer Kommunikation befassen, desto weniger dürfen sie hoffen, damit ihren Frieden zu finden. Immerhin mit KommunikationsberaterInnen und -expertenInnen kann man über all seine Probleme dann lang und breit weiter kommunizieren. – Gut beraten ist halb verstanden. Aber auch nur halb, damit neue Bedarfe entwickelt und alte Therapien fortgeführt werden (vgl. zur Selbstvermehrung und -verstärkung von Organisationsberatung Kieser, 2005, 1997). Tatsächlich denke ich, dass die ‚therapeutisch‘ entlastende Funktion dieser Kommunikationsklagen nicht unterschätzt werden sollte.
 
19
Besondere Mischinklusionen von Privatheit und Formalem finden sich historisch und abnehmend nur noch als Klischee: in den dynastisch präsentierten alteingesessenen Familienunternehmungen mit ihrem Hauspatriarchat; in den ehemaligen höfischen Ordnungen der Aristokratie; in den agrarischen Güterbetrieben; im klösterlichen Leben. Mit einer Vielzahl an monastischen und stiftischen Kommunitäten, Zünften, Gilden und Genossenschaften waren die semi-organisatorischen Vorformen im Übergang zur Frühmoderne/Moderne, zwischen Reformation, Aufklärung und Industrialisierung, freilich noch weitgehend hochinklusiv ausgebildet. Alle diesbezüglichen Kommunikationen „regulierten auch die kulturellen, politischen und rechtlichen Beziehungen ihrer Mitglieder“ (vgl. Kühl, 2014, S. 344; Luhmann, 1998, S. 827).
 
20
Dieses Bonmot überzeugt aus meiner Sicht im Blick auf die Möglichkeit eines funktionalen Ausschlusses, sollte aber vielleicht nicht in dieser Absolutheit gelesen werden. Es ist sicher richtig, dass den Organigrammen eine diskrete Barrierefunktion innewohnt, die auch nur selten in dieser Form bewusst gemacht wird (am ehesten wohl noch, wenn Personen sich unangenehm gehindert sehen, sich mit bestimmten, ihnen zugänglich erscheinenden Stellen auf direktem Wege in Verbindung zu setzen). Gleichwohl bestehen auch relativ banale ablauforganisatorische oder betriebslogische Effizienzen, die durch eine witzige Wendung nicht wegsoziologisiert werden können.
 
21
Die Theorie sieht dies halb und halb. Luhmann bespricht Projektstrukturen als Teil der Entscheidungsprogramme, genauer der Zweckprogramme (2011, S. 272 f.). Kühl diskutiert sie sowohl als Zweckprogramme (2016a, S. 8–11) als auch in der Form neuer Kommunikationsstrukturen (2020a, S. 94). Die Klärung der Zuordnung ergibt sich aus der Frage, ob man eher vom regulatorisch-initialen oder vom hierarchisch-dispositiven Organisationsaspekt ausgeht und dahingehend die Argumentation entwickelt.
 
22
Es geht bei Erwähnung solcher Philosophien hier aber nicht darum, die Konzepte und ihre Grundannahmen wissenschaftlich zu adeln, sondern darum, sie als Formen der Kommunikation von Personalangelegenheiten in Organisationen ernstzunehmen. Praxiskonzepte interessieren in der soziologischen Organisationsforschung als gelebte Wirklichkeit betrieblicher Abläufe. Wertungen hinsichtlich Erfolg, Akzeptanz oder sonstiger Hintergrundannahmen ideologischer Natur bestehen davon unabhängig.
 
23
Mit der Auswahl und Anstellung von Personen idealisieren Organisationen deren Befähigung derart, dass es so aussieht, als bliebe sie von nun an gänzlich dem Dienstgeber unterstellt. Diese Idealisierung kommt in Arbeitsverträgen zum Ausdruck, die es für den Trennungsfall verbieten, mit dem erworbenen Wissen beim Konkurrenten aufzuschlagen. Arbeitsrechtlich wird hier wohl insinuiert, dass mit der Beendigung der Mitgliedschaft die erworbenen Personen-, Ablauf- und Betriebskenntnisse (sog. Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse) ebenso zurückgegeben werden könnten wie Laptop, Dienstwagen und Schlüssel. Hier muss die Entscheidungstheorie dem Recht in die Parade fahren, denn es findet unaufhaltsam eine mitgliedschaftsübergreifende Sukzession von Fähigkeiten und Wissen statt. Personen akkumulieren betriebliche Spezifika, sodass jede neue Anstellung höheres Ausspielen dieser erworbenen Erfahrungen ermöglicht. Auch wenn jede Organisation diesen Transfer zu hemmen sucht, ist sie andererseits genau darauf angewiesen. Denn nichts anderes wird unterstrichen, wenn Personen mit ‚langjährigen Erfahrungen‘ und ‚auf Top-Entscheider-Ebene‘ gesucht werden. Es ist dann einzig die Frage, an welcher Stelle der Nahrungskette abgebende und empfangende Organisationen stehen und ob sie im Haben insgesamt mehr Wissen resp. Personalkapital bilanzieren können als sie wieder abtreten müssen.
 
24
Im Prinzip ist jede Organisation auf ein gewisses Maß an solchen Ein-Bildungen (doppelsinnig intendiert!) angewiesen, betrachtet man nur die Gestaltung dualer Ausbildungsformen, betrieblicher Schulungsmaßnahmen und Personalentwicklung, die mit dem deutlich vernehmbaren Wunsch einer praxistauglichen Aneignung und Ausspielung des Wissens einhergehen. Diesbezüglich wurde auf die Funktion heimlicher Lehrpläne (vgl. Breisig, 2005, S. 257) und die inkrementelle Entwicklung ideologischer Reserven hingewiesen. Gemeint sind informale Erwartungen, die nicht durch Regelwerke gedeckt sind, die aber als dezente Codes erwünschter und akzeptierter Darstellung der betrieblichen Persönlichkeit antrainiert bzw. internalisiert werden. Vgl. zur mikropolitischen Formung Auer et al. (1993).
 
25
Eine prägnante Stelle bei Luhmann (2011, S. 280): „Denn Organisationspläne und Aufgabenbeschreibungen lassen sich leicht, praktisch mit einem Federstrich ändern. Dagegen ist das Agglomerat von individuellen Selbsterwartungen und Fremderwartungen, das als ‚Person‘ identifiziert wird, schwer, wenn überhaupt umzustellen.“
 
26
Freilich ist die Abfolge mit Vergütungsstrukturen, Anreizwesen, Kompensationen und arbeitsrechtlichen Einzelmaßnahmen um einiges differenzierter. Uns interessiert hier lediglich eine Orientierung an – um einen Begriff aus der Pädagogik zu gebrauchen – „Transitionen“ (Standop 2009); hier aber im Gang der Mitgliedschaft, d. h. Transitionen sowohl aus der Umwelt in die Organisation als auch durch die Funktionsbereiche gemäß der Gliederung einer Organisation und schließlich solche wieder zurück in die Umwelt, wozu dann Arbeitsmärkte und neue Organisationen zählen.
 
27
Luhmann (2011, S. 292), wagt hierzu die interessante Spekulation, dass ein gewisser Teil des Personals einer Organisation eigentlich in allen Stellen ungeeignet ist – außer in Führungsaufgaben („weil er sich nur an der Spitze des Systems entfalten kann“), die diesen Personen aber nicht zugänglich sind, auch wenn sie sich als gute SpitzenentscheiderInnen erweisen könnten. Mir scheint, es handelt sich hier um eine Art umgekehrtes „Peter-Prinzip“, wonach – so die ursprüngliche These – Personen solange befördert werden, bis sie die Stufe ihrer maximalen Überforderung und Inkompetenz erreicht haben (Peter & Hull, 1969; für eine empirische Modellierung zur beobachtbaren Effizienzsenkung in Organisationen Pluchino et al., 2010). Aber Luhmanns Überlegung – er selbst hatte in seinem nichtakademischen Vorleben einige Jahre im Landesverwaltungsdienst zugebracht – besticht durch die Beobachtung, dass im Karriereweg in einer Organisation nun einmal eine Vielzahl von Verhinderungen und Ablenkungen lauern können, die schon frühzeitig die Sichtbarkeit personaler Eignungen auf bestimmte selektive Begünstigungen hin einengen. Einfacher gesagt: Wer zu lange übersehen wird, muss damit rechnen, nicht mehr sehr viel sehen zu können – und auch nicht zu dürfen.
 
28
Wie gesagt, in der Praxis setzt das Arbeitsrecht allerdings enge Grenzen im Blick auf die Möglichkeit der Entlassung. Daher ist es üblich, Versetzungen und Degradierungen einer ansonsten vor dem Arbeitsgericht nicht selten als unwirksam beschiedenen Entlassung und der Zahlung ggf. erhöhter Abfindungen vorzuziehen (vgl. Kühl, 2020a, S. 95). Nicht zuletzt gibt es in Organisationen auch kollegiale Hemmungen, am Arbeitsplatz bestehende Konflikte im Zusammenhang mit der personalen Leistung unmittelbar zu eskalieren. Damit nämlich droht ein psychisch belastendes Aufreiben, das die interpersonelle Geschmeidigkeit und das Betriebsklima beeinträchtigen kann. Das mildere Mittel der Versetzungen, einschließlich solcher, die, einmal auf höheren Hierarchieebenen angelangt, gar nicht unbedingt zur Degradierung, sondern sogar zur Besserstellung des Betroffenen führen können (Wegloben), erscheint Beteiligten dann als ein relativ unkompliziertes Abmoderieren personaler Problemfälle.
 
29
OrganisationsforscherInnen werden bisweilen gefragt, welchen Unterschied es denn macht, von informalen oder informellen Abläufen zu sprechen. Die Antwort: keinen.
 
30
Wie für viele betriebliche Dokumente üblich ist diese Abbildung bei ihrer Anfertigung durch verschiedene Hände gegangen; sie wurde womöglich aus anderen Darstellungen abgeleitet und ergänzt. Eine genaue Rekonstruktion und personale Zuordnung war auf Nachfrage nicht mehr möglich. Beraterischer Einfluss ist nicht auszuschließen. So ist diese ‚unbeabsichtigte‘ betriebliche Version der Entscheidungsprämissen gewissermaßen selbst nebulös programmiert worden, in der Hierarchie nicht mehr eindeutig zuzuordnen und im Blick auf Personen ohne genaue Adresse. Wie man sieht, die Entscheidungsprämissen einer Organisation lassen sich auf viele mögliche Umstände und Vorbedingungen heruntergeneralisieren.
 
31
Bei Konstruktvalidität geht es, einfacher gesagt, darum, eine Forschungsarbeit auf ‚breitere Füße‘ zu stellen. Dies kann in der Organisationsforschung bzw. überhaupt in betriebsnahen wirtschaftlichen bzw. Arbeitsuntersuchungen dadurch erfolgen, dass man die Meinung von praxiserfahrenen bzw. fachkundigen Stellen (ExpertInnen) einholt (vgl. Goldenstein et al., 2018, S. 104) um damit „die selbst entwickelten Konstrukte durch weitere Sichtweisen abzusichern“. Ebenso kommen aber auch Dokumente bzw. Artefakte der Organisation in Betracht, die immerhin Indizien für bestimmte entscheidungsmäßige Stile oder Gepflogenheiten bieten. Es versteht sich, dass solche Informationen aber nur einen Teil des Bildes darstellen können.
 
Metadata
Title
Struktur der Organisation und des Projekts: Entscheidung und Entscheidungsprämissen im Veränderungsprozess
Author
Marcel Schütz
Copyright Year
2022
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-35734-4_2