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11-02-2015 | Vertriebskanäle | Schwerpunkt | Article

„80 Prozent der Online-Händler werden nicht überleben“

Author: Gabi Böttcher

11:30 min reading time

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Der Online-Handel droht zum Laden-Killer zu werden und wird nach Experten-Prognosen dem klassischen Einzelhandel in den nächsten Jahren immer mehr und immer schneller Umsätze wegnehmen. Springer-Autor Gerrit Heinemann spricht über die Zukunft des stationären Handels, die Herausforderungen für den Online-Handel und neue Wege zum Kunden.

Springer für Professionals: Herr Prof. Heinemann, jeder zweite Deutsche kauft inzwischen online. Sieht die Zukunft des stationären Handels in den Innenstädten düster aus?

Gerrit Heinemann: Die Auswirkungen des Online-Handels werden sich vor allem in Klein- und Mittelstädten bemerkbar machen. Diese werden bis zum Jahre 2024 noch einmal rund 25 Prozent ihres heutigen Flächenumsatzes verlieren, was erheblichen Ladenleerstand zur Folge haben könnte. Der Anteil von Klein- und Mittelstädten am stationären Einzelhandelsumsatz in Deutschland wird von 49,5 Prozent im Jahr 2014 auf rund 37 Prozent im Jahre 2024 schrumpfen. Die 158 Oberzentren, also Städte mit mehr als 100.000 Einwohnern, werden ihre Position als Handelsorte dagegen weitegehend behaupten können. Die Umsatzverluste in schwächeren Oberzentren werden durch Umsatzzugewinne in anderen Großstädten wie Hamburg, Berlin, Frankfurt oder München überkompensiert. Dies setzt allerdings voraus, dass die Filialisten ihre Hausaufgaben machen. 25 Prozent des stationären Umsatzes in Deutschland werden schon heute in nur sechs Wirtschaftsräumen gemacht: Hamburg, Berlin/Potsdam, Ruhrgebiet, Rhein-Main-Dreieck, Stuttgart und München. In den Oberzentren ist deswegen zum Teil sogar mit starken Mietsteigerungen zu rechnen.  Aus diesen Prognosen lassen sich  politische Forderungen ableiten. Dazu zählen unter anderem weniger lokale Reglementierungen für den stationären Handel, zum Beispiel bei Öffnungszeiten und Sortimenten, eine digitale Aufrüstung der Innenstädte, ein professionelles City-Management der Kommunen und eine Abkehr vom unreflektierten Bau weiterer Großflächen in peripheren Lagen. Die Aufgabe von weiteren Warenhäusern in Innenstädten sollte eher der Anlass sein, Fachmärkte wie zum Beispiel Lebensmittelhändler in die Innenstädte zurückzuholen. Dabei muss der innerstädtische Handel in Klein- und Mittelstädten den Online-Pure-Players nicht kampflos das Feld überlassen, sondern kann sich – zum Beispiel durch eigene Online-Shops – auch einen Teil vom Online-Kuchen holen. Zudem können Geschäfte beispielsweise bei der schnellen Belieferung von Kunden kooperieren und ihre Standortnähe gegenüber den Online-Händlern als Mehrwert ausspielen.

Welche Entwicklungen im Online-Handel, die Sie in den letzten Monaten beobachtet haben, würden Sie als besonders einschneidend bezeichnen?

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Die Zukunftsthemen, die zukünftig einen nachhaltigen Einfluss auf den neuen Online-Handel ausüben werden und/oder zum Teil bereits haben, sollten nach digitalen Megatrends, spezifischen Trends im Online-Handel sowie Entwicklungen im Multi-Channeling differenziert werden.  Ein Internet-Megatrend ist zum Beispiel die Digitalisierung des Alltags mit neuen Kommunikations- und Konsummustern“, „expansive Internationalisierung und Cross Border Trade im E-Commerce“, „digitale Regionalisierung mit zunehmendem Lokalbezug im E-Commerce“ sowie die „Transformation von Big Data zu Smart Data“ angesehen werden. Hier ist vor allem das sich abzeichnende Spannungsfeld zwischen Cross Border Trade und damit zunehmend importierten Online-Handelsumsätzen auf der einen Seite sowie zahlreiche Gründungen für regionale Marktplätze als Einstiegsbügel für lokale Händler  in der Online-Welt auf der anderen Seite bemerkenswert.Als Top-5 der Trends im Online-Handel können „Digitale Erlebnisorientierung und Emotionalisierung im Online-Handel“, „Passgenaue Personalisierung und Kundeninteraktion im Online-Handel“, „Smart-Convenience-Geschäftsmodelle und Efficient Automation“, „Branded Shops aus dem herstellereigenen Online-Handel“ sowie „Mobile First mit mobilen E-Commerce-Solutions“ angesehen werden. Diesbezüglich geht es vor allem um mehr Professionalität und Weiterentwicklung.Als Top-5 der Trends im Multi-Channel-Handel können der „Siegeszug von Portalen und Marktplätzen“, der „360-Grad-Commerce mit No-Line-Experience“, „Mobile Payment und Seamless Payment Experience, „Offline-Offensiven von Online-Pure-Plays“ sowie die „Neuerfindung von Services mit Digitalbezug“ angesehen werden. Vor allem das Mobile-Payment-Thema wird Fahrt aufnehmen, wenn es adäquate Einsatzmöglichkeiten dafür auf der Fläche gibt.

Auch die reinen Online-Shops stehen vor neuen Herausforderungen – laut Expertenprognosen wird noch in diesem Jahr eine erhebliche Konsolidierung erwartet. Sehen auch Sie diese Entwicklung auf die Händler zukommen?

Wie iBusiness im März 2014 ausführt, steht die E-Commerce-Branche trotz beständig steigender Umsätze vor einem tiefgreifenden Konzentrationsprozess, den offensichtlich bis zu 80 Prozent der Online-Händler nicht überleben werden.Für den Zweit- und Drittbesten in einem Segment wird es demnach immer schwieriger, den Kunden zum Einkauf zu bringen, denn immer größere Umsatzanteile verlagern sich auf immer weniger Händler. So steigerten die zehn größten Online-Händler Deutschlands ihren Marktanteil 2009 bis 2012 um mehr als fünf Prozent, während die Top-500-Händler von 69,5 auf 62,7 Prozent zurückfielen. In 2014 hat sich dieser Konzentrationsprozess sogar noch verschärft. Überdurchschnittlich konnten vor allem die größten Händler wie Amazon, Apple/iTunes und Zalando wachsen. Einer Feuerwalze gleich überrollt der US-Internethändler Amazon bereits den amerikanischen Einzelhandel. Das ist auch am Horizont des deutschen Einzelhandels sichtbar. Dabei hat Amazon nicht nur den deutschen Buchhandel regelrecht zerhackt hat, sondern in der Belletristik  sowie auch in den Fachbuchsortimenten mit jeweils rund 40 Prozent Marktanteil bereits eine quasi marktbeherrschende Stellung eingenommen. Zuletzt wurde jedoch auch viel über ein Abbremsen des Online-Wachstums diskutiert, allerdingshat es sich so nicht bestätigt. Auch wenn der Anstieg nun nicht mehr progressiv sein sollte, werden wir bis mindestens 2018 noch zweistellige Zuwachsraten haben und bis 2020 mindestens noch einmal verdoppeln. Hinzu kommen die enorm zulegenden Multi-Channel-Umsätze, die online ausgelöst, aber auf der Fläche als Stationärumsatz eingelöst werden.

Wie kann ein Online-Shop es schaffen, sich auch in Zukunft in seinem Segment zu  behaupten und zu überleben?

Um der die Konsolidierung treibenden Austauschbarkeitsfalle zu entgehen, ist eine differenzierende Positionierung des Online-Shops im Wettbewerb erforderlich, vor allem weil im Online-Handel eine enorme und zunehmend grenzüberschreitende Wettbewerbsdynamik wirksam ist. Darüber hinaus ziehen zunehmend  sogenannte Gate-Keeper wie zum Beispiel Vergleichsportale die Aufmerksamkeit der Kunden auf sich und vielfältige Spezialisten helfen den Kunden, indem sie gezielt bei der Inspiration und der Befriedigung der unterschiedlichen Kundenbedürfnisse einen relevanten Nutzen schaffen und damit zusätzlich den Kaufprozess kanalisieren. Insofern muss es mit einer Positionierung gelingen, sich in einer für die Kunden relevanten Dimension mit einem klaren Mehrwert zu profilieren. Bereits heute differenzieren sich erfolgreiche Online-Shops dadurch, dass sie nicht einen USP sondern mehrere USPs anbieten, also dem Kunden in mehreren Dimensionen ein einzigartiges Nutzenversprechen präsentieren und erfüllen. Die disruptive Digitalisierung treibt digitale Innovationen, die bereits eine Vielzahl kundenorientierter Branchen verändert haben. So haben zum Beispiel Downloads die westliche Buch- und Musikindustrie innerhalb von wenigen Jahren umgekrempelt. Dramatische Veränderungen kennzeichnen derzeit auch die Reisebranche: Statt im Reisebüro erfolgen immer mehr  Buchungen über Online-Buchungs-Plattformen. Während insbesondere der stationäre Handel seit Jahrhunderten auf der Stelle tritt und seine Verhaltensmuster nicht verändert, führt die disruptive Kraft des E-Commerce zu einer Transformation des Handels. So ist in den letzten 20 Jahren eine hohe Professionalisierung sowie Spezialisierung im Online-Handel entstanden. Durch konsequente Weiterentwicklung und Professionalisierung aller Funktionen, Prozesse und Systeme lässt sich heute Web-Exzellenz realisieren und ein USP innerhalb der einzelnen Strategieebenen umsetzen. Andererseits verändern sich vor allem durch die hohe Transparenz und Vergleichbarkeit im Online-Handel mit hoher Geschwindigkeit die Kundenerwartungen. Was gestern noch die Kunden begeistert hat, kann oftmals heute nicht einmal mehr Kundenzufriedenheit erzeugen. Insofern ist es ein großer Trugschluss zu glauben, im digitalen Wettbewerb mit Standard-Online-Shops bestehen zu können, die nur die ersten beiden Evolutionsstufen des E-Commerce auszeichnen. Mittel- und langfristig werden sich nur die Online-Händler durchsetzen, die mehrere vom Kunden wahrgenommene und einzigartige Nutzenversprechen bieten, welche intern exzellent umgesetzt werden.

Kundenloyalität ist eine flüchtige Angelegenheit. Der informierte Kunde wechselt heute schneller und leidenschaftsloser Händler und Marke als früher, wenn er unzufrieden ist. Welche Mittel und Wege gibt es nach Ihrer Erfahrung noch, um den Kunden zu binden?

Diese Frage kann allerdings nur aus Sicht der Kunden beantwortet werden, denn sie treiben die Entwicklung. Sie nutzen neue Technologien und stellen damit immer neue Anforderungen an die Anbieter, für die es um eine neue Art der Kundenorientierung geht, allerdings für einen Kunden, den es so bisher nicht gab. Die neue Kundenorientierung löst von der funktional orientierten Marketinglehre und stellt die Leidenschaft und Glaubwürdigkeit der gesamten Unternehmensführung und ein bedingungslos am Kundenwunsch ausgerichtetes Unternehmen in das Zentrum der geschäftlichen Aktivitäten. Diese Art der „Kundenzentriertheit“ durchdringt das komplette Geschäftssystem des Unternehmens und gibt Mitarbeitern zugleich einen Orientierungsrahmen für ihre täglichen Entscheidungen vor. Zunächst geht es um eine neue Dimension der Professionalität, deren Umsetzung –  entgegen weitverbreiteter Meinung – weitaus höhere Investitionen in Marketing, Kundenansprache, Organisation und Systeme erfordert, als das in den traditionellen Absatzkanälen der Fall ist. Sie dürften sich auf lange Sicht aber lohnen, denn die Kunden schätzen und honorieren es, im Zentrum der Geschäftsaktivitäten zustehen. Bestes Beispiel ist der Traditionshändler Macy´s, der mit einer derartigen Strategie „der neuen Kundenorientierung“ nicht nur den Turnaround zu einem hochprofitablen  Handelsunternehmen geschafft hat, sondern seit 2010 in allen Kanälen wieder stark wächst, und das im Kernmarkt von Amazon. Insgesamt geht es um die Umsetzung von fünf Kundenanforderungen, die derartige Unternehmen auszeichnen. Die erste Anforderung des Kunden betrifft den Angebotsumfang. Immer mehr Kunden erwarten,  dass sie alle Produkte im Netz finden und sich beinahe jedes weltweit verfügbare Produkt relativ schnell und einfach beschaffen können. Auch hochwertige und beratungsintensive Gebrauchsgüter. Als zweite Anforderung möchten die Kunden unmittelbare Einkaufsmöglichkeiten wahrnehmen können und dabei in den Genuss neuer Mehrwerte kommen. Sie  werden auf  Dauer keine verkrusteten Distributionsstrukturen akzeptieren, die Ihnen ihre Mündigkeit absprechen, direkt bzw. unkompliziert und serviceorientiert einkaufen zu können. Bestes Beispiel derzeit dürfte die SHK-Branche sein. Hier sind erfolgreiche Pioniere wie Reuter.de dabei, veraltete und verkrustete Vertriebskanäle aufzubrechen und dem Endkunden direkte und serviceorientiertere Einkaufsmöglichkeiten anzubieten. Die dritte Kundenanforderung betrifft digitale Zeitvorteile. Dabei geht es um Schnelligkeit, Zeitzuverlässigkeit und situationsgerechte Angebote. Same Day Delivery (SDD) wurde letztes Jahr bereits als Standard gesetzt und wird sich – vor allem von den Marktführern eBay und Amazon getrieben – weiter durchsetzen. Als vierte Anforderung geht es darum, dem veränderten Nutzungs- und Kaufverhalten der Kunden Rechnung zu tragen: Während die Internetnutzung zu Hause zwar stagnieren mag, explodiert der Gebrauch des mobilen Internets außer Haus. Die Internet-Nutzer lassen sich dabei nicht mehr einem bestimmten Gerätetyp zuordnen, sondern nutzen unterschiedliche Formate in unterschiedlichen Situationen oder auch parallel. Diese Entwicklung wird neuerdings als „Multi-Screening“ bezeichnet und weist darauf hin, dass zunehmend flexible Formatlösungen gefragt sein werden. Die fünfte Kundenanforderung besteht darin, dass Kunden die digitale Realität und ihre damit einhergehende digitale Anspruchshaltung zu jeder Zeit leben können, wo auch immer sie sich gerade aufhalten. Das gilt auch für das Einholen zusätzlicher Produktinformationen am POS. Insofern ist Macy´s auch Beweis dafür, wie durch die neue Kundenorientierung veralteten Formaten zu neuem Leben verholfen werden kann.

Welche Rolle werden Ihrer Ansicht nach in Zukunft mobile Anwendungen spielen, zum Beispiel bei der Neukundengewinnung?

In einer aktuellen Studie, die wir Ende 2014 am eWeb Research Center der Hochschule Niederrhein zusammen mit kaufDA/Bonial über die Smartphone-Nutzung sowie die Inanspruchnahme von Location-based Services in Deutschlanddurchgeführt haben, wird die Wichtigkeit diese Themas deutlich.Die Studie liefert aktuelle Zahlen zur Entwicklung der Nutzung mobiler Geräte in Deutschland: Die Penetration von Smartphones und Tablet-PC steigt innerhalb von einem Jahr um mehr als die Hälfte in 2013 auf zwei Drittel im Jahr 2014 explosionsartig an. Nahezu alle unter 30-Jährigen besitzen aktuell ein Smartphone. Der potenzielle Nutzerkreis von Location-based Services hat sich damit ebenfalls expansiv vergrößert. Die Studie macht deutlich, dass vor allem die Smartphone-Nutzung und standortbezogene Dienste enorme Chancen für den stationären Handel mit sich bringen. Der Verbraucher schätzt die Vorteile eines mobilen, vernetzten Lebens und stellt entsprechende Erwartungen an sein Einkaufserlebnis. Standortbezogene Dienste ermöglichen es dem stationären Händler ohne zusätzliche Investitionen, den Konsumenten dort abzuholen, wo er sich aufhält und informiert – im mobilen Netz.  Konsumenten verwenden LBS überwiegend zur Informationsbeschaffung: Smartphone- beziehungsweise Tablet-PC-User nutzen zu 81 Prozent eine standortbezogene App, die ihren aktuellen Standort verwendet, zum Beispiel Wetter-Apps und Kartendienste. Mehr als die Hälfte der Befragten nutzt Apps, um Informationen über Preis- und Warenangebote von bestimmten Händlern in der Nähe anzuzeigen. Geradezu revolutionär erscheint die explosionsartige Zunahme der Kundenerwartungen um 240 Prozent dahingehend, ihre Smartphones in Geschäften nutzen zu können. Dementsprechend sind auch die Erwartungen an Location-based Services in Hinblick auf „Informationen zur Verfügbarkeit von Ware im Laden“ auf 84 Prozent angewachsen. Im Hinblick auf das Informations- und Kaufverhalten bestätigen die Befragungsergebnisse 2014 die Zubringerfunktion des Internets für den stationären Handel. Das mobile Internet wird insofern im Handel der Zukunft eine herausragende Rolle spielen.

Worin sehen Sie den wichtigsten Erfolgsfaktor für den Online-Handel?

Wie sich in den letzten Jahren abgezeichnet hat, sind schlagkräftige Systeme, welche die schnellstmögliche Abwicklung der Kundenaufträge sicherstellen, der wohl wichtigste Erfolgsfaktor. Dieser erklärt auch den enormen  Erfolg von Amazon. Wesentliche Herausforderung besteht diesbezüglich in der maximalen Automatisierung  und zugleich kanalspezifischen Sicherstellung der optimalen und effizienten Arbeitsabläufe und Prozesse andererseits. Dieses erfordert ein strategisches Konzept für den IT-Einsatz, das sich unter dem Aspekt der Skalierbarkeit eng an die Wachstumsziele des Online-Shops anlehnt. Insofern kommt auch der Auswahl des richtigen Shopsystems eine Schlüsselrolle zu.

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