„I have examined numerous books with terms like
computer revolution or
information revolution in their titles. Remarkably, none of these books carefully characterizes computer revolutions analytically or behaviorally. They do not explain how we would know one when we saw it. They usually refer to the pervasiveness of computer systems in social life and suggest that when powerful technologies become commonplace, social life must be altered. I do not mean that a case could not be made. But to my knowledge, no one has tried to make a careful case – indicating what kinds of social relations have been transformed, at what level of social activity, under what conditions, and what has
not changed.“ (Kling
1991, S. 346 f., Hervorh. i. Orig.)
Die gesellschaftliche Verhandlung der Digitalisierung ist seit Jahrzehnten geprägt von sich abwechselnden Wellen technologischen Überschwangs und Tälern der Enttäuschung und Düsterkeit, oder: Sommern und Wintern. Auf die frühen Heilsversprechen der Kybernetik (Wiener
1948) folgten Arbeitsplatzvernichtungsängste und Rationalisierungs- und Technokratiekritik (Ellul
1964; von Berg et al.
1972; Steinmüller
1979,
1981), und auf diese dann neue Emanzipationsversprechen (Barlow
1996; Castells
1996,
1997,
1998; Lessig
1999; Benkler
2006), die nicht von einer Schwächung, sondern ganz im Gegenteil von einer Stärkung des individuellen Subjekts ausgingen (Dickel und Schrape
2015). Erst die sich (wieder) intensivierende Diskussion um „Big Data“ und „Algorithmen“ lenkte den Fokus im Laufe des vergangenen Jahrzehnts erneut mehr auf negativ verstandene Aspekte der Digitalisierung (Mau
2017; Seyfert und Roberge
2017; Welzer
2017). Das Digitale und seine Technologien, so die eher düsteren Prognosen dieser Diskursgeneration, führten wahlweise in ein digitales oder generalisiertes Panoptikum (Han
2015; Lindemann
2014), ein digitales Gehäuse der Hörigkeit (Mau
2017), eine smarte Diktatur (Welzer
2017), die digitale Entmündigung (Mühlhoff
2018), die Ausbeutung 4.0 (Greffrath
2021), die kybernetische Proletarisierung (Schaupp
2021), das Lumpenscoretariat (Fourcade
2022), in den Digitalen (Staab
2019) oder in den Überwachungskapitalismus, der unser Menschsein aufs Spiel setzt (Zuboff
2018). Nicht selten nehmen diese Zeitdiagnosen Bezug auf Trends, Hypes und Buzzwords, etwa „Uberisierung“, die oft genauso schnell vergehen wie sie entstanden – eine Eigenschaft, die sie mit den „Buzzword & Society“-Namen von Zeitschriften, aber auch mit denen vieler Forschungsinstitute teilen. Nur wenige sehen der digitalen Zukunft noch explizit optimistisch entgegen (eine Ausnahme: Mason
2016).
Mittlerweile ist unübersehbar, dass digitale Technologien zur allgegenwärtigen Infrastruktur der Gesellschaft selbst geworden sind (Fiedler
1975; Star
1999). Die Kontrollfunktionen von „Algorithmen“ lenken den Blick auf die technischen Verfahren, die Information und Partizipation gleichermaßen kanalisieren und konditionieren (Grimmer
1974; Esposito
2017), damit vielfältige Prozesse und Praktiken unseres Alltagslebens formen und eine kulturformende Wirkmacht erlangt haben (Seyfert und Roberge
2017). „Daten“ sind nicht nur das „neue Öl“ (Houben und Prietl
2018), sie „verdoppeln“ – eigentlich: multiplizieren – die Welt (van Dijck
2014; Kitchin
2014; Süssenguth
2015; Nassehi
2019), sind aber zugleich überschießend (Baecker
2019) und hoch selektiv (Boyd und Crawford
2012), schaffen ganz eigene „Nexistenzen“ (Lindemann
2015), verändern die Qualität von Normen (Barth et al.
2023 in diesem Heft) und generieren „digitale Praktiken“ (Schäfer
2021) mit erheblichen sozialen Folgen, etwa mit Blick auf soziale Ungleichheit (Mau
2023 in diesem Heft). „Interfaces“ lassen bislang klare Grenzen zwischen Mensch und Maschine verschwimmen und erwecken den Eindruck von Symmetrien zwischen beiden (Lipp und Dickel
2022; Dickel
2023 in diesem Heft). Längst ist am Rande der Soziologie der Ruf zu vernehmen, es gelte theoriesystematisch zu einem Denken in (techno-)ökologischen Zusammenhängen zu gelangen (Block und Dickel
2020), um dem Eingebettetsein gegenwärtiger Subjektivitäten in eine umfassend digital-technologisch überformte Umwelt sozialtheoretisch genügen zu können (Hörl
2011,
2016).
Wie auch immer die nahe und ferne digitalisierte Zukunft aussehen mag, es ist kaum daran zu zweifeln, dass sie in eine „nächste Gesellschaft“ (Baecker
2007) führt, die von einer weiteren rapiden Zunahme digital verarbeiteter Daten geprägt sein wird, sondern auch von Maschinen, die diese Daten speichern, sortieren, auswerten und weiterverarbeiten. Bereits der gegenwärtige Einfluss der Digitalisierung auf Vergesellschaftungsformen liegt kaum mehr im Bereich des Marginalen, im Gegenteil wird ihm das Potenzial zu einer epochalen Transformation bescheinigt, die in Ausmaß und Reichweite mit der industriellen Revolution vergleichbar ist (Bunz
2012; Zuboff
2018). Andere wiederum sehen in der Durchsetzungskraft digitaler Prozesse den Beweis dafür, dass die Moderne eigentlich schon immer digital gewesen sei (Nassehi
2019). Dementsprechend sind digitale Prozesse, Akteur-Technik-Interaktionen sowie digitale Technologien in den Fokus verschiedener soziologischer Teilbereiche und Perspektiven gerückt. Während Techniksoziologie, Mediensoziologie und Kultursoziologie insbesondere die durch digitale Technologien generell sich wandelnden und möglich gewordenen neuen Weltzugänge erschließen, versuchen bspw. Arbeits- und Organisationssoziologie, Rechtssoziologie und Bildungssoziologie die Folgen der Implementierung von digitalen Technologien insbesondere für die von ihnen je spezifisch beobachteten gesellschaftlichen Bereiche zu analysieren (Maasen und Passoth
2020).
Die Adressierung und Perspektivierung von Sachverhalten, die dem Bereich der Digitalisierung zugeschrieben werden, geschieht auf derart vielfältige Weise, dass sich bisweilen eine gravierende Unschärfe zeigt. Neben den allgegenwärtigen digitalen „Daten“, „Informationen“ und „Algorithmen“ stehen das digitale Wissen, digitale Infrastrukturen, digitale Netzwerke, digitale Kommunikationen, die Materialität des Digitalen und natürlich das Phänomen der Digitalisierung als transformativer Prozess selbst im Fokus des deskriptiven und analytischen Interesses. Zwar scheint intuitiv einsichtig, dass diese verschiedenen Adressierungen im Grunde das gleiche Phänomen benennen sollen, nur ist diese Absicht bei Verwendung des gleichen Terminus technicus eo ipso noch nicht erfüllt. Die theoretische Multiparadigmatizität der Soziologie ist dabei zwar einerseits ein Gewinn, insofern sie garantiert, soziale Phänomene facettenreich in den Blick zu nehmen, etwa wenn es darum geht, wer oder was agency besitzt bzw. ein Akteur ist, ob die Bezüge zwischen den Akteuren interaktiv, netzwerkartig oder durch strukturelle Kopplungen vollzogen werden und derlei Fragen mehr. Andererseits kann der Theorienpluralismus gerade dann, wenn das gleiche Phänomen beschrieben werden soll, zur Desorientierung führen. Dabei ist die Frage, ob die vielfältigen genannten Termini denn überhaupt tatsächlich ein und dasselbe Phänomen adressieren und damit einen gemeinsamen Gegenstand generieren, von systematischer Relevanz. Wie weit muss der Digitalisierungsbegriff beschränkt, eingegrenzt oder deutlich im Sinne eines „conceptual framework“ konturiert sein, damit alle über das gleiche Phänomen sprechen – und nicht nur den gleichen Terminus verwenden? Im letzteren Fall kann es sonst durchaus passieren, dass es zwar eine terminologische Koinzidenz gibt, aber eigentlich keinen gemeinsamen Beobachtungsgegenstand.
Hinter der terminologischen Unschärfe verbirgt sich aber auch noch ein zweites Problem, und zwar das des Verhältnisses des soziologischen Zugangs zu den Begriffen und Konzepten des Feldes. Wenn nicht nur terminologisch an das Feld der Digitaltechnik und die Disziplin der Informatik angeknüpft werden soll, sondern auch konzeptionell, dann stellt sich die Frage, ob sich die Soziologie nicht auch ins Handgemenge der informatisch-technischen Theorie begeben muss. Feldbegriffe wie „Daten“, „Informationen“ oder „Algorithmen“, die in die Soziologie transplantiert werden, haben in der Informatik je eigene, oft auch umstrittene Geschichten (siehe etwa Kline [
2015] zur Geschichte und Entkernung der Bedeutungsgehalte von „Information“ und „Kybernetik“), und es ist keineswegs garantiert, was ihr soziologischer Gebrauch jeweils zur Folge hat. Die Begriffe „Daten“ und „Algorithmen“ sowie „Datafizierung“ und „Algorithmisierung“ haben je ihre eigenen, oft getrennten Gefolgschaften um sich herum geschart, informatisch hingegen werden sie gleicherweise erzeugt – durch „Modellifizierung“ (Pohle
2016) – und sind je füreinander (theoretisch vollständig und praktisch weitgehend) substituierbar. Und dass Computer auf 0 und 1 operieren, ist aus informatischer Sicht weniger charakteristisch, als dass sie frei programmierbar sind. Vergleichbares gilt auch für andere als die technischen Wissenschaften. Wenn Digitalisierung hingegen gegen das Feld soziologisiert wird, also Konzepte und möglicherweise sogar Termini nicht aus dem Feld übernommen, sondern ihm übergestülpt werden, stellt sich die Frage, ob der Eigensinn der Informatiksysteme nicht schlicht im Metaphernsteinbruch geopfert wird. Und wie wird eigentlich dezidiert soziologisch verhandelt, in welchen Fällen welche der Strategien gewählt wird – und aus welchen Gründen?
Eine solche konzeptionelle und terminologische Arbeit lässt das Phänomen der Digitalisierung auch zu einem Gegenstand soziologischer Theorie werden, insofern es zu ihren Aufgaben gehört, grundlagentheoretische Systematisierungen vorzunehmen und im Rahmen von Sozialtheorien und/oder Gesellschaftstheorien zu erschließen und zu entfalten. Der 2019 gegründete Arbeitskreis „Digitalisierung als Herausforderung für die Soziologische Theorie“ in der Sektion „Soziologische Theorie“ der DGS, aus dem das vorliegende Schwerpunktheft hervorgegangen ist, hat sich zum Ziel gesetzt, einen Diskurs darüber anzustoßen, auf welche Weise bestehende theoretische Ansätze das, was als digitale Phänomene angesprochen wird, erfassen und als einen Gegenstand von Ordnung und Wandel thematisieren können. Unterschiedliche Paradigmen und Theorien innerhalb der Soziologie sind an je unterschiedlichen Stellen und vielleicht auch in unterschiedlichem Maße mit diesen Herausforderungen konfrontiert. Je nachdem, um welchen paradigmatischen „turn“ es sich bei der Beobachtung von digitalen Phänomenen handelt, rückt nämlich etwas je Spezifisches an die Stelle der theoretischen Fundierung und schließt damit je anderes aus. Dabei ist davon auszugehen, dass die je spezifischen Imaginationen von Akteuren, Zeit/Raum, Körper und Praxis sowie Materialitäten (Henkel
2023 in diesem Heft) die Perspektive auf Phänomene verändern, die als digitale identifiziert worden sind.
Die dringend zu beantwortende Frage dabei ist, ob man überhaupt noch von dem gleichen Phänomen spricht, wenn die jeweiligen theoretischen Situierungen grundverschieden sind. Die entstehenden „blinden Flecke“, die Ansätze wie der methodologische Individualismus, Holismus und Relationalismus jeweils mit sich bringen, wenn sie der transformativen Spur digitaler Prozesse folgen, müssen entsprechend sichtbar gemacht werden, um sie einer gemeinsamen Reflexion zugänglich zu machen. Doch auch weitere bestehende soziologische Konzepte können, ja müssen herausgefordert, ihre Prämissen, vermeintliche Selbstverständlichkeiten hinterfragt und gegebenenfalls verändert werden. Welche Raumvorstellung steckt etwa in Begriffen wie Anwesenheit, Kommunikation, Ko-Präsenz oder Interaktion? Wie tragfähig ist sie jeweils? Sind die Begriffe noch sinnvoll, um digitale Ko-Präsenz, Interaktion und Kommunikation zu analysieren? Müssen die Begriffe verändert werden, wenn die zugrunde liegenden Raumvorstellungen geändert oder gewechselt werden müssen, und wenn ja, was folgt daraus für die Beschreibung und Analyse von Sozialität in digitalen Zusammenhängen? Bedarf es neuer Begrifflichkeiten, um diese angemessen beschreiben und analysieren zu können? Auch die Frage der Entwicklungs- und Beeinflussungslinien stellt sich: Muss Digitalisierung vorgängig als technologischer Transformationsprozess verstanden werden, der erst nachgängig Subjektivierungsformen, Sozialität, Gesellschaft produziert (Baecker
2018)? Oder basiert sie im Gegenteil auf ideellen, kulturellen und gesellschaftlichen Mustern, die sich mit ihr reproduzieren (Nassehi
2019)? Müssen digitaltechnische und gesellschaftliche Entwicklung nicht vielmehr als verschränkte Ko-Produktion verstanden werden? Und was heißt das für die soziologischen Begriffe, was dürfen sie voraussetzen, worauf dürfen sie aufbauen, und in welchem Verhältnis stehen sie zueinander: Über- oder Unterordnung, Eigenständigkeit oder Synonymie? Und was gewinnen oder verlieren wir, wenn wir einem der Ansätze, aber nicht den anderen folgen? Nicht zuletzt muss danach gefragt werden, welchen zeit- und transformationstheoretischen Stellenwert die Digitalisierung hat, einerseits aus sich selbst heraus, andererseits im Verhältnis zu anderen technischen und/oder gesellschaftlichen Prozessen, Entwicklungen und Wandlungen: Ist sie Kontinuität oder Bruch, Steigerung oder Rückgang, Beschleuniger oder Bremser? Und wie lässt sich Digitalisierung soziologisieren, ohne bereits normativ entschieden zu haben, ob digitale Prozesse eine „gute“ oder „schlechte“ Gesellschaftsentwicklung evozieren. Diese reflexive Perspektivierung von Digitalisierung als gemeinsamer Gegenstand innerhalb der Paradigmenvielfalt ist noch immer ein Desiderat der soziologischen Theorie.
Das vorliegende Heft des Berliner Journals für Soziologie, das aus der Gründungstagung des DGS-Arbeitskreises hervorgegangen ist, soll einen Beitrag zu der Auseinandersetzung damit leisten, inwiefern der Gegenstandsbereich der Digitalisierung durch soziologische Theorie erschlossen werden kann. Die versammelten Beiträge befragen in Auseinandersetzung mit je spezifischen sozio-technischen Phänomenen die Transformationspotenziale bzw. -grenzen digitaler Technologien und machen dabei zugleich – mal explizit, mal eher implizit – sichtbar, was eine bestimmte soziologische Theorie überhaupt leisten kann in der Erschließung des jeweiligen Phänomens. Je nach paradigmatischer Perspektive geraten dabei entweder die Potenziale oder die Grenzen stärker in den Blick. Der grundlagentheoretische Anspruch, den die Beiträge verfolgen, wird dabei in der alle Beiträge verbindenden Bearbeitung der Differenz zwischen Analogem und Digitalem sichtbar, u.a mit besonderem Fokus auf der Verschiebung von Normierungsprozessen. Die hier versammelten Beiträge zeigen, dass das von Rob Kling (
1991, siehe Eingangszitat) vor mehr als dreißig Jahren identifizierte Desiderat noch immer der Bearbeitung harrt und die sachliche Erschließung der Wirkweisen avancierter digitaler Technologien in Vergesellschaftungsprozessen eher am Anfang denn am Ende steht.
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