79 % der Kinder in Deutschland, die mindestens einen Elternteil mit Hochschulabschluss haben, nehmen ein Studium auf – unter den Kindern aus Familien ohne Hochschulerfahrung sind es nur 27 % (Kracke/Buck/Middendorff 2018: 4). Gleichzeitig beginnt nur jede zehnte Frau, die sich an einer deutschen Hochschule immatrikuliert, ein ingenieurwissenschaftliches Studium. Umgekehrt entscheidet sich jeder zehnte Student für ein pädagogisches oder sozialwissenschaftliches Studienfach (Middendorff et al. 2017: 14). Kurzum: Wer überhaupt studiert und welches Studienfach dafür in Frage kommt wird sowohl von der sozialen Herkunft wie auch dem sozialen Geschlecht maßgeblich bestimmt. Die „ökonomische und soziale Welt“ mag vor dem Hintergrund von Bildungs- und Berufswegen grundsätzlich jedem Subjekt offenstehen, die damit verbundenen sozialen Positionen allerdings nicht in gleichem Maße.
Das einleitende Zitat von Pierre Bourdieu weist in mehrerer Hinsicht auf die zentralen Anliegen dieser Arbeit hin: Ziel ist zum einen, das „Universum von Möglichkeiten“ und seine einschränkenden Mechanismen der kulturellen Passung im Bereich der Studien(fach)-
1 und Berufswahl offenzulegen – also die sozialen Logiken zu entschlüsseln, die am Übergang in die Hochschule zur Reproduktion sozialer Ungleichheit beitragen. Zum anderen möchte diese Arbeit einen Beitrag dazu leisten, einen geschlechtssensiblen Blick in der Bildungsforschung im Anschluss an Bourdieu anzuwenden. Dieser Blick fehle im Bourdieuschen Ansatz, folgt man einem dominanten Rezeptionsmuster seiner Arbeit. So schlagen sich auch im obigen Zitat Androzentrik und Heteronormativität augenscheinlich nieder – schließlich wird das dortige
Subjekt als per se männliches gesetzt und
Frauen als davon abhängige konsumgutartige Objekte. Allerdings haben Teile der Geschlechterforschung das geschlechtssensible Potential Bourdieus erkannt und nutzen seinen Zugang zur theoretischen wie empirischen Betrachtung von Ungleichheiten.
Dass das Geschlecht als zentrale Dimension sozialer Ungleichheit immer mitgedacht und empirisch berücksichtigt werden muss, wird allgemein in der Bildungsforschung mittlerweile vorausgesetzt. Nichtsdestotrotz gehen viele Studien nur so weit, Geschlecht als binäres Verteilungsverhältnis zu betrachten, ohne die Prozesse seiner Herstellung in den Blick zu nehmen. Umgekehrt vermag die Geschlechterforschung zwar, Ausschluss- und Abdrängungsmechanismen in Studien(fach)wahlprozessen qua Geschlecht pointiert herauszuarbeiten, vernachlässigt aber die Bedeutung der sozialen Herkunft. Die theoretischen und empirischen Perspektiven von Geschlechter- und Bildungsforschung miteinander zu verweben und auf dieser Grundlage das Zusammenspiel von sozialer Herkunft und Geschlecht in Studien(fach)wahlen zu analysieren, sind die Ziele dieser Arbeit.
Studien(fach)wahlen in der Geschlechterforschung
Studien(fach)wahlen liegen im besonderen Interesse der Geschlechterforschung, da sie als Schritt in ein spezifisches Berufsfeld sowohl zur Geschlechtersegregation in den Studiengängen als auch perspektivisch in den entsprechenden Berufsfeldern führen. In geschlechtersoziologischen Betrachtungen steht deshalb weniger die Frage danach im Vordergrund, ob Frauen und Männer überhaupt ein Studium aufnehmen – denn dieses Verhältnis ist in etwa ausgeglichen – sondern vielmehr die ungleiche Verteilung der Geschlechter auf die verschiedenen Fächer. In diesem Sinne ist die Studien(fach)wahl ein zentraler Mechanismus in der fachlichen Segmentierung des Arbeitsmarktes: Bestimmte Berufe werden überwiegend von Frauen, andere überwiegend von Männern ausgeübt. Damit trägt die Studien(fach)wahl auch zur geschlechtlichen Arbeitsteilung bei, die neben der fachlichen Segmentierung des Arbeitsmarktes zweitens die vertikale Segregation von Berufen – also die ungleiche Verteilung von Frauen und Männer auf die verschiedenen beruflichen Hierarchiestufen – und drittens die überwiegende Ausübung unbezahlter Reproduktionsarbeit durch Frauen umfasst.
2 In der Konsequenz sind Frauen häufiger in schlechter vergüteten Dienstleistungsberufen und in den Feldern Erziehung und Pflege vertreten, sie führen mehr Familienarbeit aus – etwa in Form von Erziehung und Pflege von Angehörigen – und sie nehmen (auch in weiblich dominierten Feldern
3) die rangniedrigeren und sozial wie finanziell weniger anerkannten Positionen ein. Analysen der berufsbezogenen Geschlechterforschung zielen darauf ab, die Bedeutung der Geschlechtszugehörigkeit für die Strukturierung und/oder die Symbolisierung von Berufsarbeit herauszuarbeiten (Teubner 2008: 491).
Dabei interessieren aktuelle Ansätze der Geschlechterforschung vor allem die Ursachen für den geringen Frauenanteil in den Fächern Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik – dem sogenannten MINT-Bereich – und die daran anschließenden Möglichkeiten, diesen Anteil zu erhöhen. Weshalb Männer seltener ein soziales Studium beginnen, liegt zwar auch im Erkenntnisinteresse der Geschlechterforschung, wird allerdings seltener verfolgt als die Frage nach dem Fehlen von Frauen in Ingenieurfächern. Denn der Ruf nach Frauen in MINT ist ein qualitativ anderer als der nach Männern in sozialen Berufen: Bei dem einen steht die Frage nach Chancengleichheit und der Zugang zu den status- und zukunftsträchtigen technisch-naturwissenschaftlichen Berufsfeldern im Vordergrund, während bei dem anderen die Intention eine pädagogische ist mit dem Ziel einer vermeintlich „binären Vollständigkeit“ (May/Rose 2014; auch Rose 2014). Die Erhöhung des Frauenanteils in Naturwissenschaft und Technik ist also mit der Hoffnung auf eine Umwälzung geschlechtsbezogener Machtverhältnisse verbunden, die Erhöhung des Männeranteils in sozial(pädagogisch)en Berufen nicht.
Dass Frauen seltener ein technisches Studium beginnen, wird insbesondere auf die Wirkung von Stereotypen (Makarova/Aeschlimann/Herzog 2016; Schmirl et al. 2012), fachkulturelle Elemente der Sozialisation und das Fehlen von Vorbildern (Wensierski/Langfeld/Puchert 2015; Schüller/Braukmann/Göttert 2016), die geschlechtsspezifische Entwicklung eines fachlichen Selbstkonzeptes (Schiepe-Tiska/Simm/Schmidtner 2016) und die vergeschlechtlichte Konstruktion von ‚Technik‘
4 an sich zurückgeführt (Paulitz 2012; Paulitz 2015; Schmeck 2019). Wie die Wege von Frauen in soziale Studiengänge und Berufe entstehen und welche Faktoren die entsprechenden Orientierungsprozesse bei Männern – auch im Ingenieurbereich – beeinflussen, wird dagegen nicht bzw. nur vereinzelt betrachtet (Ganß 2011; Puchert 2017). Und auch die Rolle der sozialen Herkunft im Prozess der Studien(fach)wahl ist in der aktuellen Geschlechterforschung weniger
en vogue. Das liegt vor allem an der dominanten poststrukturalistischen und diskurstheoretischen Ausrichtung zeitgenössischer geschlechtertheoretischer Forschungen, die die diskursiven Verknüpfungen von Beruf und Geschlecht erkenntnisreich herausarbeiten, hinter denen aber das Interesse an strukturellen Mechanismen sozialer Ungleichheiten zurücktritt
5. Ein Ansatz der Geschlechterforschung, der dagegen Beruf und Berufswahlen strukturell rahmt und gleichzeitig die sozialen Konstruktionsprozesse von Geschlecht betrachtet, stammt von Angelika Wetterer und hat besonderes Potential für die Analyse entsprechender Ungleichheitsmechanismen (Wetterer 1995; Wetterer 2002): Wetterer erklärt die vergeschlechtlichte Arbeitsteilung zu
dem zentralen Moment der Herstellung von Geschlecht und zeichnet die soziale Konstruktion von Beruf und Geschlecht als gleichzeitige und miteinander verwobene Prozesse nach. Dabei erklärt sie die Vergeschlechtlichung und Hierarchisierung von Berufen zum Strukturmoment und begründet damit ihren Ansatz des
doing gender while doing work6. Welche Bedeutung der sozialen Klasse in diesem Prozess zukommt, spielt bei Wetterers professionssoziologischem Ansatz jedoch keine Rolle – der zudem bislang nicht bzw. nur ungenügend auf Berufswahlen angewandt wurde. Was in der Geschlechterforschung daher fehlt, ist eine Perspektive auf Berufs- und Studien(fach)wahlen, die – wie jene von Wetterer – Handeln und Struktur miteinander verbindet, die nicht nur ‚geschlechtsatypische‘ Berufswahlen betrachtet und die zudem die Bedeutung von Klasse bzw. der sozialen Herkunft systematisch berücksichtigt.
Open Access Dieses Kapitel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz (
http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de) veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
Die in diesem Kapitel enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbildungslegende nichts anderes ergibt. Sofern das betreffende Material nicht unter der genannten Creative Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschriften erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen.