4.1 Gestaltungsrahmen der Interaktion zwischen automatisierten Fahrzeugen und anderen Straßenverkehrsteilnehmenden
Der Straßenverkehr ist ein sozialer Raum, in dem Menschen fortlaufend miteinander interagieren. Die geplante Einführung von automatisierten Fahrzeugen in den urbanen Straßenverkehr ist diesbezüglich mit Chancen und Risiken verbunden, die es zu erforschen gilt. Die Chancen liegen in einer erhöhten Sicherheit für andere Straßenverkehrsteilnehmende, die in einer defensiven und gesetzeskonformen Fahrweise von automatisierten Fahrzeugen begründet ist (Millard-Ball
2018), sowie einer erhöhten Effizienz des Straßenverkehrsflusses (Fagnant und Kockelman
2015). Ein Risiko besteht in möglichen Verhaltensanpassungen von Straßenverkehrsteilnehmenden, wie beispielsweise das vermehrte, unachtsame Betreten einer Straße durch Fußgänger/-innen aufgrund eines Übervertrauens in die Sensorik und Aktorik von automatisierten Fahrzeugen (Millard-Ball
2018). Um die Sicherheit bei der Teilnahme automatisierter Fahrzeuge am Straßenverkehr zu maximieren und die Risiken zu minimieren werden natürliche Interaktionen, die sich nahtlos in den heuten Straßenverkehr einfügen, zwischen automatisierten Fahrzeugen und anderen Straßenverkehrsteilnehmenden angestrebt. Dazu werden viele heterogene Kommunikationskonzepte entwickelt und erforscht (für einen Überblick s. Schieben et al.
2019; Bazilinskyy et al.
2019).
Zur Analyse der Kommunikation zwischen automatisierten Fahrzeugen und anderen Straßenverkehrsteilnehmenden wurden in diesem Beitrag, angelehnt an die Kommunikationstheorie nach Clark (
2006), Gestaltungsdimensionen abgeleitet. Die Einbettung dieser Gestaltungsdimensionen in einem Framework nach dem MTO-Ansatz zeigt die zugrundeliegenden multiplen Dimensionen auf und legt die damit einhergehende Komplexität der Problemstellung offen. Das Framework soll bei der Gestaltung der Kommunikation von automatisierten Fahrzeugen unterstützen und so auch zukünftig die notwendige Kooperation zwischen Straßenverkehrsteilnehmenden durch Kommunikation sicherstellen.
Aus der Betrachtung einzelner Gestaltungsdimensionen können einzelne Fragestellungen abgeleitet werden. Charakteristisch für den urbanen Verkehrsraum ist die Vielzahl und Heterogenität von Straßenverkehrsteilnehmenden (Gestaltungsdimension: „
Wer“). Die Kommunikationsstrategie eines automatisierten Fahrzeugs muss sicherstellen, dass sie gerichtet kommuniziert, um Missverständnissen vorzubeugen. Unterschiedliche Straßenverkehrsteilnehmende stellen spezifische Anforderungen an die Kommunikation mit automatisierten Fahrzeugen. Beim Anbringen von Displays auf der Karosserie eines automatisierten Fahrzeugs müssen beispielsweise die Sichthöhen unterschiedlicher Straßenverkehrsteilnehmender berücksichtigt werden (vgl. Colley et al.
2019).
Straßenverkehrsteilnehmende nehmen im Straßenverkehr unterschiedliche Rollen ein (z. B. den Vorrang betreffend; Gestaltungsdimension: „
Warum“). Die Interpretation dieser Rollen erlaubt ihnen eine effiziente Kommunikation. Offen bleibt die Forschungsfrage, ob automatisierten Fahrzeugen im Straßenverkehr eine besondere Rolle zugeschrieben wird. Erste Erkenntnisse liefert hier die Akzeptanzforschung von automatisierten Fahrzeugen (vgl. Penmetsa et al.
2019).
Von herausragender Bedeutung für das Zustandekommen von Kommunikation im Straßenverkehr und die Interpretation der spezifischen Rollen von Straßenverkehrsteilnehmenden ist die Situation der Kommunikation (Gestaltungsdimension: „
In welcher Situation“). Die Organisation im Straßenverkehr nimmt hierbei Einfluss auf die Art und Weise der Kommunikation (Gestaltungsdimension: „
Wie“). Vieles deutet darauf hin, dass in Situationen, die formellen Regeln unterliegen, eine implizite Kommunikation, z. B. durch Abbremsen des Fahrzeugs, ausreicht, während in informell geregelten Situationen, z. B. bei einem Deadlock, stärker explizit kommuniziert werden muss (vgl. Ackermann et al.
2019).
4.2 Interaktionsverhalten von Fußgänger/-innen mit automatisierten Fahrzeugen und Rückschlüsse auf die Gestaltung der Kommunikationsstrategie
Zur Entwicklung holistischer Kommunikationsstrategien zwischen automatisierten Fahrzeugen und anderen Straßenverkehrsteilnehmenden müssen alle Dimensionen der Kommunikationsstrategie zwischen Straßenverkehrsteilnehmenden adressiert werden. In diesem Beitrag wird die Dimension „Wie“ („Auf welche Art und Weise werden die Informationen übertragen?“) anhand zweier empirischer Studien untersucht.
Die Befragung von Fußgänger/-innen zum Entscheidungsverhalten bei der Straßenüberquerung vor dem automatisierten Bus zeigt einen starken Einfluss der Situation (Zebrastreifen vs. nicht-signalisierter Übergang). Mit der Abnahme formeller Regeln im Straßenverkehr dominiert die Strategie des „Stehen bleiben, warten“ auf Seiten der Fußgänger/-innen. Dies spiegelt die Ergebnisse von Merat et al. (
2018) wider, die zeigen, dass Fußgänger/-innen bei der Interaktion mit automatisierten Bussen mehr Informationen benötigen, wenn Straßenmarkierungen fehlen. Als weitere wichtige Einflussvariable des Entscheidungsverhaltens von Fußgänger/-innen konnte das Vertrauen in die Automation identifiziert werden (vgl. Wintersberger et al.
2019). Teilnehmende der Befragung mit der Strategie „Gehen, nicht warten“ berichten, dass sie dem automatisierten Bus vertrauen würden. Beim Aufbau dieses Vertrauens spielen vergangene Interaktionen mit dem automatisierten Bus eine entscheidende Rolle (vgl. Penmetsa et al.
2019). Des Weiteren deuten die Teilnehmenden der Befragung an, dass implizite Kommunikation (Geschwindigkeit des Fahrzeugs, Abstand zum Fahrzeug) für ihre Entscheidungsbildung wichtig ist (vgl. Beggiato et al.
2017).
Die verdeckte Beobachtung von Fußgänger/-innen im Testfeld eines automatisierten Busses in Frankfurt am Main ergänzen die Ergebnisse der Befragung. Die beobachteten Verhaltensweisen konnten der Klassifikation nach Madigan et al. (
2019) zugeordnet werden. Im Gegensatz zu den Ergebnissen von Madigan et al. (
2019) wurde das Stoppen vor dem automatisierten Bus, um diesen vorbeizulassen, häufiger beobachtet. Dies lässt darauf schließen, dass die beobachteten Personen risiko-avers mit dem automatisierten Bus interagieren. Trotzdem lässt der hohe prozentuale Anteil an Straßenüberquerung darauf schließen, dass Fußgänger/-innen dem automatisierten Bus nicht übermäßig misstrauen. Dies deckt sich mit den Ergebnissen der Befragung von Fußgänger/-innen in Bad Birnbach.
Auch konnte ein „Testen“ des automatisierten Busses durch Fußgänger beobachtet werden. Dieses Testen deutet auf Verhaltensanpassungen von Fußgänger/-innen hin (vgl. Abschn. 4.1) und begründet neue Anwendungsfälle der Kommunikation zwischen Straßenverkehrsteilnehmenden. Verhaltensanpassungen, ausgelöst durch ein Übervertrauen in die defensive Reaktion von automatisierten Fahrzeugen, könnten dem Ziel einer gesteigerten Sicherheit von Fußgänger/-innen und Effizienz im Straßenverkehr entgegenstehen.
Der Vergleich beider Studien zeigt, dass das beobachtbare Verhalten von Fußgänger/-innen tendenziell von dem subjektiv erfragten Verhalten abweicht. Während eine risiko-averse Strategie („Stehen bleiben, warten“) von mindestens einem Drittel der befragten Fußgänger/-innen gewählt wird, zeigt die Beobachtung von Fußgänger/-innen im Feld, dass eine Vielzahl von Verhaltensweisen beobachtet werden können, die insgesamt keine Rückschlüsse auf eine Dominanz von risiko-aversem Verhalten zulassen. Aufgrund vorliegender Unterschiede der empirischen Studie, bspw. hinsichtlich Studienkollektiv und Ort der Durchführung, stellt dieses Ergebnis einen vorläufigen Befund dar, der weiterer Erforschung bedarf.
Weitere Limitationen der empirischen Studien sind im Folgenden beschreiben: Mittels der Befragung im Testfeld Bad Birnbach konnten Menschen erreicht werden, die in der Vergangenheit mit dem automatisierten Bus interagierten. Die Altersverteilung der Teilnehmenden an der Befragung ist rechtssteil. Jüngere Altersgruppen (<20 Jahre) sind nicht vertreten. Im Zuge eines „Design-for-All“ Ansatzes müssen in folgenden Untersuchungen weitere Gruppen, wie bspw. Kinder (vgl. Charisi et al.
2017) und Menschen mit Leistungseinschränkungen (vgl. Colley et al.
2019), berücksichtigt werden. Die Ergebnisse der empirischen Studien erlauben grundsätzliche Rückschlüsse auf das zu erwartende Verhalten von Fußgänger/-innen bei der Interaktion mit automatisierten Fahrzeugen. Aufgrund der begrenzten Studienkollektive und der zugrundeliegenden Datenbasis handelt es sich dabei um Trends, die durch thesenunterstützte Forschungen weitergehend ergründet werden müssen. Auf eine tiefergehende Analyse der beobachtbaren Verhaltensweisen mittels Videoaufnahmen wurde aus rechtlichen Gründen des Datenschutzes verzichtet. Der Einsatz von Videoaufnahmen sollte für zukünftige Untersuchungen geprüft werden.
Aus beiden Studien können Rückschlüsse auf die Gestaltung der Kommunikationsstrategie zwischen Fußgänger/-innen und automatisierten Bussen gewonnen werden: Die Befragung von Fußgänger/-innen zeigt in Bezug auf die Gestaltungsdimension „
Wie“, dass verschiedene Arten von Signalen (Schrift, Ton, Symbole, …) zur Unterstützung des Entscheidungsverhaltens von Fußgänger/-innen bei der Querung vor dem Bus beitragen könnten (vgl. hierzu auch Löcken et al.
2019b; Verma et al.
2019). Für den Entwurf und die Entwicklung holistischer Kommunikationsstrategien im Straßenverkehr sollten deshalb zur Ergänzung impliziter Kommunikation auch explizite Kommunikationssignale berücksichtigt werden. Hinsichtlich der Unterscheidung von defensiven und offensiven Signalen wird deutlich, dass die Probanden akustische Signale am häufigsten mit einem offensiven Signal in Verbindung bringen. Eine multimodale Gestaltung von expliziten Kommunikationssignalen ist vielversprechend.
Hinsichtlich der Gestaltung von Kommunikationsstrategien zwischen Fußgänger/-innen und automatisierten Bussen zeigt sich, dass bei 29 % aller Straßenüberquerungen vor dem automatisierten Bus kein Blick in Richtung des Busses von Fußgänger/-innen beobachtet wurde. Fußgänger/-innen suchen nicht in jedem Fall der Straßenüberquerung den Blickkontakt mit Fahrzeuginsassen (vgl. Dey und Terken
2017). Eine Gestaltung der Kommunikationssignale von automatisierten Bussen rein über den visuellen Sinneskanal unterstützt nicht das natürliche Interaktionsverhalten aller Fußgänger/-innen.
Ein zentrales Ergebnis der Beobachtungsstudie ist die Situationsabhängigkeit der beobachteten Verhaltensweisen von Fußgänger/-innen. Hierbei bestätigt sich die Annahme des postulierten Frameworks, dass sich das Verhalten und daraus abgeleitet auch der Kommunikationsbedarf von Straßenverkehrsteilnehmenden in Abhängigkeit von der Situation unterscheidet. Für die Gestaltung der Kommunikation bedeutet dies, dass sich Kommunikationskonzepte in unterschiedlichen Situation bewähren müssen. Bei der Gestaltung der Kommunikation zwischen automatisierten Fahrzeugen und anderen Straßenverkehrsteilnehmenden sollten auch Anwendungsfälle von „testenden“ Fußgänger/-innen berücksichtigt werden. Weitere Forschung ist nötig, um den Effekt von technischen Kommunikationssignalen von automatisierten Fahrzeugen auf mögliche Verhaltensanpassungen zu untersuchen.