Deutschland wird die Industrie davon laufen - und zwar ins Ausland. Dieses düstere Szenario skizzieren Wirtschaftsexperten und Medien. Deindustrialisierung ist das Wort für diesen Prozess, der die ökonomische Zukunft bestimmen soll. Doch stimmt das überhaupt?
Deindustrialisierung, "gemeint ist damit nichts anderes als eine neue Abwanderungswelle der deutschen Industrieproduktion ins Ausland, motiviert durch die stark gestiegenen Energiepreise infolge des russischen Kriegs in der Ukraine", definieren Oliver Falck und Christian Pfaffl den Begriff in einem Artikel, der Ende 2022 in der Zeitschrift "Wirtschaftsdienst" erschienen ist. Und sie werfen gleich im Titel die Frage auf, ob es sich dabei um eine berechtigte Sorge oder um German Angst handele.
2024 - das Jahr der Deindustrialisierung?
Die Bonner Wirtschafts-Akademie (BWA) hat indes 2024 zum Jahr der Deindustrialisierung ausgerufen. Die Verunsicherung in weiten Teilen der Wirtschaft sei seit dem letzten Jahr derart hoch, dass Produktionsverlagerungen ins Ausland längst in großem Stil vorbereitet und teilweise schon durchgeführt werden, weiß BWA-Geschäftsführer Harald Müller aus Gesprächen mit vielen Vorständen, Geschäftsführern und Betriebsräten aus dem Mittelstand oder der Konzernwelt zu berichten. "Es geht nicht mehr um die Frage ob, sondern nur noch um die Frage wie und wie schnell", stellt Müller fest.
Konkrete aktuelle Beispiele gibt es einige. So spart das Traditionsunternehmen Miele zahlreiche Stellen in Gütersloh ein und baut gleichzeitig sein Werk in Polen weiter aus. Auch der Autohersteller Porsche wird seine neue Produktionsstätte wohl doch nicht in Deutschland errichten. Insbesondere Osteuropa scheint ein begehrter Standort für die außerdeutsche Expansion zu sein. Eine Recherche der "Wirtschaftswoche" ergibt, dass neben Miele weitere große deutsche Player wie Continental, Viessmann, Bosch, Stihl und ZF Friedrichshafen ihre Fertigungen ganz oder teilweise nach Osteuropa verlagern wollen.
Energiekosten vertreiben Schlüsselindustrien
Als Hauptursache für die Neuorientierung bei den Standorten identifiziert Müller "falsche Weichenstellungen in der Energiepolitik". Daher ist die Abwanderungswelle für ihn nur "die ultima ratio einer Entwicklung, die schon lange absehbar war." Ganze Wirtschaftszweige planen Müllers Einschätzung nach den Exodus ins gelobte, weil kostengünstigere Ausland.
Dazu zählt er die chemische und die metallverarbeitende Industrie, aber auch die Automobilproduktion und ihre Zulieferer. "Die politische Einbahnstraße in Richtung E-Mobilität hat ausländischen Autoherstellern vor allem aus China und den USA den Weg nach Deutschland geebnet und zugleich zu schweren Verwerfungen bei den heimischen Herstellern geführt." Die Reifenindustrie hierzulande befinde sich bereits in der Abwicklung.
Status Quo industrieller Schrumpfung in Deutschland
Doch verbale Ankündigungen und Stimmungsbilder sind das eine, konkrete Zahlen das andere. Die liefert unter anderem eine aktuelle Studie von KPMG unter 350 Chief Finance Officer (CFOs) der größten deutschen Tochtergesellschaften internationaler Konzerne aus Investorenländern. Demnach verschlechtern sich Deutschlands Standortfaktoren zunehmend.
Die Studie "Business Destination Germany 2024" zeigt im Vergleich zu den Erhebungen von 2017, 2019 und 2021, wie die drittgrößte Volkswirtschaft im europäischen Vergleich ins Mittelfeld abgerutscht ist. So weist der KPMG-Standort-Index, der 23 Faktoren misst, nur noch einen Wert von Plus 1,2 auf einer Skala von maximal zehn Punkten auf. Dies entspreche einer Halbierung im Vergleich zu 2021, als der Wert noch bei Plus 2,4 lag (2017: Plus 3,1).
Auch eine Umfrage der Beratungsgesellschaft Deloitte und des Industrieverbands BDI, die im November 2023 veröffentlicht wurde, zeigte bereits einen negativen Trend. Laut des "Supply Chain Pusle Check 2023" sehen 59 Prozent der Unternehmen Energiesicherheit und -kosten als wichtigsten Grund für die Verlagerung ihrer Produktion ins Ausland. Jede dritte Firma plane oder erwäge dies zumindest für Teile der Wertschöpfung. Rund 100 Unternehmen standen Deloitte und dem BDI Rede und Antwort, ein Großteil mit einem Umsatz von mehr als 50 Millionen Euro.
Laut einer weiteren Umfrage, dem "Lagebild im industriellen Mittelstand 2023", für die vom BDI knapp 400 KMU befragt wurden, sind 16 Prozent bereits aktiv dabei und 15 Prozent haben die Produktion in Deutschland gedrosselt oder unterbrochen. Der Abwanderungstrend ist demnach im Maschinenbau und Automobilsektor besonders ausgeprägt.
Ein ähnliches Bild zeichnete eine Umfrage der Deutschen Industrie- und Handelskammer, ebenfalls aus dem Jahr 2023. 43 Prozent der größeren Industrieunternehmen planten demnach eine Verlagerung oder waren bereits dabei, neue Standorte im Ausland zu erschließen.
Direktinvestitionen Indikator für industrielle Abwanderung
Auch eine Analyse auf Basis von Direktinvestitionen, die im Juni 2023 als Kurzbericht des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) erschienen ist, deutetet stark gestiegenen Abflüsse an Investitionskapital aus Deutschland als ein Warnsignal, "dass der Standort an Attraktivität verliert", so Autor Christian Rusche. Ausländisches Kaptal kam laut OECD-Zahlen fast gar nicht mehr ins Land: Während 2022 die Abflüsse bei beinahe 135,5 Milliarden Euro lagen, wurden nur noch rund 10,5 Milliarden Euro in Deutschland investiert. Besonders alarmierend dabei sei laut IW, dass gerade die Investitionen von europäischen Nachbarn ausblieben. 70 Prozent der Gelder aus Deutschland seien in andere europäische Staaten geflossen.
Die Ursachen dafür sieht das Institut vor allem in drei Entwicklungen:
- Der Fachkräftemangel belastet Unternehmen. So nannten 76 Prozent laut einer Umfrage Arbeitskosten und fehlendes Personal als massives Problem.
- Der amerikanische Inflation Reduction Act mache Expansion außerhalb Deutschlands attraktiver. Auch bei europäischen Initiativen wie dem Next-Generation-EU-Programm fließe das meiste Geld an Deutschland vorbei. Zudem funktioniere das deutsche Exportmodell bei wachsendem Protektionismus nicht mehr so gut wie früher.
- Mit dem Wegfall des Verbrennungsmotors verliere die deutsche Wirtschaft ein wichtiges Alleinstellungsmerkmal in ihrer Schlüsselindustrie.
Dazu gesellten sich dem IW zufolge noch weitere, durchaus hausgemachte Probleme, etwa hohe Unternehmenssteuern, ausufernde Bürokratie und eine marode Infrastruktur. Die Bürokratie nennt auch BWA-Chef Harald Müller als einen weiteren maßgeblichen Treiber für die Deindustrialisierung, die neben den Energiekosten alternative Industriestandorte wie insbesondere die USA zu verlockenden Angeboten mache.
Risiken für Wohlstandsabfluss ernst nehmen
Doch ist die Deindustrialisierung nun Schreckgespenst oder notwendiger Schritt im Strukturwandel der deutschen Wirtschaft?, fragt Michael Hüther, Leiter des Ifo-Instituts zusammen mit anderen Autoren im März 2023. Hüther sieht unterbrochene Lieferketten, fehlende Rohstoffe und eben auch die bereits ins Feld geführten Energiepreise als große Verunsicherung für die deutschen Unternehmen. Erschwerend nennt auch er die Subventionspolitik in den USA, die eben die Befürchtungen nähre, dass insbesondere energieintensive Unternehmen in internationale Gefilde abwandern und der Industriestandort Deutschland an Wettbewerbsfähigkeit verliere. Alle diese Risiken müssen ernst genommen werden, warnt Hüther:
Die Gefahr eines massiven Wohlstandsabflusses ins Ausland infolge eines Verlustes industriebasierter Wertschöpfung besteht, sofern der Staat für die Transformation zur Klimaneutralität seine regulatorischen und infrastrukturellen Aufgaben nicht erfüllt, so dass die Erwartungen der privaten Investoren zur Wettbewerbsfähigkeit des Standorts nicht stabilisiert werden können. Die schöpferische Zerstörung des Strukturwandels wird zur Krise, weil die Wertschöpfungsverluste nachhaltig größer sind als die Gewinne."
Deindustrialisierung ist nicht neu
Doch die beschriebenen Entwicklungen seien alles andere als neu und sind damit nicht allein auf aktuelle politische Entwicklungen und Krisen zurückzuführen. "Betrachtet man die Veränderung der deutschen Industrie in der längeren Frist, so wird deutlich, dass die Deindustrialisierung keine neue Entwicklung ist, sondern sich bereits seit Jahrzehnten vollzieht. Allgemein bekannt ist der Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft, der bereits in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eingesetzt habe, betonen Oliver Falck und Christian Pfaffl. Erkennbar werde diese Entwicklung unter anderem an kontinuierlich sinkenden Arbeitsstunden im produzierendem Gewerbe und einem Anstieg in der Dienstleistungsbranche, hier besonders im Informations- und Kommunikationssektor.
Wirtschaftsverbände wollen Wachstumsstrategie von Ampel
Dennoch bombardieren die großen Wirtschaftsverbände aktuell die Berliner Ampel-Koalition mit Vorwürfen und Ansprüchen, denn sie sehen vor allem die Politik in der Pflicht, die wirtschaftliche Entwicklung anzukurbeln. Zu hören ist dabei immer dieselbe Litanei: Überregulierung, marode Infrastruktur, im internationalen Vergleich zu hohe Steuern und politische Unsicherheit angesichts der Auseinandersetzungen der Ampel-Koalition, bremsten das Wachstum hierzulande aus.
Angesichts der trüben Konjunkturprognosen brauche es daher einen "echten Kraftakt", um die Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen, forderte BDI-Präsident Siegfried Russwurm unterdessen am Rande der Münchner Handwerksmesse nach einem Austausch mit Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD). "Die Unternehmen wünschen sich von der Bundesregierung eine klare Wachstumsagenda, und zwar eine, die über eine Legislaturperiode hinaus trägt".
Die Industrie hat in Deutschland einen Anteil von etwa 30 Prozent an der Bruttowertschöpfung und somit ein hohes Gewicht. Doch nicht nur die gestiegenen Energiepreise, sondern auch eine schwache Nachfrage, insbesondere aus dem Ausland, setzt dem ganzen Sektor zu. So sanken im vergangenen Jahr die Auftragseingänge im verarbeitenden Gewerbe um 5,9 Prozent. Gestiegene Zinsen und Kosten bremsen zudem den Bau aus. "In der Industrie und der Bauwirtschaft sind mittlerweile die dicken Auftragspolster abgeschmolzen, die die Unternehmen noch zu Corona-Zeiten aufgebaut hatten", erläuterte Ifo-Konjunkturchef Timo Wollmershäuser jüngst.
Schwarzmalerei: Nicht nur Schatten, sondern auch Licht
In ein etwas anderes Horn bläst allerdings der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher. Er warnte in der "Rheinischen Post" vor Schwarzmalerei: Das Gerede von Deutschland als "krankem Mann" Europas sei fehl am Platz. "Die unsägliche Schwarzmalerei von manchen Wirtschaftsbossen und Politikern ist die größte einheimische Bremse für die deutsche Wirtschaft in diesem Jahr". Wirtschaft sei zu 80 Prozent Psychologie, so Fratzscher weiter.
Und tatsächlich gibt es noch anderes zu berichten, als zusammengestrichene Konjunkturprognosen, die Deutschland 2024 als Schlusslicht im Euro-Raum sehen. So eilt etwa der Dax von Rekord zu Rekord. Der Leitindex bildet zwar nur einen Teil der deutschen Wirtschaft ab, die vor allem mittelständisch geprägt sei. Vertreten sind dort die 40 größten börsennotierten Konzerne. Aber es sei nicht das heimische Geschäft, was die Unternehmen an der Börse immer wertvoller mache. Ihre Umsätze und Gewinne erzielten sie zu einem Großteil im Ausland, erklärt der Analyst Konstantin Oldenburger vom Broker CMC Markets.
Arbeitsmarkt trotz Konjunkturflaute stabil
Auch zeigt sich der Arbeitsmarkt in Europas größter Volkswirtschaft bislang wegen des Fachkräftemangels als robust. Nach wie vor suchen viele Unternehmen händeringend Personal. Die Bundesbank sieht derzeit keine Anzeichen, "dass sich die Lage am Arbeitsmarkt durch die schwache Konjunktur spürbar verschlechtern wird".
Die Zahl der erwerbstätigen Menschen erreichte nach vorläufigen Daten des Statistischen Bundesamtes im vergangenen Jahr mit 45,9 Millionen den höchsten Jahresschnitt seit der Wiedervereinigung 1990. Trotz der Konjunkturflaute haben auch viele Industriebetriebe in Deutschland 2023 mehr Menschen beschäftigt. Die Zahl stieg im verarbeitenden Gewerbe im Jahresdurchschnitt insgesamt leicht um 1,1 Prozent und damit um 62.000 gegenüber dem Vorjahr.
Dennoch seien die Jahre, in denen die deutsche Industrie Job- und Wachstumsmotor für die deutsche Wirtschaft war, vorerst vorbei, so der wissenschaftliche Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung, Sebastian Dullien. Trotz dieser Erkenntnis prophezeit er aber nicht den Untergang des Abendlandes durch Deindustrialisierung. "Es ist derzeit nicht klar, inwieweit sich Unternehmensabwanderungen so materialisieren, wie sie angekündigt werden", sagte er im Gespräch mit Web.de.