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2014 | Book

Handbuch Gewerkschaften in Deutschland

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About this book

In Politik und Gesellschaft der Bundesrepublik zählen die Gewerkschaften – auch jenseits der Arbeitsbeziehungen – zu den wichtigsten politischen Akteuren. In diesem grundlegenden Handbuch, das führende Gewerkschaftsforscher versammelt, findet sich ein Überblick, der den nationalen und internationalen Forschungsstand zu den Gewerkschaften abbildet. In diesem Sinne werden die wesentlichen Daten, Fakten, Akteure, Entwicklungen, Politikfelder und Perspektiven der deutschen Gewerkschaften inklusive ihres internationalen Umfeldes systematisiert und in eine Gesamtschau gebracht. Dabei beleuchten die einzelnen Beiträge die historische, organisatorische, politikfeldbezogene und politische Dimension der Gewerkschaften sowie ihre Einbettung in Gesellschaft und Politik. Die nun vorliegende 2. Auflage wurde umfassend überarbeitet, aktualisiert sowie um neue Entwicklungen und gewerkschaftliche Schwerpunkte wie Mitgliederorientierung und Organizing-Konzepte erweitert.

Table of Contents

Frontmatter
Gewerkschaften im Transformationsprozess: Herausforderungen, Strategien und Machtressourcen
Zusammenfassung
Die Gewerkschaften gehören zu den Gewinnern des Industriekapitalismus. Wenn sie ihre Rolle auch unter den Bedingungen des flexiblen Kapitalismus fortschreiben wollen, müssen sie sich jedoch neu erfinden. Denn um die Jahrtausendwende sah es so aus, als ob sie zu den großen Verlierern des 21. Jahrhunderts zählen würden. Tatsächlich gründeten sich ihre Stärken auf die produzierenden Großbetriebe und die männlichen Facharbeiter. Dagegen liegen die Schwerpunkte der neuen Industrie-, Dienstleistungs- und Wissensökonomie bei den mit IT-Technik ausgerüsteten Schreibtischen, in kleinen betrieblichen Einheiten und in einer weiblicher werdenden Arbeitsgesellschaft. Generell gestaltet es sich für die Gewerkschaften kompliziert, auch unter diesen Bedingungen erfolgreich zu sein. Daher ist weiterhin offen, welchen Platz die Gewerkschaften im neuen Kapitalismus haben. Der archimedische Punkt für eine erneuerte gewerkschaftliche Präsens und Handlungsfähigkeit liegt darin, ob und wie sie ihre Organisationsmacht erneuern. Damit ist vor allem gemeint, wie sie nach dem Ende der Arbeiterbewegung, im Kontext von Industrie 4.0 und prekären Arbeitsmärkten, nicht nur Mitglieder gewinnen und halten, sondern angesichts neuer Heterogenitäten auf den Arbeitsmärkten handlungsfähig bleiben.
Wolfgang Schroeder
Die Mitgliederoffensive: kopernikanische Wende in der deutschen Gewerkschaftspolitik
Zusammenfassung
Mitgliederentwicklung und Organisationgrade sind von zentraler Bedeutung für Gewerkschaften, um die sozialen und wirtschaftlichen Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gegenüber Arbeitgebern und Politik durchzusetzen. Denn die Macht der Gewerkschaften beruht auf der Mitgliederzahl und den damit verbundenen Mobilisierungspotenzialen.
Detlef Wetzel
Geschichte der deutschen Gewerkschaften: Phasen und Probleme
Zusammenfassung
In Überblicken zur modernen Sozialgeschichtsschreibung ist zu Recht betont worden, dass die Geschichte der Gewerkschaften auf diesem Forschungsfeld eine Scharnierfunktion besitzt. Denn die Gewerkschaftshistoriografie begreift die Arbeiterbewegungsgeschichte nicht einseitig und ausschließlich als Programm- und Parteigeschichte von Sozialismus oder Kommunismus, sondern bemüht sich vielmehr darum, die Geschichte der Arbeiterbewegung auch als die Geschichte einer sozialen Massenbewegung mit unterschiedlichen Aktions- und Organisationsformen sowie vielen beruflichen und weltanschaulichen Binnendifferenzierungen ins Blickfeld zu rücken. Damit verbunden ist ein methodischer und inhaltlicher Wandel der Forschungsstrategien und Fragestellungen. Er spiegelt sich wider in der Überwindung von ausschließlich ideologie- oder organisationsgeschichtlich orientierten Darstellungskonzepten sowie in einer alltagsgeschichtlichen Erweiterung der Arbeiterbewegungsforschung hin zu einer Geschichte der Arbeit und der Arbeiter (Langewiesche/ Schönhoven 1981).
Klaus Schönhoven
Funktionen und Funktionswandel der Gewerkschaften in Deutschland
Zusammenfassung
In diesem Beitrag soll es um die Beantwortung dreier Fragen gehen. Erstens, was sind Gewerkschaften und welche Funktionen üben sie in den liberal-demokratischen Gesellschaften des Westens aus ? Wie nehmen zweitens die deutschen Gewerkschaften diese Funktionen wahr? Wie plausibel ist drittens die allerorten zu hörende Behauptung, die Gewerkschaften seien einem schleichenden Funktionsverlust ausgesetzt, da sich ihre traditionellen sozialen Milieus der Mitgliederrekrutierung auflösten und die zunehmende Europäisierung der Geld- und Wirtschaftspolitik ihre im „Modell Deutschland“ fest verankerte wirtschaftsund sozialpolitische Mitgestaltung aushöhle? Bei dieser dritten Frage haben wir es freilich mit einem unabgeschlossenen historischen Prozess mit nur sehr vorläufigem empirisch-analytischem Wissen und teilweise sehr spekulativen Interpretationen zu tun und der aktuelle Wissensstand wird in den einzelnen Kapiteln des Buches genauer und differenzierter ausgebreitet und diskutiert. Deshalb werden hier zur Frage drei nur zusammenfassende Thesen mit Hinweis auf diese ausführlicheren Darstellungen formuliert.
Josef Esser
Gewerkschaften in Westeuropa
Zusammenfassung
Die Geschichte der Gewerkschaftsbewegungen auf dem europäischen Kontinent unterscheidet sich signifikant von der in Großbritannien oder den USA. Die industrielle Entwicklung kam später, dafür aber schneller als in Großbritannien in Gang und fand in einer durch das britische Empire dominierten Weltwirtschaft statt. Industrieanlagen und Unternehmen entstanden in großem Maßstab und nutzten häufig die am weitesten entwickelten Technologien. Die Nationalstaaten waren von Beginn der Industrialisierung an aktive Förderer der Regulierung von Arbeitsbeziehungen. Diese Einflüsse sind bis heute in den Organisationsstrukturen der Gewerkschaften, den Beziehungen zwischen Management und Belegschaft und der Rolle in der nationalen Politik wiederzuerkennen.
Wolfgang Streeck
Struktur und Entwicklung des deutschen Gewerkschaftsmodells: Herausforderung durch Sparten- und Berufsgewerkschaften
Zusammenfassung
Mit der Reorganisation der westdeutschen Gewerkschaften nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs als Einheits- und Industriegewerkschaften bildete sich eine spezifische Struktur und Arbeitsteilung in der Arbeitnehmerinteressenvertretung heraus, die unter dem Begriff des deutschen Gewerkschaftsmodells noch heute international als Bezugs- und Referenzpunkt dient. Immerhin ist das deutsche Gewerkschaftsmodell nicht nur ein wichtiger Pfeiler des deutschen Modells der industriellen Beziehungen, sondern auch der sozialen Marktwirtschaft. Man kann deshalb von einem System der industriellen Arbeitsbeziehungen sprechen, weil es aufeinander eingestellte Akteure gibt, die – auf der Basis gesetzlicher Rahmenbedingungen – ihre Handlungskompetenzen im Kontext einer lose verkoppelten Akteurskonstellation wahrnehmen. Dabei sind vier Punkte von besonderer Prägnanz für das deutsche Modell der industriellen Beziehungen: 1. Es sind nicht die Schemata des Klassenkampfes, die das Verhältnis der Kombattanten beschreiben können. Es gibt aber auch keine friedliche Konsenskultur. So existieren ausgefeilte Regularien, die den Modus sozialpartnerschaftlicher Konfliktregulierung ermöglichen. 2. Träger der Interessenkonflikte sind mitgliederstarke und verpflichtungsfähige Verbände auf der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite. 3. Zwischen der betrieblichen und der überbetrieblichen Ebene gibt es sowohl Abschottungen als auch Verbindungen.
Wolfgang Schroeder
Gewerkschaftsfusionen: der Weg zu modernen Multibranchengewerkschaften
Zusammenfassung
Abhandlungen zum Thema Gewerkschaftsfusionen sind jüngeren Datums. So wenig wie es eine Theorie der Gewerkschaften gibt, so wenig eine ihrer Fusionen. Der Sachverhalt selbst ist nicht erst ein Phänomen des letzten Jahrzehnts. Seine soziologische Reflektion hat dennoch bisher das Stadium der Deskription und Klassifikation nicht verlassen, wobei sich im Wesentlichen zwei methodische Herangehensweisen herausgebildet haben: eine komparatistische und eine historisch-genetische.
Hans-Peter Müller, Manfred Wilke
Koalitionsfreiheit und Tarifautonomie: rechtliche Grundlagen und Rahmenbedingungen der Gewerkschaften in Deutschland
Zusammenfassung
Das gewerkschaftliche Handeln in Deutschland ist entscheidend von rechtlichen Vorgaben geprägt. Im Unterschied zu anderen hoch industrialisierten Ländern ist der Grad der Verrechtlichung der industriellen Beziehungen in Deutschland besonders hoch. Juristische Kriterien entscheiden darüber, was Gewerkschaften sind und wie sich das Verhältnis zu ihren Mitgliedern gestaltet, Rechtsnormen legen fest, welche Aufgaben und Befugnisse die „Koalitionen“ (Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände) haben, welcher Mittel sie sich zur Durchsetzung ihrer Ziele bedienen dürfen (Arbeitskampfrecht, Klagebefugnisse) und welche Wirkung den Vereinbarungen zukommt, die von den Gewerkschaften mit Arbeitgebern bzw. deren Verbänden abgeschlossen werden.
Thomas Blanke
Mitgliederrückgang und Organisationsstrategien deutscher Gewerkschaften
Zusammenfassung
Die deutschen Gewerkschaften kommen zunehmend unter existentiellen Druck: Der vereinigungsbedingte Boom von vier Millionen Mitgliedern im Osten ist innerhalb eines Jahrzehntes zerronnen und im Westen setzt sich die – seit den 1980er Jahren herrschende – Erosion der Mitgliederbasis fort. Heute sind weniger Arbeitnehmer gewerkschaftlich organisiert als je zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik. Der Tiefstand der Weimarer Republik ist bereits unterschritten: Nur jeder sechste Arbeitnehmer, der noch nicht im (Vor-)Ruhestand ist, zahlt einen Gewerkschaftsbeitrag, während die große Mehrheit der Nichtmitglieder auch von Tarifverträgen profitieren, die von den Gewerkschaften mit den Arbeitgebern ausgehandelt werden.
Bernhard Ebbinghaus, Claudia Göbel
Vom Korporatismus zur Kampagne? Organizing als Strategie der gewerkschaftlichen Erneuerung
Zusammenfassung
Dass es um die Mitgliederentwicklung der deutschen Gewerkschaften schlecht bestellt ist, gilt mittlerweile als Binsenweisheit (vgl. dazu Ebbinghaus/Göbel in diesem Band). Nur ca. jeder fünfte aktiv Beschäftigte ist heute noch organisiert. Die Gründe dafür sind vielfältig: Der wirtschaftliche Strukturwandel, die Pluralisierung von Arbeitnehmeridentitäten, die steigende Massenarbeitslosigkeit und viele Gründe mehr wurden herangezogen, um zu erklären, dass die Gewerkschaften heute alles andere als umfassende Interessenvertretungsmonopole der Arbeitnehmer sind (z. B. Regini 1992; Martin/Ross 1999). Diese Entwicklung ist nicht einzigartig. Vielmehr teilen die Gewerkschaften ihr Schicksal mit anderen Großorganisationen, wie z. B. den Kirchen und den Volksparteien, die ebenfalls kontinuierlich schrumpfen. Allerdings stellen sich die Folgen für die Gewerkschaften besonders gravierend dar, denn gleichzeitig und in Kombination mit den sinkenden Mitgliederzahlen nimmt auch ihr politischer Einfluss ab. Die Prägekraft von Tarifverträgen ist so stark rückläufig, dass von der Tarifbindung als Regelfall in vielen Bereichen der Ökonomie nicht (mehr) gesprochen werden kann. Spätestens die Hartz-Reformen haben gezeigt, dass die Rolle der Gewerkschaften im politischen Prozess zunehmend auf die einer Interessengruppe unter vielen reduziert ist (vgl. zu den Hartz-Reformen Hassel/Schiller 2010).
Britta Rehder
Innere Rechtsverfassung der DGB-Gewerkschaften
Zusammenfassung
Gewerkschaften sind Vereine, und zwar in der Regel nichtrechtsfähige Vereine. Diese Rechtsform haben sie in ihrer Entstehungsphase im 19. Jahrhundert gewählt und danach auch beibehalten, um staatliche Überwachung zu verhindern. Der Status des nichtrechtsfähigen Vereins bedeutet, dass sie nicht in das beim Amtsgericht ihres Sitzes geführte Vereinsregister eingetragen sind. Lediglich die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) war zunächst ein rechtsfähiger Verein. ver.di hatte sich für diese Rechtsform entschieden, weil sie im Zuge ihrer Gründung am 2. Juli 2001 sichergehen wollte, dass sie Gesamtrechtsnachfolgerin der in ihr aufgegangenen Gründungsgewerkschaften (ÖTV, HBV, DPG, DAG) wurde. Es sollte sichergestellt werden, dass u. a. alle von diesen Gewerkschaften abgeschlossenen Tarifverträge auch nach der Verschmelzung fortgelten. Seit dem 1. Juli 2004 ist aber auch ver.di wie alle anderen Mitgliedsgewerkschaften des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) kein eingetragener Verein mehr.
Gregor Asshoff
Funktionäre in den Gewerkschaften
Zusammenfassung
Ludwig Rosenberg, DGB-Vorsitzender von 1962 bis 1969, beklagte sich gegen Ende eines langen Dienstes für die deutsche Gewerkschaftsbewegung bitter über das schlechte Ansehen seiner Berufsgruppe:
  • „Funktionäre von Arbeitgeberverbänden und Industrie- und Handelskammern sind grundsätzlich vernünftiger als Funktionäre von Gewerkschaften. Das macht offenbar das Milieu. Funktionäre der Kirchen sind aufgrund allgemeiner Übereinkunft überhaupt keine. Funktionäre der Bauernverbände sind nur gelegentlich unvernünftig – im allgemeinen treten sie nur etwas zu massiv auf. Ganz schlimm sind eigentlich nur die Funktionäre der Arbeiter, Angestellten und Beamten. Sie sind grundsätzlich dumm, frech, unverantwortlich und bringen in regelmäßigen Abständen Staat, Wirtschaft und Gesellschaft in Gefahr“ (Rosenberg 1969: 94).
Jürgen Prott
Gewerkschaften und Interessenverbände im System der Arbeitsbeziehungen des öffentlichen Dienstes
Zusammenfassung
Die Arbeitsbeziehungen im öffentlichen Dienst (im Folgenden ÖD) finden in der fachwissenschaftlichen und öffentlichen Diskussion traditionell kaum Beachtung. Die anhaltende Fixierung auf die „industriellen“ Beziehungen der Privatwirtschaft, vor allem des produzierenden Gewerbes, ist jedoch theoretisch unbegründet und faktisch unberechtigt: Der ÖD weist eine Reihe von rechtlichen und empirischen Besonderheiten auf, die eine Übertragung von Erkenntnissen aus privatwirtschaftlichen Kontexten verbieten. Der Staat befindet sich stets in einer ungewöhnlichen Doppelfunktion: Er ist nicht nur Gesetzgeber, der die rechtlich- institutionellen Rahmenbedingungen vorgibt, sondern zugleich auch (der größte) Arbeitgeber.
Berndt Keller
Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände
Zusammenfassung
Für die deutschen Gewerkschaften sind die Arbeitgeberverbände die wichtigsten Adressaten, um die Entlohnungs- und Arbeitsbedingungen in den Betrieben mitgestalten zu können. Denn im Gegensatz zu Ländern, in denen die primäre Lohnfindung auf der betrieblichen Ebene erfolgt, dominiert in den wirtschaftlich bedeutendsten Sektoren in Deutschland, trotz teilweise starker Rückgänge, noch immer der durch Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände ausgehandelte Branchen- oder Multibranchentarifvertrag. Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände sind jedoch unter den Bedingungen des koordinierten deutschen Kapitalismus, in dem sie eine Art „Konfliktpartnerschaft“ (Müller-Jentsch) praktizieren, nicht nur durch den sogenannten Flächentarifvertrag verbunden. Darüber hinaus gibt es weitere Kooperationsbezüge wie die gemeinsam verantwortete Struktur des dualen Berufsbildungssystems und ihre institutionalisierte Mitarbeit in den Sozialversicherungen. Das Verhältnis zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden kann gewissermaßen als System kommunizierender Röhren im Ordnungskontext der sozialen Marktwirtschaft gedeutet werden.
Wolfgang Schroeder, Stephen J. Silvia
Gewerkschaften im Föderalismus: regionale Strukturen und Kulturen und die Dynamik von politischen Mehrebenensystemen
Zusammenfassung
Gewerkschaften weisen in Deutschland vielfältige Formen subnationaler Gliederung auf, die mit verschiedenen Eigennamen wie Landesverband, Bezirk, Kreisverband oder Ortskartell versehen sind. Diese treten nur sporadisch ins Rampenlicht der Öffentlichkeit, meist gilt die Aufmerksamkeit den nationalen Bundesvorständen. Allerdings werden etwa Tarifkonflikte in der Region, Konsultationen mit Landesregierungen oder die Ernennung eines Repräsentanten der regionalen Gewerkschaften zum Minister Anlass, diese Gliederungen stärker zu beachten und ernst zu nehmen. Dieser Umstand ist in der bisherigen Forschung über Gewerkschaften nur wenig beachtet und systematisch bearbeitet worden. Dies gilt besonders für die föderative Dimension und das daraus resultierende politische Mehrebenensystem.
Josef Schmid
Gewerkschaften in Politik und Gesellschaft: Niedergang und Wiederkehr des „Modells Deutschland“
Zusammenfassung
Wann immer von den Besonderheiten der deutschen Volkswirtschaft und Sozialordnung die Rede ist, bilden die Gewerkschaften einen zentralen Bezugspunkt der Analyse. Für die institutionelle Gestalt der (west‑)deutschen Gesellschaft und das in den ersten Nachkriegsjahrzehnten entstandene „Modell Deutschland“ waren sie von konstitutiver Bedeutung. Die im Deutschen Gewerkschaftsbund vereinten Einzelgewerkschaften sind in vieler Hinsicht einmalig: Mit der IG Metall und ver.di führen sie die Liste der weltweit mitgliederstärksten Arbeitnehmerverbände an; als parteiunabhängige Einheitsgewerkschaften ist ihr politischer Einfluss nicht notwendig auf Mitte-links-Regierungen beschränkt; ihre Anerkennung als gesellschaftliche Akteure sui generis spiegelt sich in einer Vielzahl von institutionellen Positionen außerhalb der Wirtschaftssphäre. Dank der erfolgreich bewahrten und weithin respektierten Organisationsmacht der deutschen Gewerkschaften blieb ihr gesellschaftlicher Status selbst dann weitgehend intakt, als die Arbeitslosenquote im Gefolge sinkender Wachstumsraten auf zweistellige Werte schnellte. Zwar verloren die Gewerkschaften seit 1991 fast die Hälfte ihrer Mitglieder, doch bilden die von ihnen geprägten industriellen Beziehungen nach wie vor eine vergleichsweise effektive Selbstregulationskonstellation in der Gruppe der avancierten Industriestaaten.
Helmut Wiesenthal
Tarifpolitik und tarifpolitisches System
Zusammenfassung
Die Tarifpolitik führt im Rahmen der Theorie des „Modells Deutschland“ eine eigentümliche Schattenexistenz. Über Funktionen, die maßgeblich ihr zugeschrieben werden, ist sie mittelbar stets präsent, so über das konstitutive Strukturmerkmal einer „ökonomisch und politisch integrierte[n] Arbeiterklasse“ (Esser et al. 1979: 3). Als Handlungssystem mit eigener Logik kommt sie aber kaum in den Blick. Auch dort, wo sie explizit Thema wird, stehen ihre Integrationsfunktionen und die mit deren Wahrnehmung verbundenen strukturellen Dilemmata im Mittelpunkt (Esser 1982: 25 – 36); oder aus dem Rahmen des Normalen fallende tarifliche Einzelkonflikte werden als exemplarische Belege für die Dominanz gesellschaftlicher Einbindungsziele über Arbeitnehmerinteressen vorgeführt (Esser 1982: 164 – 188). Erst seit Ende der 1990er Jahre – auch vor dem Hintergrund von Debatten um die Varieties of Capitalism – rückt der Aspekt der relativen Eigenständigkeit tarifpolitischen Handelns in den Mittelpunkt (Schroeder/Esser 1999; Schroeder 2000).
Jürgen Kädtler
Gewerkschaften und soziale Sicherung
Zusammenfassung
Die deutschen Gewerkschaften sind in einer Vielzahl sozialpolitischer Felder aktiv. Doch anders als zu ihrer Gründungszeit im 19. Jahrhundert, als sie autonome Selbstversorgungskassen verantworteten, sind sie heute primär daran interessiert, das Leistungsniveau der staatlichen Sozialpolitik zu fördern. Dazu nutzen sie auch ihre institutionalisierte Stellung in den semiautonomen Selbstverwaltungsgremien der sozialen Sicherung, in die sie mit der Entstehung des staatlichen Sozialversicherungssystems integriert wurden. Während also in den Anfangsjahren der Gewerkschaften eine eigenständige Gestaltung von Sozialpolitik im Vordergrund ihrer Arbeit stand, verschob sich durch die im Kaiserreich beginnende staatliche Übernahme der sozialen Sicherungspolitik der Fokus des gewerkschaftlichen Kerngeschäfts auf die Tarifpolitik. Mit der sozialpolitischen Dominanz des Staates und dem Aufstieg der Tarifpolitik zur gewerkschaftlichen Königsdisziplin war die Sozialpolitik für die Gewerkschaften nicht abgetan; sie erhielt jedoch einen deutlich anderen Stellenwert. So lässt sich heute beobachten, dass die Gewerkschaften in ihren sozialpolitischen Aktivitäten und Forderungen primär darauf ausgerichtet sind, dass sich die staatliche Sozialpolitik an den Interessen der Beschäftigten orientiert. Mit dieser appellativen Funktion sind sie ein wesentlicher Akteur, der die sozialpolitischen Debatten in der Bundesrepublik prägt.
Hanna Jeanrond
Gewerkschaftliche Betriebspolitik
Zusammenfassung
Auf den ersten Blick scheint gewerkschaftliche Betriebspolitik ein selbstverständlicher und wenig problematischer Bestandteil gewerkschaftlicher Programmatik und Praxis zu sein. Handelt es sich bei den Betrieben doch um die „eigentlichen Lebenszentren der Arbeiterschaft“ (Brigl-Matthiaß 1926: 55) oder die „Herzkammer des Kapitalismus“ (so auf dem Gewerkschaftstag 2011 der IG Metall deren 2. Vorsitzender Detlef Wetzel), in denen die Interessen der abhängig Beschäftigten pulsieren und durch gewerkschaftliche Organisierung gebahnt werden. Weniger prosaisch handelt es sich bei dem Betrieb um den „zentralen Ort der Regulierung der konkreten Arbeitsbedingungen“ (Trinczek 2010: 841). Wenn sich gleichwohl gewerkschaftliche Betriebspolitik einer einfachen und allgemeingültigen Definition entzieht, dann deshalb, weil das damit Gemeinte im historischen Verlauf Veränderungen durchlaufen hat. Ebenso haben die Rolle und der Stellenwert einer auf den Betrieb bezogenen Gewerkschaftspraxis jeweils unterschiedliche Ausprägungen erfahren.
Hans Joachim Sperling
Mitbestimmungspolitik
Zusammenfassung
Mitbestimmung ist kein originäres gewerkschaftspolitisches Ziel wie der Tarifvertrag, die Koalitionsfreiheit oder das Streikrecht. Ihre frühesten Formen – betriebliche Arbeiterausschüsse – waren von einigen sozial eingestellten Unternehmern bereits im Deutschen Kaiserreich freiwillig eingeführt (Teuteberg 1961: 208 ff.; Ritter/Tenfelde 1992: 422 ff.; Sering 1890) oder von staatlicher Seite (zunächst nur für den Bergbau) gesetzlich vorgeschrieben worden (Teuteberg 1961: 410 ff.). Die freien Gewerkschaften lehnten derartige Einrichtungen ab. Aufgrund ihrer Erfahrungen mit den von den Arbeitgebern gegründeten wirtschaftsfriedlichen „Werkvereinen“ (Mattheier 1973) erblickten sie in ihnen eine bewusst geschaffene Konkurrenz zu den gewerkschaftlichen Organisationen. Gleichwohl wurde den Gewerkschaften ihre fehlende Betriebsrepräsentanz zum Problem, was beispielsweise der Deutsche Metallarbeiterverband mit dem Aufbau eines gewerkschaftlichen Vertrauensmännersystems in den Großbetrieben zu lösen versuchte (Potthoff 1987: 159 f.). Erst mit der „Burgfriedenspolitik“ während des Ersten Weltkriegs und dem im Gefolge der revolutionären Rätebewegung von 1918/1919 etablierten Betriebsrätesystem der Weimarer Republik gaben die Gewerkschaften ihre Vorbehalte gegen gesonderte betriebliche Vertretungsorgane auf. Seither ist die Mitbestimmung ein Politikfeld, das im Wesentlichen von den Akteuren Staat (Gesetzgeber), Gewerkschaften, Betriebsräten, Arbeitgebern und deren Verbänden gestaltet wird.
Walther Müller-Jentsch
Streik und Aussperrung
Zusammenfassung
Streik und Aussperrung bezeichnen begrifflich diejenigen Kampfinstrumente, die Arbeitnehmern und Arbeitgebern zur Verfügung stehen, um ihren jeweiligen Interessen im Zuge gemeinsamer Verhandlungen über Einkommens- und Arbeitsbedingungen Gehör zu verschaffen. Im internationalen Vergleich betrachtet, fallen Streik- und Aussperrungsraten in Deutschland weit geringer aus als in vielen anderen Industrienationen. Ein Grund dafür ist nicht zuletzt in der bundesdeutschen Tradition der Sozialpartnerschaft zu sehen, die statt auf ein Gegeneinander auf ein Miteinander von Arbeit und Kapital unter Betonung ihrer gemeinsamen Interessen setzt. Dennoch gehören auch Streik und Aussperrung als Ultima Ratio zum Repertoire der Akteure, denen die inhaltliche Ausgestaltung deutscher Arbeitsbeziehungen obliegt.
Friedhelm Boll, Viktoria Kalass
„Pragmatischer Internationalismus“: Geschichte, Struktur und Einfluss internationaler und europäischer Gewerkschaftsorganisationen
Zusammenfassung
Deutsche Gewerkschaften verfügen über eine bis ins 19. Jahrhundert zurückreichende Tradition internationaler Gewerkschaftsbeziehungen. Seit der Gründungsphase waren sie – mit Unterbrechungen während des Ersten Weltkrieges, der NS-Zeit und der Jahre unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg – kontinuierlich an internationalen und seit den 1950er Jahren auch an europäischen Gewerkschaftsorganisationen beteiligt. Nicht selten zählten sie zu den Initiatoren, zumindest aber zu den Gründungsmitgliedern internationaler Gewerkschaftsorganisationen. Diese Kontinuität internationaler Beziehungen zeigt(e) sich auch in ihrer Vertretung in Entscheidungsgremien, in der gelegentlichen Wahl in das Präsidentenamt und in einer zuverlässigen Erfüllung finanzieller Verpflichtungen. Trotzdem war und ist dieses internationale und europäische Engagement deutscher Gewerkschaften – und generell nationalstaatlich gebundener Gewerkschaften – eine Art „Restposten“ geblieben. Die Repräsentation in internationalen und europäischen Gewerkschaftsorganisationen liegt in den Händen weniger Spitzenfunktionäre, die vertretene Politik hat einen geringen innerorganisatorischen Öffentlichkeitswert und findet eine eher schematische innerorganisatorische Legitimation.
Werner Reutter, Peter Rütters
Europäischer Gewerkschaftsbund: politische Entwicklung
Zusammenfassung
Seit der Gründung der europäischen Institutionen standen die nationalen Gewerkschaften Europas vor der Herausforderung, auf der europäischen Ebene zu arbeiten und Allianzen zu schmieden, um den Europäisierungsprozess zu beeinflussen. Maßgeblich dafür ist das nüchterne Kalkül, dass die Europäisierung der Wirtschaft ein Vorgehen im einzelstaatlichen Rahmen in bestimmten Bereichen zum Scheitern verurteilt und einen Sprung auf die europäische Ebene notwendig macht. Der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) zählt zu den wesentlichen Akteuren der gewerkschaftlichen Europapolitik: Er versucht, die Mitgliedsbünde, insbesondere deren Europaabteilungen, miteinander zu vernetzen, relevante europäische Aktivitäten anzustoßen und ihnen seinen Stempel aufzudrücken.
Wolfgang Kowalsky
Europäische Betriebsräte
Zusammenfassung
Mit der Richtlinie über die Einrichtung Europäischer Betriebsräte (EBR) vom 22. September 1994 wurde auf EU-Ebene eine neue Institution des kollektiven Arbeitsrechts geschaffen. Die EBR-Richtlinie gilt in allen 27 EU-Mitgliedstaaten und wurde ferner von den Staaten des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) Island, Liechtenstein und Norwegen sowie von der Schweiz übernommen.
Hans-Wolfgang Platzer
Gewerkschaften im Spiegel von Zahlen, Daten und Fakten
Samuel Greef
Backmatter
Metadata
Title
Handbuch Gewerkschaften in Deutschland
Editor
Wolfgang Schroeder
Copyright Year
2014
Electronic ISBN
978-3-531-19496-7
Print ISBN
978-3-531-19495-0
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-531-19496-7