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2015 | Book

Identität als Netzwerk

Habitus, Sozialstruktur und religiöse Mobilisierung

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Identität kann nach Heinrich Wilhelm Schäfer als Netzwerk von Dispositionen des Wahrnehmens, Urteilens und Handelns begriffen werden. So lassen sich kollektive Akteure wie religiöse, ethnische oder politische Bewegungen in ihren sozialen Entstehungs- und Operationskontexten neuartig beschreiben. Bourdieus Soziologie weiterführend, kann das Zusammenspiel von kognitiven, affektiven und leiblichen Dispositionen mit den Dynamiken gesellschaftlicher Differenz und Konfliktivität als menschliche Praxis erfasst werden. Akteure kommen somit über subjektive Einstellungen und gesellschaftliche Positionierung, Reproduktivität und Kreativität des Handelns, Übereinstimmungen und Differenzen in den Blick. Kollektive Mobilisierung individueller Identitäten wird ebenso plausibel wie der Zusammenhang zwischen dispositionaler Orientierung und strategischem Kalkül. Schäfer entwickelt aus der empirischen Untersuchung religiöser Bewegungen in einem Counter-Insurgency-Krieg eine methodisch operationalisierte Theorie der Identität, die unmittelbar anschlussfähig ist an die bei Springer erschienene praxeologische Epistemologie und Methodologie der HabitusAnalysis.

Table of Contents

Frontmatter

Einleitung

Frontmatter
1. Zur Diskussion um soziale Bewegungen und Identität
Zusammenfassung
An dieser Stelle werde ich das theoretische Feld, in dem sich die Argumentation der vorliegenden Untersuchung entfaltet, kurz skizzieren. Die jeweils relevante Diskussion in der Bewegungsforschung werde ich am Anfang eines jeden der drei Hauptkapitel gesondert aufnehmen.
Heinrich Wilhelm Schäfer
2. Die vorliegende Untersuchung
Zusammenfassung
In der vorliegenden Untersuchung werde ich darstellen, wie sich aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Bedingungen spezifisch unterschiedliche kollektive Identitäten herausbilden. Mein Hauptinteresse liegt dabei auf den entsprechenden kognitiven Prozessen. Ich werde mich an den Fragestellungen orientieren, die ich im ersten Teil der Einleitung kurz dargestellt habe. Zentrale Fragestellung ist das Verhältnis von gesellschaftlichen Strukturen, Habitus und Identitäten. Die Identitätsproblematik wird vertieft an den o.g. aktuellen Diskussionen über Identität in der Bewegungsforschung. Die im Hintergrund mitlaufenden Theorieprobleme werden bei Gelegenheit explizit aufgegriffen.
Heinrich Wilhelm Schäfer

Logik der Praxis

Frontmatter
1. Sozialstrukturelle Grundlagen, Raum und Felder: Zur Theoriediskussion
Zusammenfassung
Wenn man versucht, von Bourdieu her die Identität sozialer Bewegungen im Rahmen des sozialstrukturellen Kontexts zu konzipieren, scheiden methodisch individualistische Ansätze der Bewegungsforschung als Partner im Theoriedialog zunächst einmal aus. Für eine Diskussion von Strategien werden sie freilich wieder interessant. Wir werden die Theoriedebatte folglich nicht ausgehend von der (abstrakten) Entgegensetzung zwischen Sozialstruktur und rationalem Individuum führen. Das heißt aber gerade nicht, dass die Sozialstruktur als alleinige und hinreichende Determinante menschlichen Handels aufgefasst würde – was Bourdieu fälschlicherweise immer wieder unterstellt wird. Von der Prämisse auszugehen, dass Sozialstrukturen dem Bewegungshandeln zeitlich und sachlich vorausliegen, bedeutet nicht, dass man eine objektivistische oder gar „deterministische“ (wohl genauer: „mechanistische“) Sicht dieses Verhältnisses haben müsste. Ich folge der Einschätzung einer großen Anzahl von Bewegungsforschern darin, dass Bewegungen im Verhältnis zu Sozialstrukturen agieren. Dann geht es nur noch darum, wie man sich diese Relation zwischen Strukturen und Bewegungen vorstellen kann.
Heinrich Wilhelm Schäfer
2. Die „doppelte Realität“ der Gesellschaft
Zusammenfassung
Verortet man eine soziale Bewegung in sozialstruktureller Hinsicht, lassen sich aus den sozialstrukturellen Merkmalen der Aktiven wichtige Schlüsse ziehen (Raschke 1988, S. 127). (Raschke: Bewegungen 127) Gleichwohl liegt jedem sichtbaren Handeln von Akteuren deren bewusste oder unbewusste Wahrnehmung der gesellschaftlichen Wirklichkeit zugrunde und dementsprechend Entwürfe über Ziele und Mittel (Melucci 1988, S. 342). Gesellschaftliches Sein wird für betroffene Akteure handlungsrelevant, wenn es wahrgenommen wird; und die Wahrnehmung des gesellschaftlichen Seins konstituiert die Handlungsbedingungen als kollektiv handlungsrelevante Repräsentation im common sense. Es gilt also, die „Objektivität des Subjektiven“ (Bourdieu 2008, S. 246ff.) zu beachten, oder anders: die „doppelte Realität,“ welche darin besteht, dass soziale Akteure „nicht nur durch ihr Sein definiert sind, sondern auch durch das, was sie angeblich sind, also durch ein wahrgenommenes Sein… “ (ebd., S. 246f.).
Heinrich Wilhelm Schäfer
3. Zwänge und Gelegenheiten: gesellschaftlicher Raum und Felder
Zusammenfassung
Akteure nehmen die gesellschaftlichen Beziehungen wahr gemäß den Orientierungen und Begrenzungen durch ihre Positionen in der gesellschaftlichen Struktur insgesamt und in den für sie relevanten Praxisfeldern. Melucci stellt dementsprechend fest, dass Menschen aufgrund ihrer gesellschaftlichen Position Affinitäten zu bestimmten Bewegungen haben (Melucci 1988, S. 339). Mobilisierung ereignet sich aufgrund „an interactive and negotiated perception of action opportunities and constraints common to a certain number of individuals“ (ebd., S. 339) innerhalb von „multipolar action systems.“ Diese sind orientiert durch die Zwecke des Handelns („ends,“ den Sinn des Handelns für den Akteur), durch die Mittel („means“, den Möglichkeiten und Begrenzungen des Handelns), und schließlich durch Kontextfaktoren („environment,“ dem Feld, in dem sich das Handeln ereignet). Gesellschaftliche Strukturen werden für Bewegungsakteure zunächst und vor allem als „externe Handlungschancen“ (Bader 1991, S. 299) und externe Begrenzungen relevant. Die Rede ist allerdings nicht von den reduzierten „opportunities and constraints“ der methodologisch-individualistischen Ansätze.
Heinrich Wilhelm Schäfer
4. Der soziale Raum der religiösen Dispositionen: Guatemala
Zusammenfassung
Mit Hilfe des oben entworfenen Instrumentariums werde ich nun am Beispiel Guatemalas Korrespondenzen religiöser Identitätsformationen mit Positionen des sozialen Raumes skizzieren. Nach einem Exkurs zum Vorgehen bei der empirischen Untersuchung werde ich zunächst das Modell des sozialen Raumes auf die spezifischen Bedingungen Guatemalas anwenden und das Modell grafisch darstellen. In einem zweiten Schritt werde ich dann Habitusformationen im sozialen Raum positionieren und auf dieser Grundlage knapp interpretieren. Die eigentliche interpretative Erschließung der Korrespondenzen zwischen Raumposition und religiösen Dispositionen erfolgt dann in den empirischen Passagen der Teile II und III.
Heinrich Wilhelm Schäfer
5. Zur Notwendigkeit einer Analyse der Dispositionen von Akteuren
Zusammenfassung
Diesen ersten Teil habe ich mit einem Hinweis darauf begonnen, dass die Realität sich in der Wahrnehmung der Akteure doppelt (nicht: spiegelt). Es reicht nicht, nur die (objektiven) gesellschaftlichen Strukturen und Praktiken zu untersuchen. Gleichwohl haben wir einen langen, aber nötigen Umweg über die Konstruktion des gesellschaftlichen Raumes religiöser Stile in einem Modell genommen. Denn auch das Wahrgenommene allein genügt nicht. Der gesellschaftliche Raum und seine Teilungen sowie die Dynamik der Handlungen in den unterschiedlichen Praxisfeldern und die vielfältigen Vermittlungen zwischen den Feldern sind – als gelebte, wahrgenommene Praxis – Grundlagen für die Bildung von habituellen Dispositionen und zugleich Resultate des dispositionsorientierten Handelns. Die Sozialstruktur ist nichts ohne die Lebensweisen und diese sind nichts ohne die Sozialstruktur. Beide sind sie Grundlagen für die Herausbildung kollektiver Identitäten und Strategien sozialer Bewegungen.
Heinrich Wilhelm Schäfer

Praktische Logik

Frontmatter
1. Rahmen-Analyse, praktische Logik und Modellkonstruktion: Zur Orientierung an der Theoriedebatte
Zusammenfassung
Die Entwicklung eines empirisch operationalisierbaren Modells von Operatoren praktischer Logik geschieht mit Fokus auf den kognitiven Prozessen. Die Rahmen-Analyse ist diejenige Strömung in der aktuellen Bewegungsforschung, die am weitesten vorgedrungen ist in der Untersuchung kognitiver Operationen. Damit empfiehlt es sich, dass ich meinen eigenen Vorschlag im Verhältnis zur Rahmenanalyse situiere.
Heinrich Wilhelm Schäfer
2. Lebensbedingungen und ihre Deutung – Modellkonstruktion 1: Isotopien
Zusammenfassung
Mobilisierung und kollektive Identität sozialer Bewegungen haben viel mit Störungen bzw. Behinderungen einer zufriedenstellenden Lebensführung im weitesten Sinne und mit der kollektiven Diagnose der entsprechenden Problemlage zu tun (Snow/Benford 2000, S. 615).
Heinrich Wilhelm Schäfer
3. Umwandlung von Erfahrungen – Modellkonstruktion 2: Transformationen
Zusammenfassung
„Verlust von Zukunft“ und „Vorbereitung auf die Entrückung“ (die beiden bisher analysierten E-Isotopien) sowie „Endzeit“ und „Entrückung der Kirche“ (die beiden entsprechenden D-Isotopien) bilden die vier Pole der zentralen Struktur kognitiver Operatoren der PERG. Nun reicht es aber nicht, strukturelle Oppositionen von Begriffen vorzulegen. Bewegungsliteratur, die sich im weitesten Sinne mit Kognition beschäftigt, setzt zurecht voraus, dass die kognitiven Prozesse wichtig sind. Das „meaning construction“ bei Snow/Benford (2000, S. 615) als auch das Zusammenspiel von „ends, means, and environment“ bei Melucci (1988, S. 332f.) haben Prozesscharakter. Zusätzlich zum strukturalen Aspekt von Bedeutung kommt also der des Verlaufs von Operationen hinzu.
Heinrich Wilhelm Schäfer
4. Vernetzung, Brüche und Umwandlungen – Modellkonstruktion 3: Netz der Operatoren
Zusammenfassung
Im bisherigen Verlauf dieses Teils haben wir ein Modell von Umwandlungsweisen der praktischen Logik entworfen: eine isomorphe Struktur, deren Relationen erlauben, wichtige Operationen der praktischen Logik aufeinander zu beziehen. Dieses Modell allein reicht aber nicht aus. Schon die empirische Analyse der Diskurse drängt auf eine Erweiterung der vierpoligen Grundstruktur zu einem Netzwerk.
Heinrich Wilhelm Schäfer
5. Zum Gebrauch des Modells
Zusammenfassung
Das Modell des Netzes der praktischen Operatoren ist nun konstruiert. Im folgenden Kapitel werde ich mit ihm zur Problematik kollektiver Identität bei sozialen Bewegungen arbeiten. Es ist also noch nicht getestet. Dementsprechend werde ich hier nur erst die Chancen des Modells thematisieren. Seine Grenzen werden nach dem Test zu benennen sein.
Heinrich Wilhelm Schäfer

Identität

Frontmatter
1. Kollektive Identität, Habitus und Dispositionen: Zur Orientierung an der Theoriedebatte
Zusammenfassung
Das Modell der Operatoren praktischer Logik, welches ich hier mit dem Ziel eines besseren Verständnisses der Identitäten sozialer Bewegungen heranziehe, hat seinen Fokus auf kognitiven Prozessen. Kognition wird allerdings von der organischen Einbindung des Modells in Bourdieus Theorie der Praxis her verstanden: Die kognitiven Strukturen und Gehalte sind praktische Operatoren. Das heißt, die Frage nach dem Handeln und damit auch die nach den Strategien der Akteure läuft im Hintergrund immer mit.
Heinrich Wilhelm Schäfer
2. Raumpositionen, Felder und Dispositionen: empirische Befunde
Zusammenfassung
Das Modell des Netzwerks der Dispositionen ermöglicht empirisch zu rekonstruieren, wie sich zwei sehr unterschiedliche kollektive Identitäten herausbilden, obwohl die Bewegungen über ein fast gleiches semantisches Inventar verfügen und sich auf demselben Praxisfeld (dem religiösen) zur selben Zeit herausbilden. Die Differenz lässt sich zurückführen auf die unterschiedlichen Positionen der religiösen Akteure im gesellschaftlichen Raum und die damit verbundenen Bedingungen von Entstehung und Operieren der Dispositionen der Habitūs.
Heinrich Wilhelm Schäfer
3. Netz der Dispositionen und Identität: Theoretische Perspektiven
Zusammenfassung
Die bisherigen Ausführungen werden nun auf ein theoretisches Konzept von Identität als Netzwerk aus Dispositionen zugespitzt. Ich werde dazu eine Assoziation von Richard Rorty (1989, S. 80) aufnehmen: das Selbst als Netzwerk. Kombiniert mit dem Habitusbegriff modifiziert dieser Ansatz die traditionell zentrale Rolle des Bewusstseins für die Identitätsbildung. Im ersten folgenden Abschnitt werde ich diesen Gedanken kurz darstellen, auf diesem Hintergrund das Verhältnis von Habitus und Identität erörtern und die Verwendungsweisen des Modells weiter entwickeln. Entsprechend der Orientierung am Habitusbegriff und am Netzmodell werde ich die Theoriediskussion mit Überlegungen zum Verhältnis von Kognition (inkl. Bewusstsein), Affekten und Leib weiterführen. In einem nächsten Schritt erörtere ich das Verhältnis von individueller und kollektiver Identität. Sodann kommt noch einmal das Verhältnis von gesellschaftlichen Bedingungen (Positionen, Felder) und Identitäten unter den Vorgaben des Netzwerk-Modells zur Sprache.
Heinrich Wilhelm Schäfer

Schluss

Frontmatter
1. Theorie sozialer Bewegungen
Zusammenfassung
Die vorliegende Untersuchung bediente sich der Ergebnisse einer empirischen Analyse zweier religiöser Bewegungen in Guatemala und wurde im Dialog mit der Forschung zu sozialen Bewegungen durchgeführt. Ausgehend von der Annahme, dass die Position der Anhänger einer sozialen Bewegung im sozialen Raum nicht unerheblich für ihre kollektive Identität ist, wurden in Teil I die Bewegungen in Modellen des sozialen Raumes und des religiösen Feldes verortet. Dabei wurden die Machtrelationen und Kräfteverhältnisse der Sozialstruktur als Logik der Praxis aufgefasst, und die sozialen Bewegungen wurden als Habitusformationen im Sozialraum konstruiert. In Teil II wurde die Habitustheorie für empirische Analysen operationalisiert. Dazu habe ich aus der empirischen Analyse von Diskursen das Modell eines Netzwerks von Operatoren der praktischen Logik der jeweiligen Bewegungen entworfen. Das Modell ist struktural und generativ zugleich, und es verbindet Wahrnehmung, Urteil und Handlungsentwürfe ebenso wie Erfahrung und Deutung.
Heinrich Wilhelm Schäfer
2. Identität aus der Perspektive des Netzwerk-Modells
Zusammenfassung
Eine Vertiefung des Begriffs der kollektiven Identität in der Bewegungsforschung ist durch seine Interpretation über das Modell eines Netzwerks erzielt worden. Mit diesem Modell ergeben sich im unmittelbaren Zusammenhang des Gegenstandes der vorliegenden Untersuchung auch veränderte Perspektiven auf die Rolle von Bewusstsein, Affekten und Leib, auf den Prozesscharakter von Identitäten sowie auf ihren Bezug zu sozialen Strukturen.
Heinrich Wilhelm Schäfer
3. Interkulturelle und theoretische Perspektiven des Netzwerk-Modells von Identität
Zusammenfassung
In der Einleitung zur vorliegenden Untersuchung habe ich kurz Bezug genommen auf einige aktuelle Fragestellungen aus der Diskussion um Globalisierung und Modernität, in denen die Identitätsproblematik mitläuft. Hier werde ich ganz knapp einige Aspekte davon wieder aufnehmen, um schlaglichtartig auf einige wenige Möglichkeiten hinzuweisen, das Netzwerk-Konzept von Identitäten außerhalb des engeren Zusammenhangs der Bewegungsforschung zu verwenden. Ich beginne mit der interkulturellen Perspektive, weil ich (möglichweise aufgrund lebensgeschichtlicher Affinität) in diesem Feld wichtige Verwendungsmöglichkeiten sehe und weil die später kurz aufgeführten Themenkreise ebenfalls aus interkultureller Sicht von Bedeutung sind – wenn sie auch traditionell nicht unbedingt unter dieser Hinsicht bearbeitet wurden. Diese weiteren Themenkreise sind strategisches rationales Handeln, Aspekte der Globalisierung inkl. Religion sowie individuelle Identität.
Heinrich Wilhelm Schäfer
Backmatter
Metadata
Title
Identität als Netzwerk
Author
Heinrich Wilhelm Schäfer
Copyright Year
2015
Electronic ISBN
978-3-658-10343-9
Print ISBN
978-3-658-10342-2
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-10343-9