Skip to main content
Top

24-02-2020 | Mechanik | Schwerpunkt | Article

Packung und Struktur

Author: Dieter Beste

9 min reading time

Activate our intelligent search to find suitable subject content or patents.

search-config
loading …

Wie erreicht man mit Kanonenkugeln die größte mögliche Packungsdichte? Und was passiert, wenn man Gummiringe ungeordnet verpackt? Aufgeklärte und ungeklärte Fragen dieser Art halten die Forschung in Atem.

Teilchen möglichst dicht zu packen, ist der Schlüssel für zahlreiche praktische Anwendungen – zum Beispiel um die Materialporosität bei 3D-Druckverfahren und anderen Methoden der additiven Fertigung zu minimieren und damit die Festigkeit neuartiger Werkstoffe zu erhöhen. "Packungsdichte" ist an den Universitäten deshalb auch ein wichtiges Grundlagenforschungsthema, weil noch so vieles im Unklaren liegt – auch wenn es Anfang dieses Jahrhunderts endlich mit Computerhilfe gelang, die 400 Jahre alte "Keplersche Vermutung" mit einem mathematischen Beweis zu bestätigen.

Als der englische Adlige und Seefahrer Sir Walter Raleigh (1552–1618) irgendwann gegen Ende der 1590er Jahre seinen Freund und mathematischen Assistenten Thomas Harriot um den "kleinen" Gefallen bat, eine Formel aufzustellen, mit deren Hilfe Raleigh die Anzahl der Kanonenkugeln in einem gegebenen Stapel einfach anhand der Form des Stapels ermitteln konnte, ahnte der berühmte Entdecker sicherlich nicht, damit den Wettlauf um die Lösung eines der großen mathematischen Rätsel angestoßen zu haben, dessen Lösung erst gut vierhundert Jahre später gelang. Denn wie jeder gute Assistent verstand Harriot die Bedürfnisse seines Meisters, kolportiert Springer-Autor George G. Szpiro in "Die Keplersche Vermutung", entwickelte die Frage einen Schritt weiter und versuchte, die effizienteste Möglichkeit zu finden, so viele Kanonenkugeln wie möglich in den Laderaum eines Schiffes zu stopfen. 

Nachdem Harriot eine Weile über diese Frage nachgedacht hatte, beschloss er, einen Brief an Johannes Kepler in Prag zu schreiben, einem der führenden Mathematiker, Physiker und Astronomen der damaligen Zeit. "Nach Erhalt des Briefes von Harriot musste Kepler nicht lange nachdenken, um zu dem Schluss zu kommen, dass man die dichtest mögliche Packung dreidimensionaler Kugeln dadurch erreicht, dass man sie so anordnet wie die Marktverkäufer ihre Äpfel, Orangen und Melonen stapeln", erzählt Szpiro (Seite 5). Dies war die Geburtsstunde der Keplerschen Vermutung: 1611 postulierte Johannes Kepler, dass keine Anordnung von gleich großen Kugeln eine größere Dichte aufweist als versetzte Schichten hexagonaler Gitter - eine Annahme übrigens, die sich beispielsweise auch in der Kristallographie für die dichteste Anordnung von Atomen im Gitter bestätigt hat ("Mechanisches Verhalten der Werkstoffe", Seite 15). Während Packungen von Kugeln, die zufällig in eine Kiste geschüttet werden, eine mittlere Dichte von etwa 65 Prozent besitzen, erreicht man mit der periodischen Struktur hexagonaler Packungen rund 74 Prozent. Was so augenfällig richtig ist, konnte allerdings erst Thomas C. Hales vor wenigen Jahren mit Hilfe aufwändiger Computerberechnungen mathematisch beweisen ("Alles Mathematik", ab Seite 207).

Periodische Struktur bildet sich automatisch

Wenn jetzt auch die Keplersche Vermutung gelöst ist, ist damit längst nicht das Ende aller offenen Fragen zur Packungsdichte gekommen. Gemeinsam mit Kollegen aus Brasilien und den USA fanden Physiker der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) heraus, dass auch nach dem Zufallsprinzip geschüttete Kugeln stets eine periodische Struktur bilden – jedenfalls konnten sie das im zweidimensionalen Experiment bestätigen, wie sie in Physical Review Letters berichteten. In zahlreichen Computersimulationen hatten die Forscher bis zu 10 Millionen Scheiben gleicher Größe nacheinander aus verschiedenen Positionen in ein oben offenes Rechteck fallen lassen. Das verblüffende Ergebnis: Bei ausnahmslos jedem Versuch bildete sich eine periodische Struktur. "Periodisch bedeutet in unserem Fall: Für jedes Teilchen gibt es Äquivalente, die sich in gleicher Position auf der X-Achse in regelmäßigen Abständen wiederholen", erläutert Thorsten Pöschel, Professor am Institut für Multiscale Simulation of Particulate Systems der FAU. Die entstehenden Muster aus Scheiben und Zwischenräumen setzen sich regelmäßig nach oben fort – mit einer durchschnittlichen Anzahl von vier Kontakten pro Scheibe.

Je schmaler, umso schneller

Allerdings entstehen die periodischen Muster nicht sofort. Zu Beginn der Füllung gibt es eine ungeordnete Phase, fanden die Forscher heraus, die vor allem durch größere Zwischenräume und durch Cluster von Scheiben charakterisiert ist, die weniger oder mehr als vier Nachbarkontakte haben. Ab welcher Füllhöhe die Scheiben dann eine periodische Struktur bilden, kann zwar selbst zwischen Behältern gleicher Breite stark variieren, jedoch steigt diese durchschnittliche Höhe mit zunehmendem Abstand zwischen den Wänden. Oder anders ausgedrückt: Je breiter der Kanal, umso mehr Schichten müssen eingefüllt werden, bis sich die Scheiben periodisch anordnen. Zu erklären ist das damit, dass es hier zu Beginn der Füllung mehr Möglichkeiten ungeordneter Positionierung der Scheiben gibt, was sich nach oben über deutlich mehr Schichten fortsetzt als in schmalen Behältern, heißt es in einer Mitteilung der FAU. Doch egal ob schmal oder breit – in ihren Simulationen konnten die Forscher zeigen, dass die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kanal noch nicht periodisch ist, mit zunehmender Füllhöhe exponentiell sinkt.

Wie sich lange Objekte maximal zusammenknüllen lassen

Auch Reza Shaebani aus der Arbeitsgruppe um Professor Ludger Santen an der Universität des Saarlandes forscht in der Tradition Keplers Hypothese über die effektivste Methode, Kanonen auf einem Schlachtschiff zu stapeln. Ihn interessiert die optimale Packung von lang gestreckten Objekten in engen Kapseln, und er hat zusammen mit anderen untersucht, wie effektiv sich quasi-eindimensionale Objekte zufällig zusammenfalten: So befindet sich wundersamer Weise unser gesamtes Erbgut in Form eines meterlangen DNA-Stranges dicht gepackt im winzigen Zellkern jeder Körperzelle. Den Verdichtungsprozess von Objekten wie kettenförmigen DNA-Molekülen oder Drähten konnte Shaebani zusammen mit Physikern der Universität Amsterdam und dem iranischen Institute for Advanced Studies in Basic Sciences (IASBS) anhand von Experimenten und einem theoretischen Modell genauer beschreiben; ihre Studie haben die Wissenschaftler in Nature Communications veröffentlicht. 

In ihren Versuchen hatten die niederländischen Forscher unterschiedlich dicke Plastik-Drähte mit variabler Elastizität und Reibung in einer runden Kapsel verstaut. Um zu erfassen, wie stark sich die Drähte zusammenknüllen, wurde die jeweils im Endzustand erreichte Packungsdichte gemessen. Parallel dazu gelang es Reza Shaebani, den Verdichtungsprozess mithilfe eines theoretischen Modells zu beschreiben, das für stark ungeordnete Systeme zu den gleichen Ergebnissen kam. Das Modell berücksichtigt die Dicke des Drahts, seine Biegsamkeit und die Fähigkeit der Stränge, gut aneinander vorbeizugleiten. Der Vorteil seines Modells liegt nach Angaben der Universität Saarbrücken darin, dass es weitaus weniger rechenaufwändig ist als Vorgängermodelle. 

"Das ist ein wechselwirkendes System"

"Wie erwartet, bestimmen die Eigenschaften des Drahtes die Effektivität des Verdichtungsprozesses", berichtet Reza Shaebani. Die Studie habe aber auch einige überraschende Ergebnisse hervorgebracht: So seien dünnere Drähte am Ende weniger dicht gepackt als dicke. "Um die gleiche Dichte zu erreichen, müsste ein dünner Draht länger sein, doch bei zunehmender Länge stehen ihm immer weniger Hohlräume zur Verfügung – das ist ein wechselwirkendes System." Je nach Draht-Eigenschaften ändere sich auch die Anordnung der Drähte. Eine unordentliche Knäuelstruktur entstehe dann, wenn der Draht wenig plastisch sei und wenn die Reibung zwischen den Strängen hoch sei. 

Somit liefert die Studie der Physikergruppe einen neuen Einblick in die Mechanismen, die dem Verknüllen von Drähten mit plastischen und elastischen Eigenschaften zugrunde liegen – verbunden mit handfesten Perspektiven für praktisches Handeln: So könnten etwa die untersuchten elastoplastischen Drähte als Modellsysteme für DNA-Moleküle und andere Biopolymere dienen. Und dies wiederum könne beispielsweise zu innovativen Behandlungsmethoden von Arterienerweiterungen (Aneurysmen) führen, spekulieren die Wissenschaftler. Potenzielle Bedeutung hätten die Ergebnisse auch für industrielle Prozesse, bei denen man oft am umgekehrten Prozess, dem Entwirren von Drähten, interessiert sei.

Wie dicht können Körper gepackt werden?

Für Kugeln ist als dichteste Packung eine Raumerfüllung von etwa 74 Prozent nachgewiesen. Weicht die Geometrie der Körper von der Kugelform ab, ist die maximale Packungsdichte meist ungelöst. An der Universität Rostock gehen Wissenschaftler deshalb der Frage nach, wie nahe sich harte Körper unterschiedlicher Geometrie im Mittel annähern können – oder andersherum: wie dicht diese Körper gepackt werden können. Entscheidend für die größtmögliche Packungsdichte ist, so ihre Überlegung, das Ausschlussvolumen der Körper, worunter man das Volumen versteht, das ein Körper in der Umgebung eines weiteren Körpers aufgrund der Undurchdringbarkeit beider Körper nicht erreichen kann.

Joachim Wagner, Professor an der Universität Rostock, ist es im Team mit den Wissenschaftlern Elisabeth Herold und Robert Hellmann gelungen, bisher nicht bekannte, geschlossene mathematische Formeln für das Ausschlussvolumen ausgewählter Körper, wie z.B. Linsen, Spindeln, Kegel, Doppelkegel, Kegelsegmente und Kugelsegmente abzuleiten. "Das ist zunächst trockene Grundlagenforschung, jedoch durchaus mit Relevanz für zahlreiche praktische Fragestellungen", sagt Robert Hellmann. Auf der makroskopischen Ebene sei die maximale Packungsdichte von Schüttgut wie Getreide- oder Sandkörner, man spricht hier von granularer Materie, eine äußerst relevante Frage. In der mikroskopischen Welt der Atome und Moleküle könne diese Forschung zum besseren Verständnis etwa von Flüssigkristallen beitragen. 

Eigentlicher Ausgangspunkt für die Forschung in Rostock war die Frage nach den Wechselwirkungen zwischen mesoskopischen Partikeln wie etwa Viren, die zwar deutlich größer als Moleküle, aber immer noch so klein sind, dass man sie unter einem Lichtmikroskop nicht beobachten kann.
"Zur Lösung des Problems haben wir uns mathematischer Methoden bedient, die in der Chemie eher ungewöhnlich sind", berichtet Joachim Wagner. "Mathematische Methoden spielen jedoch in der Chemie eine immer größere Rolle." Die Wissenschaftler berichteten über ihre Arbeitsergebnisse im Journal of Chemical Physics

Auf der Spur der Makromoleküle

Was passiert, wenn man Gummiringe ungeordnet verpackt? Auch dies eine Frage, die Thorsten Pöschel von der FAU in Erlangen-Nürnberg nicht ruhen ließ. Zusammen mit den Physikern Leopoldo R. Gómez von der argentinischen Universidad Nacional del Sur und Nicolás A. García vom Institut Laue-Langevin in Grenoble hat er mittels Röntgentomografie einen Blick ins Innere der Verpackung geworfen und nachgeschaut, wie sich die halbflexiblen Ringe dort verhalten. Ihre Erkenntnisse haben die Wissenschaftler kürzlich in den Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America (PNAS) publiziert, in der sie auch Animationen zur Packungsstruktur der Ringe eingebunden haben. Es gelang ihnen nachzuweisen, dass sich innerhalb der Verpackung die Gummiringe so vermischen, dass sie schließlich alle einander berühren. Diese Erkenntnis sei für die Beschreibung synthetischer Polymere und Biomoleküle von zentraler Bedeutung, gibt Pöschel zu bedenken. Etwa im Hinblick darauf, dass die DNS bakteriophager Viren sowie ein- und mehrzelliger Lebewesen ringförmig ist. 


 

Related topics

Background information for this content

2011 | OriginalPaper | Chapter

Kanonenkugeln und Melonen

Source:
Die Keplersche Vermutung

2019 | OriginalPaper | Chapter

Aufbau der Werkstoffe

Source:
Mechanisches Verhalten der Werkstoffe

2018 | OriginalPaper | Chapter

Naturinspirierte Optimierung

Source:
Einführung in die Optimierung

2020 | OriginalPaper | Chapter

Chemische Bindung, Werkstoffe, Struktur

Source:
Chemie

Related content

13-09-2017 | Additive Fertigung | Schwerpunkt | Article

3D-Druck in der Schwerelosigkeit

22-06-2016 | Keramik + Glas | Schwerpunkt | Article

Wie entsteht Glas?

Premium Partners