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2006 | Book

Politischer Extremismus

Author: Hans-Gerd Jaschke

Publisher: VS Verlag für Sozialwissenschaften

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Table of Contents

Frontmatter
1. Einleitung
Auszug
Das Zeitalter der Extreme — so hat der britische Historiker Eric Hobsbawm das zu Ende gegangene zwanzigste Jahrhundert genannt (Hobsbawm 1995). In der Tat: Auf- und Abstieg des Kommunismus und des Nationalsozialismus, also extrem linker und rechter politischer Regime einschließlich ihrer Vorgeschichten und ihrer lang andauernden Nachwirkungen haben diesem Jahrhundert den Stempel aufgedrückt. Hobsbawm sieht den zentralen Gegensatz jedoch nicht, wie zu vermuten wäre, zwischen diesen beiden Herrschaftsformen, sondern zwischen Kapitalismus und Sozialismus, mithin zwischen den ökonomischen und sozialen Fundamenten totalitärer Herrschaft. Das zwanzigste Jahrhundert war aber auch, zumal in der zweiten Hälfte, ein Siegeszug der Demokratie in Europa und vielen Staaten der Dritten Welt. Menschenrechte, Rechts- und Sozialstaat, Meinungs- und Versammlungsfreiheit — liberale Grundwerte prägen die europäische Verfassungsgeschichte und wirken weit darüberhinaus. Brüche, Rückschläge und das Fortleben extremistischer Tendenzen in der Demokratie begleiten diesen historischen Prozess. Ungewiss ist allerdings, wie stabil die Demokratien auf lange Sicht sind. Ihre Annehmlichkeiten werden zwar wie selbstverständlich wahrgenommen, doch historisch betrachtet ist die Demokratie gerade in Deutschland noch recht jung. Krisenhafte Anzeichen sind unübersehbar. Verwerfungen der Globalisierung, wachsende soziale Ungleichheit, die Vermischung von Verteilungs- und ethnischen Konflikten in den städtschen Ballungsräumen und weltweite terroristische Bedrohungen können die sozialen und wertbezogenen Grundlagen der Demokratien mittelund längerfristig gefährden. Die soziale Sicherung breiter Schichten der Bevölkerung und ein liberaler Rechtsstaat mit größtmöglichen bürgerlichen Freiheiten sind Errungenschaften, die durchaus bedroht sind durch Wirtschaftskrisen und überreaktionen auf terroristische Herausforderungen.
2. Was ist Extremismus?
Auszug
Hitler, Mussolini, Stalin, Pol Pot, Khomeini, Saddam Hussein und andere Diktatoren würden sich nicht als Extremisten bezeichnen. Ebensowenig die heutigen Führer und Anhänger rechts- oder linksextremistischer Parteien. Sie würden sich allesamt als Freiheitskämpfer, Sozialisten, Kommunisten oder auch Nationalisten oder einfach nur als als Linke oder als Rechte bezeichnen. Der Begriff Extremismus ist folglich ein Etikett, das den Betroffenen von der Gesellschaft insgesamt oder von gesellschaftlichen Akteuren aufgeklebt wird, die sich öffentliches Gehör verschaffen können. Es könnte zutreffen, es könnte aber auch lediglich dazu dienen, den so Bezeichneten zu diskreditieren. „Extremismus“ erweist sich damit aber auch als politischer Kampfbegriff, der zur Ausgrenzung politischer Gegner dient, der sich offenbar nur in Bezug auf etwas anderes, etwa die Mitte der Gesellschaft oder die political correctness, definiert, der als extreme Abweichung von Normalität oder common sense zu verstehen ist. Es handelt sich um einen Abgrenzungsbegriff, wie Pfahl-Traughber zu Recht bemerkt, so „dass Extremismus nicht allein für sich, sondern in Abhängigkeit von einem anderen Begriff oder Wert definiert werden muß. Es geht demnach dabei um die äußerste Abweichung oder den äußersten Gegensatz von einem anderen Standpunkt oder Wert. Worin dieser besteht, macht demnach auch einen Kernaspekt des inhaltlichen Verständnisses von Extremismus aus“ (Pfahl-Traughber 2000: 186).
3. Entwicklungslinien
Auszug
Von Rechts- und Linksextremismus ist erst seit wenigen Jahrzehnten die Rede. Die Begrifflichkeit gibt es erst seit etwa dreißig Jahren, zuvor waren Rechts- und Linksradikalismus gängige Münzen im politischen Sprachgebrauch. Die gegenwärtigen politischen Formationen links- und rechtsaußen haben zweifellos viele Wurzeln in der Frühgeschichte der Bundesrepublik. Dennoch bleibt ihre Entwicklungsgeschichte unvollständig, wenn wir nicht einen umfassenderen historischen Bezugsrahmen zugrundelegen. Mitte und Ende des 19. Jahrhunderts gibt es erste Ausprägungen der rechten und linken Varianten des politischen Extremismus. Er ist so gesehen eine historisch sehr junge Entwicklung, gerade einmal hundertfünfzig Jahre alt. Keine seiner Spielarten entwickelt sich eigenständig, sie alle sind Abspaltungen von prägenden politischen Ideen ihrer Zeit. Ihre Entstehung ist verknüpft mit inneren Auseinandersetzungen in den dominierenden politischen Richtungen nach der Aufklärung und der Französischen Revolution und der allmählichen Herausbildung demokratischer Verfassungsstaaten: Konservatismus, Sozialismus und Liberalismus. Karl Dietrich Bracher hat in seiner 1982 erschienenen Studie „Zeit der Ideologien“, in der die politischen Ideen des 19. und 20. Jahrhunderts behandelt werden, diese Konstellation als „Nebeneinander und Gegeneinander der gleichsam klassischen, bis heute wirksamen Ideenkreise“ beschrieben: „Liberalismus und Demokratiegedanke, Sozialismus und Marxismus, Konservatismus und nationalistischer Etatismus“ (Bracher 1982). Gerhard Göhler hat die Konkurrenz dieser Hauptströmungen prägnant zusammengefasst: „Geht es dem Liberalismus um die freie Entfaltung des Individuums gegenüber aller politischen und gesellschaftlichen Bevormundung, dem Sozialismus um die Verwirklichung von sozialer Gerechtigkeit in einer selbstbestimmten Gemeinschaft, so dem Konservatismus um die Bewahrung des Bewahrenswerten in einem vorgegebenen Ordnungsgefüge“ (Göhler 2002: 19).
4. Zusammenfassung
Auszug
Extremismus ist ein alltäglicher Begriff, er gehört zum politischen Sprachgebrauch und er bezeichnet den Gegenstand sozialwissenschaftlicher Diskussionszusammenhänge. Er hat auf all diesen Ebenen seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts den noch unbestimmteren Begriff des Radikalismus abgelöst. In der Politikwissenschaft und in der Rechtspolitik bedeutet Extremismus das politisch organisierte Agieren gegen die demokratische Verfassung auf der Basis extremistischer Überzeugungen. Nicht wenige Politikwissenschaftler distanzieren sich jedoch vom Extremismusbegriff, weil er Unvergleichbares in einen Topf wirft oder weil sie in ihm einen Kampfbegriff sehen. Verschiedene Akteure haben Definitionsmacht Über die Bedeutung des Extremismusbegriffs gewonnen: In der politischen Arena, auch im Journalismus dient er häufig dazu, mißliebige Gegner zu diskreditieren und vom politischen Wettbewerb auszuschließen. Verfassungsschutzbehörden haben den gesetzlichen Auftrag, den politischen Extremismus zu beobachten und Über seine Entwicklung zu informieren. Innenminister können extremistische Vereinigungen unter bestimmten Voraussetzungen auflösen. Der polizeiliche Staatsschutz bekämpft politisch motivierte Kriminalität. Verwaltungsgerichte entscheiden Über Demonstrationsverbote, das Bundesverfassungsgericht Über Anträge auf ein Parteienverbot. Die Sozialwissenschaften untersuchen Entstehung und Verlauf extremistischer Einstellungen und Verhaltensweisen und entwickeln Theorien und Deutungen des politischen Extremismus. Nicht zuletzt haben extremistische Gruppen eine politische Selbstwahrnehmung, eine Eigen-Verortung auf der Links-Rechts-Achse. Sie kann durchaus Übereinstimmen mit der öffentlichen Wahrnehmung, aber auch davon abweichen. Diese Gruppen agieren also keineswegs isoliert, sie sind Teil eines umfassenden und komplexen Akteurs- und Handlungsgeflechts, sie werden geradezu dauerhaft von der sie umgebenden politisch-sozialen Umwelt bearbeitet. Vielseitige Aktionen und Reaktionen kennzeichnen das Geschehen, wer wen vor sich hertreibt, das hängt von der konkreten Situation ab. So gesehen ließe sich eigentlich vom Extremismus-Komplex sprechen, der ein Teil der Politik ist, der eigenen Regeln und Ritualen folgt.
Backmatter
Metadata
Title
Politischer Extremismus
Author
Hans-Gerd Jaschke
Copyright Year
2006
Publisher
VS Verlag für Sozialwissenschaften
Electronic ISBN
978-3-531-90286-9
Print ISBN
978-3-531-14747-5
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-531-90286-9