5.1 Ereignisbegriff und Kausalitätsanforderungen
In
Caudle v Sharp legte der englische Court of Appeal eine ereignisbasierte Aggregationsklausel aus. Lord Justice Evans erklärte, der Aggregationsmechanismus würde sich aus drei Elementen zusammensetzen. Zunächst müsse etwas passiert sein, das die Einzelschäden verbinde und als Ereignis bezeichnet werden könne; zweitens müsse zwischen diesem Ereignis und jedem Einzelschaden ein Kausalzusammenhang bestehen, der, drittens, nicht zu schwach sein dürfe.
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Der Begriff des Ereignisses (
event) wird in der Rückversicherung in verschiedenen Zusammenhängen und entsprechend mit unterschiedlichen Bedeutungen gebraucht.
62 In
Axa Reinsurance (UK) Ltd v Field definierte Lord Mustill den Ereignisbegriff im Zusammenhang mit Aggregationsklauseln folgendermassen: ein Ereignis ist „something which happens at a particular time, at a particular place, in a particular way“.
63 Aus der englischen Rechtsprechung geht z. B. hervor, dass das Fassen eines Plans
64 kein Ereignis im Sinne einer Aggregationsklausel darstellt. Darüber, ob eine Entscheidung, etwas zu tun, ein Ereignis sein kann, ist sich die englische Rechtsprechung nicht einig.
65 Umstritten scheint auch, ob Unterlassungen als Ereignisse in Betracht fallen.
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Sofern ein Geschehnis grundsätzlich als Ereignis in Betracht fällt, ist regelmässig zu klären, ob es sich dabei um ein einziges oder mehrere separate Ereignisse handelt. In der
Dawson’s Field Arbitration wurde diese Unsicherheit folgendermassen illustriert: „The crews of a submarine and of ships which are attacked and sunk in a convoy would no doubt regard each attack and sinking as a separate occurrence. An admiral at Naval Headquarters might regard the whole attack and its results as one occurrence; a historian almost certainly would.“
67 Ob ein Geschehnis als ein oder zwei Ereignisse anzusehen ist, ist nach englischem Verständnis auch in Bezug auf die Rückversicherung vom Blickwinkel des Versicherungsnehmers im Erstversicherungsverhältnis zu bestimmen.
68 In vielen Fällen dürfte die Frage, wie viele Ereignisse ein Geschehnis bilden, umstritten sein. Damit kann konstatiert werden, dass in Bezug auf das erste von Lord Justice Evans beschriebene Element eines ereignisbasierten Aggregationsmechanismus („
something that can properly be described as an event“) Rechts
unsicherheit herrscht.
Die Verwendung des Ereignisbegriffs als
unifying factor indiziert gewisse Kausalitätserfordernisse einer Schadenaggregation. Das relevante Ereignis muss für alle zu aggregierenden Einzelschäden kausal sein und darf in der Kausalkette von den Einzelschäden aus betrachtet nicht allzu weit zurückliegen.
69 Die Kausalitätsanforderungen eines Aggregationsmechanismus werden allerdings nicht alleine durch den
unifying factor, sondern zusätzlich durch den verwendeten
linking phrase geprägt. Auch der in ereignisbasierten Aggregationsklauseln regelmässig verwendete
linking phrase „
arising out of“ fordert einen eher starken Kausalzusammenhang zwischen dem relevanten Ereignis und den jeweiligen Einzelschäden.
70 Anzumerken ist, dass die Kausalitätserfordernisse durch
unifying factor und
linking phrase gemeinsam bestimmt werden und dass sich die beiden Klauselbestandteile mit Blick auf die Kausalitätserfordernisse eines Aggregationsmechanismus gegenseitig beeinflussen.
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Verbindet eine Aggregationsklausel den
unifying factor „
event“ und den
linking phrase „
arising out of“ kann das massgebliche Ereignis weiter zurückliegen als der „
proximate cause“ der Einzelschäden, d. h. die Verwirklichung der rückversicherten Gefahr.
72 Entsprechend muss das für die Schadenaggregation relevante Ereignis mit dem eigentlichen Schadenereignis, d. h. mit der Verwirklichung der versicherten Gefahr, nicht identisch sein. Trotzdem muss der Kausalzusammenhang zwischen dem Ereignis und den Einzelschäden aber relativ stark sein.
73 Nach Lord Justice Rix erfordere eine ereignisbasierte Aggregationsklausel
per definitionem einen starken Kausalzusammenhang.
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Letztlich besteht allerdings kein abstrahierbarer Massstab dafür, ob der Kausalzusammenhang zwischen einem Ereignis und einer Vielzahl von Einzelschäden für eine Aggregation stark genug ist. Der englische Court of Appeal hat daher festgestellt, dass das relevante Ereignis, dasjenige sei „which should be regarded as the cause of the [individual losses to be aggregated] so as to make it appropriate to regard these as constituting for the purposes of aggregation under this policy one loss“.
75 Mit anderen Worten soll geprüft werden, ob ein Ereignis für die Aggregation der Einzelschäden kausal genug ist, indem gefragt wird, ob eine Aggregation angebracht erscheint.
Diese Vorgehensweise erscheint unbefriedigend. Wenn man davon ausgeht, dass Einzelschäden nur aggregiert werden dürfen, wenn sie auf ein Ereignis zurückgehen, das kausal genug ist, so kann das erforderliche Mass an Kausalität nicht mit der Frage ermittelt werden, ob eine Aggregation im Einzelfall als angebracht erscheint. Denn andernfalls handelt es sich bei der Beurteilung, ob die vereinbarten Kausalitätserfordernisse im Einzelfall erfüllt sind, um reines Ermessen des Richters bzw. des Schiedsrichters.
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Letztlich kommt Lord Justice Rix in
Scott v Copenhagen Reinsurance Co (UK) Ltd auch auf dieses Ergebnis. In seiner Urteilsverkündigung erklärte er:
Are the losses to be aggregated all arising from one event? That question can only be answered by finding and considering all the relevant facts carefully, and then conducting an exercise of judgment. That exercise can be assisted by considering those facts not only globally and intuitively and by reference to the purpose of the clause, but also more analytically, or rather by reference to the various constituent elements of what makes up one single unifying event. It remains an
exercise of judgment, not a reformulation of the clause to be construed and applied.
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Das zweite Element eines ereignisbasierten Aggregationsmechanismus nach Lord Justice Evans, nämlich, dass zwischen dem relevanten Ereignis und den Einzelschäden Kausalzusammenhänge bestehen müssen, erscheint unproblematisch. Wie die vorangehenden Ausführungen aber zeigen, ist die für eine Schadenaggregation erforderliche Stärke der Kausalzusammenhänge und damit das dritte Element nach Lord Justice Evans unsicher.
5.2 Der „unities test“
Gerichte ziehen den sog. „
unities test“ heran, um diese schwierigen Ermessensfragen nicht nur intuitiv, sondern – wie Lord Justice Rix sagt – auch analytisch anzugehen.
78 Der
unities test wurde vom Schiedsgericht in der
Dawson’s Field Arbitration entwickelt, um die Frage zu klären, ob die Umstände einer Mehrzahl von Einzelschäden jenen Grad an Verbundenheit aufweisen, der eine Aggregation rechtfertigt. Konkret hat das Schiedsgericht den Kausalverlauf (
unity of cause), das örtliche (
unity of location) und zeitliche (
unity of time) Auftreten der Schadenumstände sowie die Absichten (
unity of intent) allfälliger Schädiger untersucht.
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Bei genauerem Hinsehen, ergeben sich im Zusammenhang mit dem
unities test allerdings zahlreiche Unklarheiten; insbesondere die Folgenden: grundsätzlich werden Einzelschäden aggregiert, wenn zwischen ihnen und einem Ereignis ein Kausalzusammenhang besteht.
80 Allerdings kommt nicht jedes für die Einzelschäden kausale Ereignis als Aggregationsereignis in Betracht. Vielmehr bedarf es zwischen dem Aggregationsereignis und jedem Einzelschaden Kausalzusammenhänge einer gewissen Stärke.
81 Das Konzept der „
unity of cause“ greift dieses Kausalitätserfordernis auf. In
Kuwait Airways Corp v Kuwait Insurance Co SAK scheint der englische Commercial Court befunden zu haben, dass mit der Frage, ob
unity of cause vorliegt, lediglich geprüft wird, ob zwischen einem Ereignis und den Einzelschäden überhaupt Kausalzusammenhänge bestehen.
82 Demgegenüber untersuchte das Schiedsgericht in
Aioi Nissay Dowa Insurance Co Ltd v Heraldglen Ltd mittels der Rechtsfigur der
unity of cause, ob die Kausalzusammenhänge zwischen einem Ereignis und den Einzelschäden die erforderliche Stärke aufwiesen.
83 Daraus ergibt sich eine Unsicherheit darüber, ob
unity of cause bereits vorliegt, wenn zwischen einem Ereignis und den Einzelschäden überhaupt Kausalzusammenhänge bestehen oder ob nur dann
unity of cause vorliegt, wenn diese Kausalzusammenhänge eine gewisse Stärke aufweisen.
Unter dem Gesichtspunkt der „
unity of location“ wird untersucht, ob sich die Schadensumstände durch eine gewisse örtliche Nähe auszeichnen.
84 Tun sie dies, so spricht dies dafür, dass eine Aggregation der Einzelschäden gerechtfertigt ist.
85 Allerdings erscheint die Rechtsprechung zur
unity of location zu einem gewissen Grade willkürlich: in
Mann v Lexington Insurance Co befand der englische Court of Appeal, dass die Beschädigungen von 22 Filialen einer Supermarktkette auf der indonesischen Insel Java im Rahmen von bürgerlichen Unruhen keine
unity of location aufgewiesen haben, weil sich die Filialen an verschiedenen Orten auf der Insel befunden hatten.
86 In
Midland Mainline Ltd v Eagle Star Insurance Co Ltd befand der englische Commercial Court, dass nach einem Zugunglück notfallbedingte Geschwindigkeitsbegrenzungen an verschiedenen Stellen auf dem englischen Schienennetz keine
unity of location aufgewiesen haben, weil die Begrenzungen für geografisch unterschiedliche Stellen im Netz ausgesprochen worden waren.
87 In
Aioi Nissay Dowa Insurance Co Ltd v Heraldglen Ltd befand ein Schiedsgericht sogar, dass die Zerstörung der Twin Towers am 11. September 2001 keine
untiy of location aufgewiesen hatte, obwohl die beiden Türme des World Trade Centers unterirdisch miteinander verbunden gewesen waren.
88 Demgegenüber befand das Schiedsgericht der
Dawson’s Field Arbitration, dass die Zerstörung dreier Flugzeuge auf einem Rollfeld im jordanischen Dawson’s Field
unity of location aufgewiesen hatte.
89 Bemerkenswert erscheint denn auch die gerichtliche Bestätigung des Schiedsspruches in
IRB Brasil Resseguros SA v CX Reinsurance Co Ltd, wonach die Installation von Isoliermaterial in verschiedenen Gebäuden in ganz England
unity of location aufgewiesen hatte.
90 Daraus ist ersichtlich, dass die Frage, ob im Einzelfall
unity of location vorliegt, völlig im Belieben des Entscheidungsträgers steht.
Weisen die Schadenumstände „
unity of time“ auf, so spricht dies dafür dass eine Aggregation der Einzelschäden angebracht ist.
91 Das Konzept der
unity of time vermag jedoch ebenfalls nicht, Rechtssicherheit zu schaffen. Denn es hat sich als extrem flexibel erwiesen. Eine Auswertung der Rechtsprechung dazu ergibt, dass Entscheidungsträger praktisch in jedem Fall Gründe für und gegen das Vorliegen von
unity of time nennen können.
92 In der
Dawson’s Field Arbitration befand das Schiedsgericht, die Zerstörung dreier entführter Flugzeuge weise
unity of time auf, weil die entsprechenden Explosionen in einer Zeitspanne von wenigen Minuten erfolgt waren.
93 Offenbar unerheblich war die Frage, zu welchem Zeitpunkt die Flugzeuge entführt und nach Dawson’s Field geflogen worden waren. Ein anderes Schiedsgericht vertrat demgegenüber die Meinung, die Anschläge auf den Nordturm bzw. den Südturm des World Trade Centers am 11. September 2001 wiesen keine
unity of time auf. Zu diesem Schluss kam es, weil es seiner Beurteilung den gesamten Zeitraum zwischen dem Check-in der Attentäter vor der Entführung der Flugzeuge und den Einschlägen der Maschinen in die Türme zugrunde gelegt hatte.
94 Dieser Vergleich zeigt, dass die Frage, ob
unity of time vorliegt, masseglich vom der Beurteilung zugrunde gelegten Zeitraum abhängt. Solange die Entscheidungsträger diesen Zeitraum beliebig bestimmen können, schafft das Kriterium der
unity of time keine Rechtssicherheit.
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Es erstaunt nicht, dass auch die Rechtsfigur der „
unity of intent“ ungeeignet ist, im Bereich der ereignisbasierten Schadenaggregation Rechts
unsicherheit auszuräumen. Nach der Vorstellung der Entwickler des
unities test spricht eine gemeinsame Absicht der Verursacher der Einzelschäden dafür, letztere zu aggregieren.
96 Allerdings geht aus der englischen Rechtsprechung nicht hervor, was die Verursacher genau beabsichtigen müssen, damit eine Aggregation der Einzelschäden in Frage kommt. Konkret stellt sich die Frage, ob diese Absichten auf die Verursachung der verschiedenen Einzelschäden gerichtet sein müssen oder ob es ausreicht, wenn sie auf eine Handlung gerichtet sind, aus der in der Folge – möglicherweise auch völlig unbeabsichtigt – eine Mehrzahl von Einzelschäden hervorgeht.
97 In
Kuwait Airways Corp v Kuwait Insurance Co SAK befand das Gericht, bei der Invasion von Kuwait durch den Irak und der Aneignung von 15 Flugzeugen durch irakische Militärs habe
unity of intent vorgelegen. Denn es sei Saddam Husseins Absicht gewesen, Kuwait Airways die Verfügungsgewalt über die Flugzeuge zu entziehen und sich den Wert derselben anzueignen. Seine Absicht war damit auf die Verursachung einer Mehrzahl von Einzelschäden gerichtet.
98 In der
Dawson’s Field Arbitration entschied das Schiedsgericht, es habe
unity of intent vorgelegen, weil die Absichten der Flugzeugentführer auf die Zerstörung aller drei Flugzeuge in Dawson’s Field gerichtet war.
99 In
Midland Mainline Ltd v Eagle Star Insurance Co Ltd entschied der englische Commercial Court, die Tatsache, dass aufgrund eines Unfalles an verschiedenen Stellen eines Eisenbahnnetzwerkes Geschwindigkeitsbegrenzungen angeordnet worden waren, würde eine
unity of intent begründen.
100 Unzweifelhaft wollte man mit der Anordnung dieser Geschwindigkeitsbeschränkungen weitere Unfälle vorbeugen und nicht, den Eisenbahngesellschaften Schäden verursachen.
101 Damit ist nicht ersichtlich, wie die Absichten der Schadenverursacher gelagert sein müssen, damit man von einer
unity of intent ausgehen kann.
Zudem haben nicht alle (Schieds‑)Gerichte, die eine Frage der ereignisbasierten Aggregation zu beurteilen hatten, den
unities test überhaupt angewandt.
102 In
MIC Simmonds v Gammell erklärte der englische Commercial Court sogar ausdrücklich, „[t]he ‚unities‘ are merely an aid in determining whether the circumstances of the losses involved such a degree of unity as to justify their being described as ‚arising out of one occurrence‘“.
103 Ergibt sich aus anderen Gründen, dass zwischen dem Ereignis und den Einzelschäden genügend starke Kausalzusammenhänge bestehen, muss der
unities test offenbar nicht durchgeführt werden.
104 In welchen Fällen eine analytische Herangehensweise an die Ausübung des Ermessen durch die Anwendung des
unities test zu erfolgen hat, bleibt damit aber unklar.
Der
unities test scheint nicht geeignet zu sein, die Rechts
unsicherheit in der ereignisbasierten Schadenaggregation zu verringern bzw. die Ermessensausübung der Entscheidungsträger zu objektivieren. Denn letztlich – so bestätigte das Schiedsgericht in
Aioi Nissay Dowa Insurance Co Ltd v Heraldglen Ltd – ist auch die Durchführung des
unities test eine Ermessensangelegenheit.
105
5.3 Fazit zur ereignisbasierten Schadenaggregation nach englischem Recht
Nach Lord Justice Evans besteht ein ereignisbasierter Aggregationsmechanismus aus drei Elementen. Die Beurteilung, ob etwas passiert ist, das man als Ereignis bezeichnen kann (erstes Element) birgt bereits erhebliche Rechtsunsicherheit. Denn darüber, welche Geschehnisse als Ereignisse im Sinne einer Aggregationsklausel anzusehen sind, herrscht keine Einigkeit. Ebenfalls unklar ist, ob ein Geschehnis im Einzelfall aus einer Aneinanderreihung mehrerer Ereignisse besteht oder selber ein einziges Ereignis darstellt.
Auch Lord Justice Evans drittes Element, nämlich dass die Kausalzusammenhänge zwischen einem Ereignis und den Einzelschäden eine gewisse Stärke
106 aufweisen müssen, stellt (Schieds‑)Gerichte immer wieder vor Probleme. Letzten Endes handelt es sich dabei um eine Ermessensfrage. Zur Strukturierung und einer gewissen Objektivierung ihrer Ermessensausübung wenden (Schieds‑)Gerichte regelmässig den
unities test an. Eine Analyse der Rechtsprechung zum
unities test zeigt jedoch, dass dieser selber zur Ermessensfrage verkommt und nicht geeignet ist, im Bereich der ereignisbasierten Schadenaggregation Rechtssicherheit zu schaffen.
Unter englischem Recht besteht im Bereich der ereignisbasierten Schadenaggregation damit erhebliche Rechtsunsicherheit; eine Rechtsunsicherheit, die der eingangs erwähnten, erheblichen Bedeutung der nichtproportionalen Rückversicherung nicht gerecht wird.