Theorie, Kritik, Praxis. Zur Soziologie der Intellektualität von M. Rainer Lepsius

Auszug

Klassische Intellektualität ist eine Wissensform, in der sich in spezifischer Weise moderne und traditionale Elemente des Denkens über die Gesellschaft verbinden. Genuin modern ist die Einsicht in die Gestaltbarkeit der sozialen Verhältnisse, traditional die Überzeugung, in der gesellschaftlichen Entwicklung sei die Realisierung objektiver Zwecke angelegt, diese Zwecke seien theoretisch erschließbar und praktisches Handeln ihnen einzuordnen. „Religiöse Virtuosen und Intellektuelle haben Interesse an einer schlüssigen Theodizee.“ (Lepsius 2005, S. 35) Die Überzeugung, über objektiv richtiges Wissen zu verfügen, dem Praxis unterzuordnen sei, begründete den Führungsanspruch von intellektuellen Eliten und ließ sie politische Machtpositionen suchen. Wo sich Intellektualität und Macht verbanden, entstanden Regime, die sich im Namen historischer Notwendigkeiten über die Interessen der Leute hinwegsetzten. Die Erfahrungen, die mit unterschiedlichen Versionen eines solchen Verständnisses des Verhältnisses von Denken und Politik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gemacht wurden, waren traumatisch. …