Skip to main content
Top

1980 | Book

Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen Recht und Politik

Author: Klaus Stern

Publisher: VS Verlag für Sozialwissenschaften

Book Series : Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften

insite
SEARCH

Table of Contents

Frontmatter
I. Ideengeschichtliche Grundlagen der Verfassungsgerichtsbarkeit
Zusammenfassung
„Aber die Rechtspflege tritt ganz aus ihrer Natur, wenn Staatsgewalt ihr Gegenstand werden soll, weil hiermit sie, die wesentlich nur ein Theil des Staates ist, über das Ganze gesetzt würde...“. Dieses Zitat Hegels aus seinem 1802 erschienenen Werk „Die Verfassung Deutschlands“ zeigt trefflich die prinzipiellen Einwände auf, mit denen sich die Verfassungsgerichtsbarkeit1 seit jeher auseinanderzusetzen hatte. In moderner Form findet solche Ablehnung der Verfassungsgerichtsbarkeit folgenden Ausdruck: Gerichten sei es wesensfremd, über die Rechtsgültigkeit von Gesetzen und Regierungsakten zu urteilen; denn darin läge eine Juridifizierung der Politik und eine Politisierung der Justiz, bei denen beide nichts zu gewinnen, wohl aber alles zu verlieren hätten2. In dieser Grundhaltung fanden sich berühmte Namen der Staatstheorie wie der Staatspraxis, die sonst durchaus verschiedenen Ideen nachhingen, zusammen.
Klaus Stern
II. Die Verfassungsgerichtsbarkeit — eine neue Dimension der Verfassungsstaatlichkeit
Zusammenfassung
Bereits diese kurzen Hinweise auf Motive und Entwicklungsgang lassen aufleuchten, wie sehr sich die Frage nach der Richtigkeit der Einsetzung und der Reichweite der Kontrollkompetenz der Verfassungsgerichtsbarkeit wie ein roter Faden durch diese Institution zieht. Die Antwort darauf ist immer zugleich auch eine Aussage über Bedeutung und Sanktion einer Verfassung. Insofern gilt die Feststellung des Schweizers W. Kägi: „Sage mir Deine Einstellung zur Verfassungsgerichtsbarkeit, und ich sage Dir, was für einen Verfassungsbegriff Du hast.“13 Sehe ich es nach einem über dreißigjährigen Bestand der Verfassungsgerichtsbarkeit in der Nachkriegszeit richtig, so ist diese Feststellung einer Ergänzung bedürftig: Die Existenz einer Verfassungsgerichtsbarkeit determiniert nicht nur den Verfassungscharakter, sondern sie ist mehr noch Ausdruck eines ganz bestimmten Staatsverständnisses und des Verhältnisses der staatlichen Institutionen zueinander und zum Bürger. Das Thema Verfassungsgerichtsbarkeit ist daher sowohl eine zentrale Frage des positiven Staatsrechts, zugleich aber auch ein fundamentaler Bestandteil einer neu zu konzipierenden Theorie des modernen Verfassungsstaates freiheitlich-demokratischer Prägung und seiner Wirkungsweise; denn durch ein Verfassungsgericht mit umfassender Zuständigkeit, also einer Einrichtung der rechtsprechenden Gewalt, wird Gerichtsbarkeit in einer Weise in den staatlichen Willensbildungsprozeß einbezogen wie nie zuvor in der deutschen Geschichte, was niemand deutlicher als einer der schärfsten Gegner der Verfassungsgerichtsbarkeit, C. Schmitt, erkannt hatte14. Die Dritte Gewalt ist wirkliche Staatsgewalt, pouvoir, gewordenes15.
Klaus Stern
III. Die Entscheidung des Parlamentarischen Rates für ein Verfassungsgericht als Hüter der Verfassung
Zusammenfassung
Die Entscheidung für ein Verfassungsgericht als Hüter der Verfassung ist im Parlamentarischen Rat bewußt getroffen worden. Sie war bereits im Entwurf des Herrenchiemseer Verfassungskonvents klar vorgezeichnet. Der Rechtspflegeausschuß des Parlamentarischen Rates war in dieser Grundsatzfrage einig; Diskussionen gab es lediglich in Detailfragen24. Dieser Feststellung bedarf es, um die mitunter gebrauchte Legende zu widerlegen, das Bundesverfassungsgericht habe durch eine ausgreifende Rechtsprechung seine weitreichende Kompetenz erst Schritt für Schritt usurpiert und sich nunmehr selbst, wie ein jüngstes Sondervotum meint, sogar zur „,Verfassungsgesetzgebungsinstanz‘ entwickelt“ und damit „zum (unkontrollierbaren),Herrn‘der Verfassung“25. Es besteht Anlaß daran zu erinnern, daß im Parlamentarischen Rat Vertreter aller Parteien die Institution eines Verfassungs-gerichtshofs als „Hüter der Verfassung“ mit Normenüberprüfungs-und Kompetenzabgrenzungsbefugnis verlangten26. Von niemandem angezweifelt fiel der Satz: „Entweder wird das Recht tatsächlich als die Grundlage der menschlichen Gesellschaft anerkannt und dann auch mit den notwendigen Garantien zu seiner Verwirklichung ausgestattet. Oder aber die politische Zweckmäßigkeit wird zum höchsten Prinzip erhoben, was dann wieder zu den gefährlichen Grunddogmen einer vergangenen Epoche hinführen würde, wonach eben Recht ist, was dem Volke oder der Regierung oder dem Staate nutzt.“27 Dieses Bekenntnis ist Ausdruck der verfassungsgebenden Gewalt des Volkes. An diese zu erinnern, hielt das Bundesverfassungsgericht im Kalkar-Beschluß für angebracht28. Dessen Entscheidung sollte gerade von denen respektiert werden, die immer wieder einen der pouvoirs constitués, meist das Parlament, mit seiner angeblich unbeschränkten und unbeschränkbaren Souveränität gegen das Verfassungsgericht ins Feld führen. Die Bedeutung dieser verfassungsrechtlichen Fundamentalentscheidung möchte ich nun nach einigen, in der aktuellen Diskussion immer wieder erörterten Richtungen hin verfolgen.
Klaus Stern
IV. Der Autoritätsverlust von Parlament und Regierung
Zusammenfassung
Die Antwort auf solch breit gefächerte Problemstellung darf nicht ohne eine gleichsam am Gegenpol ansetzende Erkenntnis gegeben werden. Parlament und Regierung sind in der Rückschau der Nachkriegsperiode nicht ohne Autoritätsverlust geblieben. Er ist in den 70er Jahren spürbarer geworden. Bürgerinitiativen, neue politische Gruppierungen neben den etablierten Parteien sowie der Ruf nach Volksbegehren und Volksentscheid sind nur die lautesten Signale für die Legitimitätszweifel am parlamentarischen Regierungssystem und seiner wichtigsten Äußerungsform, dem förmlichen Gesetz. Die Redimensionierung der Gesetzesflut ist heute als ein Problem von Rang erkannt worden. Diese Aufgabe bedingt einerseits vor jeder Initiative die Prüfung, ob wirklich ein Gesetz notwendig ist und andererseits im Gesetzgebungsverfahren eine sorgfältige Prüfung jeder einzelnen Vorschrift nach Erforderlichkeit, Klarheit und Präzision im Ausdruck. Qualitätsmängel unserer Legislative sind mittlerweile evident97. Verfassungsgerichte müssen hier leider und notgedrungen eine nicht erbetene Besserungsfunktion wahrnehmen. Noch stärker kommt es aber darauf an, das parlamentarische System, das im Kern die bei weitem beste Regierungsform eines freiheitlichen Rechtsstaates ist, zu kräftigen. Diese Kräftigung könnte und sollte aus sich selbst erfolgen. Dies verlangt unseren politischen Parteien notwendige Regenerationsakte ab. Um es auf eine gewiß vereinfachende, aber doch von weiten Teilen der Bevölkerung artikulierte Formel zu bringen: Weniger Beschäftigung mit sich, sondern mehr Gedanken an das Gemeinwohl.
Klaus Stern
Backmatter
Metadata
Title
Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen Recht und Politik
Author
Klaus Stern
Copyright Year
1980
Publisher
VS Verlag für Sozialwissenschaften
Electronic ISBN
978-3-322-88226-4
Print ISBN
978-3-531-07243-2
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-322-88226-4