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29-04-2024 | Verwaltungsmanagement | Gastbeitrag | Article

Der 7. Oktober 2023 und seine Folgen

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Verfasst von: Professor Dr. Lars Dittrich, Professur für Staat und Verfassung, Hessische Hochschule für öffentliches Management und Sicherheit (HöMS), Dr. Eliane Ettmüller, Forschungsstelle Extremismusresilienz, HöMS, Swen Eigenbrodt, Leiter des Referats Prävention im Landespolizeipräsidium Hessen, Florian Hoffmann, Fachlehrer Recht, HöMS, Anika Schleinzer, Phänomenbereichsübergreifende wissenschaftliche Analysestelle Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit (PAAF), Landesamt für Verfassungsschutz Hessen

Nach den terroristischen Anschlägen auf Israel kam es in Deutschland zu Kundgebungen. Diese Serie gibt Hinweise zu den Hintergründen und zu den Versammlungslagen. Teil 4, der letzte Teil, beschäftigt sich mit der Frage, was rechtlich beim polizeilichen Umgang mit entsprechenden Versammlungen zu beachten ist.

Trotz aller politischen und sicherheitsbehördlichen Brisanz der propalästinensischen Demonstrationen bewegt sich ihre versammlungsrechtliche Behandlung in den etablierten Bahnen des jeweils geltenden Versammlungsgesetzes. Für das Land Hessen ergibt sich die Besonderheit, dass durch das am 4. April 2023 in Kraft getretene Hessische Versammlungsfreiheitsgesetz (HVersFG) das bis dahin geltende (Bundes-)Versammlungsgesetz (VersG) ersetzt wurde und sich die Versammlungsbehörden, die Polizei und die Gerichte des Landes mit einer scheinbar neuen Rechtslage konfrontiert sehen. Dies stellt einen Wechsel der Ermächtigungsgrundlagen dar, der für die handelnden Stellen zunächst auch immer Unsicherheiten mit sich bringt.

Allerdings war es erklärtes Ziel des Gesetzgebers, durch das neue Gesetz die friedliche Demonstrationskultur in Hessen zu fördern und alle versammlungsrechtlichen Fragestellungen gebündelt, eindeutig und abschließend unter weitgehender Fortschreibung der bisherigen Rechtslage zu regeln. Folgerichtig macht es das HVersFG dem Rechtsanwender insofern leicht, als es im Wesentlichen die über Jahrzehnte vom Bundesverfassungsgericht entwickelte Rechtsprechung umsetzt und zudem mehr oder weniger streitige Rechtsbegriffe legal definiert, was mögliche Unsicherheiten in der Anfangszeit schnell verfliegen ließ. Beispielsweise klärt § 10 HVersFG das Verhältnis des Versammlungsrechts zum allgemeinen Polizeirecht. Er bestätigt in einem Rechtsgrundverweis den Grundsatz der „Polizeifestigkeit der Versammlung“. Für Maßnahmen gegenüber der Gesamtversammlung gelten also ausschließlich die Regeln des HVersFG. Für Maßnahmen gegen einzelne Teilnehmende an der Versammlung gilt primär das HVersFG. Das Hessische Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung (HSOG) ist für sie allerdings subsidiär anwendbar. Für Maßnahmen gegen Dritte gilt nur das HSOG.

Verhältnismäßigkeit wahren

Im Kontext der hier in Rede stehenden Problematik ist insoweit insbesondere auf den im Versammlungsrecht besonders wichtigen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit hinzuweisen. Bei entsprechenden Eingriffen in die Versammlungsfreiheit ist also darauf zu achten, dass diese nicht außer Verhältnis zum mit der jeweiligen Maßnahme verfolgten Zweck, dem Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, stehen. Während auf der einen Seite dieser Abwägung das verfassungsrechtlich verbriefte Versammlungsrecht streitet, sind in der anderen Waagschale die im jeweiligen Fall aufgrund konkreter Tatsachen hinreichend wahrscheinlich zu prognostizierenden Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu berücksichtigen und nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts versammlungsfreundlich zu wägen. Das Gewicht letzterer steigt mit jenem des bedrohten Rechtsgutes, dem Umfang der drohenden Schädigung und der Anzahl der bedrohten Personen.

Das zeigt sich eindringlich an den in der Praxis besonders relevanten Maßnahmen der Auflösung oder des Verbotes einer Versammlung unter freiem Himmel. Sie sind nur dann möglich, wenn eine tatsachengestützte Prognose den Eintritt einer unmittelbaren Gefährdung der öffentlichen Sicherheit erwarten lässt. Einschränkungen einer Versammlung sind hingegen „schon“ bei der tatsachengestützten Prognose einer unmittelbaren Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung zulässig.

Rechtliche Abwägung mit Rücksicht auf weitere polizeiliche Erwägungen

Das Recht öffnet dabei indes nur einen Raum des versammlungsbehördlichen und polizeilichen Könnens und Dürfens, bleibt – von Ausnahmesituationen abgesehen – dabei aber gleichwohl offen für sonstige polizeiliche Erwägungen, etwa zur konkreten Lage und dem Kräftemanagement. Der Polizei obliegt es damit auch, in den Grenzen des Rechts, abzuwägen, ob im konkreten Einzelfall – wie meistens – der Schwerpunkt auf dem bestmöglichen Schutz der Versammlung liegt oder darauf, mögliche Straftaten zu verhindern, wobei es im hier relevanten Kontext häufig bereits besondere Schwierigkeiten aufwirft, entsprechende Handlungen angesichts der sich sehr dynamisch entwickelnden Entstehung und Entwicklung von Symboliken und Parolen überhaupt festzustellen.

Angesichts dieser Vielzahl von Parametern lassen sich unmöglich auch nur annähernd konkretere juristische Vorgaben für das polizeiliche und versammlungsbehördliche Handeln formulieren. Hingewiesen sei stattdessen nur auf einige bereits vorliegende positivrechtliche und gerichtliche Einschätzungen zu bestimmten Versammlungslagen oder Verhaltensweisen im Zusammenhang mit entsprechenden Versammlungen. Sie sind für Polizei und Versammlungsbehörden deshalb hinreichend belastbare Referenzpunkte ihrer Entscheidungen, weil diese primär nicht über die Strafbarkeit entsprechenden Verhaltens entscheiden müssen, sondern darüber, ob ein hinreichender Anfangsverdacht für die Begehung einer Straftat vorliegt, der entweder polizeiliche Maßnahmen zur Vorbereitung der strafrechtlichen Verfolgung und Ahndung oder Maßnahmen der Gefahrenabwehr rechtfertigt.

Anfangsverdacht und drohende Gefahr

Soweit einzelne Organisationen in vorangegangenen Teilen dieser Serie als „verboten“ klassifiziert wurden, ergibt sich dieser Anfangsverdacht für das Verbreiten oder öffentliche Verwenden von Kennzeichen wie Fahnen, Abzeichen, Uniformstücke, Parolen und Grußformen solcher Organisationen, welche die EU auf ihrer „Terrorliste“, dem Anhang der Durchführungsverordnung (EU) 2021/138 vom 5. Februar 2021, führt, aus § 86a Abs. 1 Nr. 1 Strafgesetzbuch (StGB) in Verbindung mit § 86 Abs. 2 StGB. Dort finden sich etwa die Popular Front for the Liberation of Palestine (PFLP), die Hamas und der militärische Arm der Hizb Allah. Das Verbreiten von Propagandamitteln national verbotener Organisationen ist nach § 86 Abs. 1 StGB strafbar.

Neben diesen positiv-rechtlich eindeutigen Fällen haben die Verwaltungsgerichte in einigen Äußerungen aus dem Kreis der Versammlungsteilnehmerinnen und -teilnehmer drohende Gefahren für die öffentliche Sicherheit gesehen, etwa in dem Slogan „From the river to the sea, Palestine will be free“ und seinen Abwandlungen, bei dem der Anfangsverdacht für die Begehung einer Straftat bejaht wurde. Selbiges gilt für öffentliche Aufforderungen zu Straftaten, § 111 StGB, wie „Bombadiert Tel Aviv“ und volksverhetzende Äußerungen wie „Tod den Juden“ sowie Bezugnahmen auf die Ritualmordlegende wie „Israel Kindermörder“ oder „Juden gleich Kindermörder“. An Letzteren offenbart sich besonders prägnant die Kontextabhängigkeit der juristischen Bewertung entsprechender Aussagen und Verhaltensweisen, denn es geht dabei – über den reinen Wortlaut hinaus – nicht um die Kritik an möglichen Opfern einer israelischen Militärintervention, sondern um die Verbreitung möglicherweise strafbaren antisemitischen Gedankengutes.

Wann Interventionen nicht gerechtfertigt sind

Vorbehaltlich eines entsprechenden anderslautenden Gesamtkontextes sind polizeiliche Interventionen dagegen nicht gerechtfertigt, wenn es bei den Äußerungen und Gesten allein um die Lobpreisung eines – wenn auch nicht christlichen – Gottes geht oder (nur) legitime Kritik am Vorgehen Israels geübt wird, die dann auch scharf formuliert sein darf. Ebenso wenig vermögen, vorbehaltlich eines anderslautenden Kontextes, reine Solidaritätsbekundungen mit Palästina (versammlungs-)polizeiliche Eingriffe zu rechtfertigen, etwa das Tragen eines „Palästinensertuches“ oder das Schwenken der Flagge Palästinas. Soweit auf Versammlungen Flaggen verbrannt werden, kennt das Strafgesetzbuch mit §§ 90a (BRD), 90 (EU) und 104 StGB (ausländische Staaten) klare Verbote. Davon nicht erfasst ist indes die Flagge Palästinas, weil Palästina kein Staat ist. Das berührt indes nur die Strafbarkeit entsprechender Handlungen, je nach den Umständen des Einzelfalles bleibt ein gefahrenabwehrrechtliches Einschreiten dagegen gegebenenfalls gleichwohl möglich.

Fazit

Die historischen und politischen Ursprünge des so genannten Nahostkonflikts sind komplex. Er behandelt hoch emotionale Themen von Religion, Heimat und – nicht zuletzt durch die tausenden Todesopfer der vergangenen Jahrzehnte – Familie. Entsprechend weitreichend und vielschichtig sind auch die Auswirkungen des Konfliktgeschehens. Sie beschränken sich mitnichten auf den Nahen Osten, sondern beeinflussen auch die Sicherheitslage in der Bundesrepublik Deutschland nachhaltig. Gerade in einer solchen Situation ist es ein hohes Gut, sowohl über gefestigte rechtliche Maßstäbe zu verfügen, um daraus resultierenden Problemlagen Herr werden zu können, als auch über Sicherheitsbehörden, die ihr Handeln nicht an politischen Ansichten ausrichten, sondern an eben diesen rechtstaatlichen Kriterien. Sie tragen so als neutrale Stellen entscheidend dazu bei, die Emotionalität des Konfliktgeschehens abzufedern, und ermöglichen die Freiheit und Sicherheit aller Beteiligten.

Teil 3: Extremistischer Einfluss auf das Protestgeschehen

Teil 2: Hintergründe des Konflikts

Teil 1: Der 7. Oktober und seine Folgen


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