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2012 | Book

Viele Welten

Hugh Everett III - ein Familiendrama zwischen kaltem Krieg und Quantenphysik

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About this book

Peter Byrne erzählt die Lebensgeschichte von Hugh Everett III (1930-1982), dessen „viele Welten“ Theorie der multiplen Universen die Physik und Philosophie entscheidend beeinflusst hat. Anschaulich und für das breite Publikum zugänglich entwirft Byrne ein detailliertes Porträt des Genies, das eine erstaunliche Methode erfand, unser komplexes Universum von Innen zu beschreiben. Byrne verwendet hierbei bisher unveröffentlichte Schriften von Everett (die kürzlich im Keller seines Sohn entdeckt wurden) und zahlreiche Interviews mit Freunden, Arbeitskollegen und noch lebenden Familienmitgliedern. Everetts mathematisches Model („Universal Wave Function“) beschreibt alle denkbaren Ereignisse als „gleichwertig real“ und folgert, dass endlose Kopien jedes Menschen und Gegenstandes in allen nur denkbaren Strukturen existieren, die sich über endlose Universen erstrecken: viele Welten. Everett, gezeichnet von Depressionen und Sucht, strebte danach, eine rational Ordnung in jene Wissenschaftsbereiche zu bringen, in denen ihm historisch bedeutende Rollen zukamen. Neben seiner berühmten Interpretation der Quantenmechanik verfasste Everett eine klassische Arbeit zur Spieltheorie. Zudem entwickelte er Computeralgorithmen, die die Forschung im Bereich der Militäreinsätze revolutionierten, und leistete Pionierarbeit auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz für streng geheime Regierungsprojekte. Ferner schrieb Everett die Grundsoftware zur Anzielung von Städten in einem Nuklearkrieg und er gehörte zu den ersten Wissenschaftlern, die die Gefahr des nuklearen Winters erkannten. Als Kalter Krieger entwickelte er logische Systeme, die die „rationalen“ Verhaltensweisen von Mensch und Maschine darstellten, und war sich dennoch weitestgehend nicht des emotionalen Schadens bewusst, den sein eigenes irrationales Verhalten seiner Familie und seinen Geschäftspartnern zufügte. Everett starb sehr früh, hinterließ jedoch ein faszinierendes Lebenszeugnis, einschließlich des Schriftverkehrs mit solch philosophisch geprägten Physikern wie Niels Bohr, Norbert Wiener und John Wheeler. Diese außergewöhnlichen Briefe werfen Licht auf Everetts langwierige und oftmals schmerzliche Anstrengungen, das Messproblem im Herzen der Quantenphysik zu erklären. In den letzten Jahren gewann Everetts Lösung für dieses mysteriöse Problem – die Existenz eines Universums von Universen – beachtlichen Zuspruch in Wissenschaftskreisen, nicht als Science Fiction, aber als Erklärung der physikalischen Realität.

Table of Contents

Frontmatter

Anfänge,Einleitung

1. Familiäre Wurzeln: eine Skizze

In dieser Welt wurde Hugh Everett III am 11. November 1930 in der amerikanischen Hauptstadt Washington, DC geboren. Sein Geburtstag war der nationale Feiertag zum Gedenken des Waffenstillstands, mit dem die Kriegsmächte des ersten Weltkriegs einen unsicheren Frieden besiegelten. Ganz Amerika feierte den Tag mit Paraden und Fahnenschwenken und patriotischen Ansprachen. Am Tag von Everetts Geburt veröffentlichte Albert Einstein im

Berliner Tageblatt

seine Gedanken zu

Religion und Naturwissenschaft

. Der Begründer der Relativitäts- und Quantentheorie spielte an mehreren entscheidenden Momenten in Everetts Leben eine Rolle; an diesem Tag konnte man lesen, ein Forscher sei von einer „kosmischen Religiosität“ und von der „kausalen Gesetzmäßigkeit allen Geschehens durchdrungen.

Peter Byrne
2. Die Jugend des Wissenschaftlers

Als Everett heranwuchs, herrschte in seiner Heimatstadt Bethesda strenge Rassentrennung. Für die Kinder der überwiegend gut situierten und gebildeten „weißen“ Familien gab es viele Parks und Spielplätze, Everett jedoch begeisterte sich als Kind weder für Ausflüge in die Natur noch für Sport. Er las viel Sciencefiction, mochte mechanisches Spielzeug und führte gern Ältere an der Nase herum.

Peter Byrne
3. Stranger in Paradise

Nancy Gordon Gore wurde am 13. Februar 1930 in Amherst, Massachusetts geboren. Ihre Eltern waren Jane Pollard Gore und Harold „Kid“ Gore, der den Studentensport der Universität von Massachusetts in Amherst organisierte. Das Ehepaar betrieb auf einem riesigen Seegrundstück ein Ferienlager für Kinder, Najerog („Gore Jan“ von hinten gelesen). Die etwas verschlossene und politisch konservative Familie lebte gern in der unberührten Natur.

Nancy besuchte private Mädchenschulen und verbrachte ihre Sommer in der Idylle des Landlebens mit Reiten, Schwimmen, Bootfahren, Wandern und Singen am Lagerfeuer. Auch als Erwachsene liebte sie die Natur, unternahm lange Wanderungen, beobachtete Vögel und arbeitete gern im Garten.

Peter Byrne

Spiel-Welt

Frontmatter
4. Entscheidungen – Spieltheorie

Everett kam in seinem Buick (mit Automatik, zu jener Zeit der reine Luxus) kurz vor Beginn des Semesters in Princeton an. Er war ein ansehnlicher junger Mann, groß und schlank, etwa 70 kg schwer, mit grauen Augen und rot-braunem Haar, das, nach hinten gekämmt, einen Ansatz von Geheimratsecken zeigte. Im Graduate College, dem Wohnheim der Doktoranden und der Atmosphäre eines englischen Clubs, teilte er Bad und Wohnraum (mit Kamin!) mit einem britischen Kommilitonen; das Untergeschoss barg eine Kegelbahn, Tischtennis- und Fernsehräume und eine Eis-Maschine.

Peter Byrne
5. Der Ursprung von MAD

Als der kalte Krieg heftiger wurde, stellte sich ein „Gleichgewicht des Schreckens“ ein. Man sprach vom

Atompatt

oder MAD, (Mutual assured destruction) und meinte damit, dass ein Krieg mit atomaren Waffen die gegenseitige Vernichtung gewährleistete. Als Spiel gesehen ist MAD eine Definition für den Kalten Krieg; dieses Spiel garantierte Everett eine Karriere in der Organisationsforschung Bei einem Nullsummenspiel beruht die Gewinnstrategie eines rationalen Spielers darauf, den Gegenspieler zu besiegen und gleichzeitig das Risiko, besiegt zu werden, möglichst gering zu halten. Wenn man nicht gewinnen kann, besteht die optimale Strategie darin, eine Niederlage zu vermeiden, indem man ein Unentschieden erzwingt. Risikovermeidung umgeht Entscheidungen, und die Spieltheorie bemüht sich, Risiken zu quantifizieren.

Peter Byrne

Quanten-Welt

Frontmatter
6. Quanten-Everett

Im ersten Semester seines zweiten Studienjahres in Princeton belegte Everett nur die Vorlesung Eugene Wigners über die Methoden der mathematischen Physik: Vektoranalysis, Fourier-Reihen und Matrizenalgebra.

Wigner und von Neumann waren seit ihrer Studentenzeit in Ungarn gute Freunde und Kollegen. Beide hatten für das Manhattan-Projekt gearbeitet, und beide setzten sich für eine aggressive Außenpolitik der USA ein. Wigner, der sich intensiver mit den Grundlagenfragen der Quantenmechanik beschäftigte als sein Freund, stellte das Postulat vom „Wellenkollaps“ in Frage, das von Neumann aufgestellt hatte, und das von Niels Bohr vertretene „Komplementaritätsprinzip“ befriedigte ihn wenig.

Peter Byrne
7. Das Messproblem

In einem berühmten Experiment wies der Physiker Thomas Young 1807 den Wellencharakter des Lichts nach, indem er Licht durch zwei eng benachbarte kleine Löcher einer Platte auf einen Schirm strahlte, auf dem sich ein „Interferenzmuster“ heller und dunkler Linien bildete. Das lässt sich durch die Annahme erklären, dass Licht Wellencharakter hat und nicht, wie Isaac Newton behauptet hatte, aus kleinen Teilchen, sogenannten Korpuskeln besteht.

Die hellen Linien entstehen, weil sich die Berge und Täler der beiden Wellen, die durch die Löcher laufen, überlagern und verstärken, wie die Wellen, die zwei ins Wasser geworfene Steine erzeugen. Die dunklen Linien bilden sich dort, wo die Täler der einen Welle mit den Bergen der anderen zusammentreffen und zeigen sich als Schatten zwischen helleren Gebieten, in denen die aufeinander treffenden Wellenberge helle Linien zeichnen.

Peter Byrne
8. Die Philosophie der Quantenmechanik

In der Mitte des 20. Jahrhunderts beschäftigten sich die amerikanischen Physiker nur wenig mit den philosophischen Fragen der Quantenmechanik. Oppenheimer, Wiener, Linus Pauling, John van Vleck, E. U. Condon – damals führende Physiker der USA –hielten von Neumanns „orthodoxes“ Postulat vom Kollaps der Wellenfunktion für eine zwar geheimnisvolle, aber pragmatisch akzeptable Möglichkeit, die Ergebnisse der Experimente zu erklären. Wenn sie überhaupt nach einer Interpretation suchten, zogen sie gewöhnlich die Kopenhagener Deutung mit ihrer „Frag nichts, sag nichts“-Einstellung vor, denn sie ließ den freien Willen intakt, und das war ein Vorzug.

Peter Byrne

Everett und Wheeler

Frontmatter
9. Wheeler – Radikal und Konservativ

John Archibald Wheeler wurde 1911 in eine Familie von Bibliothekaren hineingeboren. Er lebte fast 97 Jahre lang als erfolgreicher Physiker auf den Gebieten der Kern- und Teilchenphysik, der Allgemeinen Relativitätstheorie und der Quantenphysik, und er war hochgeschätzt als akademischer Lehrer, als Vortragender und als Verfasser von Fachbüchern und von vielen Aufsätzen zu Fragen über den Zusammenhang von Wissenschaft und Moral. Er arbeitete auch mit Begeisterung an der Entwicklung von Nuklearwaffen. Die

The New York Times

erwähnt in ihrem Nachruf für Wheeler nicht nur diese Leistungen, sondern nennt auch seine zwei berühmtesten Schüler (die beide vor ihm starben), nämlich den sein Leben lang vielgeliebten und vielgerühmten Nobelpreisträger Richard Feynman, und Hugh Everett III, dessen Tod relativ weing beachtet wurde.

Peter Byrne
10. Die Genesis der Vielen Welten

Als Ivy Mike explodiert war, sich also die ersten Wasserstoffbomben bewährten, kehrte Wheeler zu seinen Pflichten als Professor in Princeton zurück. Im Rahmen seiner Vorlesung über Allgemeine Relativitätstheorie stattete er Einstein in seinem Privathaus in Mercer Street gemeinsam mit acht seiner Studenten einen Besuch ab, bei dem der große Mann Gedanken über „alles, vom Wesen der Elektrizität und der vereinheitlichten Feldtheorie bis zum expandierenden Universum und seiner Einstellung zur Quantentheorie“ äußerte.

Peter Byrne
11. Allein im Raum

Im Herbst 1954 saß Everett am Schreibtisch seines Arbeitszimmers im Graduate College, vor sich angespitzte Bleistifte, einen Schreibblock und einen Leitfaden für das Verfassen einer Doktorarbeit. Den hatte Wheeler ihm gegeben, und er enthielt gute Ratschläge: „Bei der Darstellung sollten Sie das Thema im Blick haben. Bei der Darstellung sollten Sie an den Leser denken … Die Aussagen sollten im allgemeinen zurückhaltend formuliert werden, die Stärke der Darstellung sollte eher auf Tatsachen und ihrer logischen Begründung beruhen als auf starken persönlichen Überzeugungen.“ Wheeler selbst formulierte seine Aussagen in seinen eigenen Arbeiten gern provozierend, bei seinen Studenten schätzte er vorsichtige Äußerungen; das war Everetts Sache nicht.

Peter Byrne
12. Eine Reise durch Viele Welten

Nachdem wir jetzt die Hauptgedanken der Viele-Welten-Deutung kennen, machen wir uns auf eine Erkundungsreise durch die „lange Thesis“. Ohne jede Mathematik und in einer Sprache, die keine Spezialkenntnisse voraussetzt, vollziehen wir nach, wie Everett seinen Hauptgedanken begründete, und wir schauen uns an, wie Wiener, von Neumann, Shannon, Schrödinger, Einstein, Bohr, Bohm und andere die Entwicklung der Theorie beeinflussten. Schließlich gelangen wir dorthin, wo vor uns noch niemand war, und nutzen handschriftliche Entwürfe, Notizen und Berechnungen, um Everetts Gedanken zu erläutern.

Peter Byrne
13. Der Kampf mit Kopenhagen, Teil I

Wheeler war zunächst ein Verfechter von Everetts Theorie. Die Veröffentlichung der Dissertation in der Fachzeitschrift

Reviews of Modern Physics

erschien zusammen mit der begeisterten Würdigung durch den Doktorvater, in der Wheeler schrieb:

Es lässt sich nur schwer verständlich machen, wie entschieden der Gedanke des „Relativzustands“ klassische Begriffe hinter sich lässt. Man kann die anfängliche Unzufriedenheit mit diesem Schritt an einigen Beispielen aus der Geschichte nachvollziehen: So etwa, als Newton die Schwerkraft als etwas so Absonderliches wie eine Fernwirkung beschrieb; als Maxwell alles, was sich ganz natürlich als Fernwirkung verstehen lässt, durch etwas so Unnatürliches wie eine Feldtheorie erklärte; als Einstein allen Koordinatensystemen absprach, eines von ihnen sei bevorzugt und es damit zunächst so aussah, als ob das Fundament der physikalischen Messung einstürze.

Peter Byrne
14. Der Kampf mit Kopenhagen, Teil II

Im Sommer 1956 begann Everett seine Arbeit bei der streng geheimen WSEG am Pentagon, wo es um die Evaluation von Waffensystemen ging. Nancy Gore wurde schwanger, sie heirateten. Bald nach der Konferenz in Chapel Hill (an der Everett nicht teilnahm), machten er und Wheeler sich an die Arbeit, die Dissertation zu bearbeiten und zu kondensieren, um sie „unanfechtbar“ zu machen.

Im März erhielten etwa zwanzig prominente Physiker, darunter Bohr, Schrödinger, Oppenheimer, Rosenfeld und Wiener, Vorabdrucke der gekürzten Fassung und der anerkennenden Begleitworte Wheelers. Einige Wochen später schrieb Bohr an Wheeler, er habe noch keine Zeit gefunden, etwas zu den Arbeiten zu schreiben.

Peter Byrne
15. Die Sache mit Chapel Hill

Im Januar 1957 stand die Arbeit der Relativitätstheoretiker um Wheeler im Mittelpunkt einer Konferenz zur Quantisierung der Gravitation, die an der University of North Carolina in Chapel Hill stattfand. Bei dieser Konferenz musste Everetts Arbeit erstmals öffentlich Prügel einstecken – von keinem geringeren zudem als Feynman. Aber bevor wir zu dieser Konferenz kommen, fragen wir, was Wheeler an Everetts Theory so sehr faszinierte, dass er bereit war, Bohrs Missfallen in Kauf zu nehmen. Es ging um die Quantengravitation.

Einstein hatte schon 1918, kurz nach dem er die Allgemeine Relativitätstheorie aufgestellt hatte, geschrieben, die „höchste Aufgabe der Physiker [sei] das Aufsuchen jener allgemeinsten elementaren Gesetze, aus denen durch reine Deduktion das Weltbild zu gewinnen ist“.

Peter Byrne

Mögliche zukünftige Welten

16. Vorbereitungen für den dritten Weltkrieg

Nach dem Studium wollte sich Everett wissenschaftlich bei WSEG (Weapons Systems Evaluation Group) mit der Kosten-Nutzenanalyse von Waffensystem beschäftigen. Man bot ihm das hohe Gehalt von $8 520 Dollar im Jahr, machte aber den Abschluss der Promotion zur Voraussetzung, den Everett eigentlich schon für den Frühling 1956 geplant hatte, Wheeler jedoch verzögerte das, als er die Arbeit erst nach einer Umarbeitung akzeptieren wollte. Sowieso drängte Wheeler ihn, nicht in der Wirtschaft Karriere zu machen, sondern „auf eine erstklassige akademische Stellung hinzuarbeiten.“ Er schrieb ihm: „Sie haben viele eigene und wichtige Beiträge zu machen, und ich denke, Sie sollten sich davon nicht abbringen lassen.“ Princeton bot Everett eine Dozentur an, aber er lehnte sie ab, weil ihn die Arbeit an der Universität nicht ansprach.

Peter Byrne
17. Niederschläge

Als der Atomphysiker George Edgin Pugh 1950 am MIT seinen Doktor gemacht hatte, bot WSEG ihm ein hohes Gehalt und aufregende Aufgaben an. Gleich am ersten Tag schon teilte man ihn Everett zu, mit dem er sich beim Mittagessen in einem Speisesaal des Pentagons sofort gut verstand. Sie blieben 15 Jahre lang Freunde und Kollegen.

Die Neulinge erhielten die Aufgabe, im Rahmen eines laufenden WSEG-Projekts zu analysieren, wie sich radioaktiver Niederschlag bei einem amerikanischen Angriff auf die UdSSR auswirken würde. Im Rahmen des Projekts beschäftigten sich zwei Dutzend Spezialisten für die Gebiete Kernphysik, physikalische Chemie, Biochemie und Meteorologie mit dieser Problematik und erarbeiteten mit Hilfe von Rechenmaschinen mühevoll Graphiken, die darstellten, wie die Gesamtmenge der über „Oblast“-Gebieten freigesetzten Megatonnen des radioaktiven Niederschlags in Abhängigkeit von den jeweiligen Wetterbedingungen mit der Todesrate zusammenhängt.

Peter Byrne

Wegkreuzungen

Frontmatter
18. Kalter Krieg in Kopenhagen

Im Kalender der Eheleute Everett für 1957 gehörte der Monat Juli rot angestrichen. Sie zogen in ihr vor kurzem gekauftes kleines Haus in Alexandria, die Arbeit zur Theorie der Relativzustände erschien in

Reviews of Modern Physics

und der Aufsatz rekursiven Spielen in

Annals of Mathematics Studies

. Tochter Elizabeth Ann kam zur Welt. Everett war bezaubert von der kleinen Liz, aber er wollte Karriere machen und seine Freizeit genießen und überließ Nancy die Sorge für das Kind. Wenn sie Kinder haben wollte, was das ihre Sache – schließlich war das Buch von Dr. Spock ein bewährter Erziehungsratgeber.

Peter Byrne

Garantierte Vernichtung

Frontmatter
19. Everett und Report 50

In den Monaten vor der Präsidentschaftswahl 1960 warfen die Demokraten Eisenhower vor, er sei nicht darauf vorbereitet, einen Atomkrieg zu führen und zu gewinnen. Unter dem Druck der öffentlichen Meinung und in Anbetracht der Tatsache, dass ein Vergeltungsschlag im Zeitalter atomarer Unterseeboote und ballistischer Raketen keine taugliche Strategie darstellt, beauftragten die Generalstabchefs WSEG mit einer Untersuchung der Angriffskapazitäten. Im September 1959 erhielten 30 Mitarbeiter, darunter Everett, die Anweisung, im folgenden Jahr eine Bewertung der strategischen Angriffswaffen vorzunehmen und als

WSEG Report 50

vorzulegen. Von diesem lange hinter Schloss und Riegel gehaltenen Bericht sind der Öffentlichkeit jetzt redigierte Teile zugänglich.

Peter Byrne
20. Everett und SIOP

Im November 1958 lernte Präsident Eisenhower den Plan der Luftwaffe kennen, alle ihre Bomber in der Minute auf einen Schlag auf alle großen Bevölkerungszentren der UdSSR, Chinas und ihrer Alliierten der mit China und der UdSSR verbündeten Staaten zu richten, in der der Präsident (oder das Oberkommando der Strategischen Luftwaffe) glaubte, dass sich die Sowjets auf Angriff gegen die USA vorbereiteten, auch falls der feindliche Angriff mit konventionellen Waffen erfolgen sollte. Entsetzt bemerkte Eisenhower, dass sehr viel mehr Ziele angegriffen werden sollten, als nötig waren, um die Kampfbereitschaft der Sowjets zu zerstören. Die USA, so sagte er, „muss die Sowjetunion nicht zu hundert Prozent in Rauch aufgehen zu lassen“. Er bat das Pentagon, Möglichkeiten zu finden, einzelne militärische Ziele auszuwählen und Städte auszusparen.

Peter Byrne

Übergänge

Frontmatter
21. Hinter verschlossenen Türen

Everetts Theorie vom Relativzustand schien zunächst eine Totgeburt zu sein. Vor 1962 wurde die Arbeit in der wissenschaftlichen Literatur nur zweimal zitiert (das änderte sich erst nach 1982). Der Mangel an öffentlichem Interesse bedeutete jedoch nicht, dass sie ignoriert wurde, denn sie veranlasste einige der besten Physiker, das Messproblem hinter verschlossenen Türen zu erörtern.

Weil seine Theorie nicht tot war, hatte Everett einen mächtigen Feind, nämlich Bohrs Famulus Leon Rosenfeld, der Everetts Theorie viele Jahre lang mit dem Argument bekämpfte, sie widerspräche Bohrs Theorie.

Peter Byrne
22. Andere Königsreiche des Todes

Als Everett in Cincinnati war, lag seine Mutter im Sterben. Kurz vor ihrem Tod schilderte sie in einem Brief an eine ihrer Krankenschwestern ihren Kampf mit dem Krebs. Ihr Arzt hatte 1959, kurz vor ihrem Europa-Urlaub mit Hugh und Nancy, in ihrer linken Brust einen Knoten entdeckt, und weil sie ihn nicht selbst fühlen konnte, unternahm sie bedauerlicherweise nichts. Achtzehn Monate später schwoll ihr linker Arm an und die linke Brustwarze eiterte. Als sie sich sechs Monate später untersuchen ließ, diagnostizierte der Arzt einen Tumor. Daraufhin ging sie ins Krankenhaus der George Washington University um, so meinte sie, eine Biopsie machen zu lassen.

Peter Byrne

Beltway Bandit

Frontmatter
23. Waffensachen

Die Lambda Corporation beruhte auf Everetts Geisteskind, den wunderbaren Multiplikatoren, und war auf sein Bedürfnis nach Unabhängigkeit zugeschnitten. Die Spitzenleute bei WSEG, auch das Sekretariat, hatten Sicherheitsbescheide und folgten Everett gern, als er in ein gläsernes Bürogebäude in Arlington unweit des Pentagon zog. Außer in der Verwaltung stellte Lambda nur promovierte Physiker oder Mathematiker an. Die Mitarbeiter, meist junge Absolventen der angesehensten Universitäten, auch ehemalige Beamten des CIA und Veteranen von RAND, erhielten günstige Anstellungsbedingungen und Gewinnbeteiligungen.

Die in Kalifornien beheimatete DRC (Defense Research Corporation) stellte ein Startkapital von $60 000 zur Verfügung und erhielt dafür 50% Eigentümer-Anteile.

Peter Byrne
24. Die Bayes-Maschine

Anfang September 1969 griffen die USA die Sowjetunion mit 3 700 atomaren Sprengköpfen an. Sie wurden von Kombinationen aus fünf Flugzeugtypen und drei Arten von Raketen transportiert und explodierten an 1300 Zielen. Einige der Einsatzmittel versagten unerwartet und unerklärlich, was den Plan „katastrophal scheitern“ ließ.

Zum Glück für den Planeten war der Angriff eine QUICK-Simulation, die verborgene Variable in den Vernichtungsszenarien aufdecken sollte. Aus dem Computerspiel leitete Lambda her, dass „Overkill“ unter gewissen Umständen Verschwendung sein kann, insgesamt jedoch „vor Ungewissheit schützt“. Das Militär hat Vertrauen zu einem Kriegsplan, der den Overkill sichern kann.

Peter Byrne
25. Der Tod von Lambda

Gegen Ende der 1960er Jahre erteilte der Verteidigungsminister Lambda den Auftrag, das Modell CODE 50 zu bauen, ein neues Programm für Kriegsspiele, das Everetts Multiplikatoren nutzte, um bei einer nuklearen Auseinandersetzung ein Modell für eine Reihe von „Machtstellungen“ zu haben. CODE 50 sollte QUICK ergänzen und unter anderem berechnen, wie viel von der amerikanischen nuklearen Streitmacht einen sowjetischen Überraschungsangriff überleben und wirksam reagieren könnte. Der junge Armeeleutnant Jan M. Lodal arbeitete im Pentagon im Büro für Systemanalysen, und war mit der Überwachung der Arbeit von Lambda zu CODE 50 beauftragt. Er sagte, das Oberkommando habe QUICK und CODE 50 dazu benutzt, um zu überprüfen, was die Programmierer der SAC in Omaha mit SIOP taten.

Peter Byrne

Die Wiedergeburt der Vielen Welten

Frontmatter
26. DeWitt als Retter

Als Everetts Theorie 1957 gedruckt vorlag, ignorierte die Physik sie ein Jahrzehnt lang fast völlig. Die gescheite Idee war jedoch nicht tot, sie hielt einen Winterschlaf. Verfasser von Sciencefiction siedelten ihre Geschichten in Everetts Vielen Welten an, und Everett hatte einen kurzen Auftritt in einer Anthologie unausgegorener Ideen (

The Scientist Speculates: An Anthology of Partly-Baked Ideas

), das der Computerwissenschaftler Irving Good herausgegeben hatte, der anmerkte, dass der Begriff der Mehrfachwelten in den Bereich der Sciencefiction gehört hatte, bis Everett ihn formalisierte. Er fasste die Theorie grob, aber richtig so zusammen: „Wir haben alle unzählige identische Zwillinge, mit denen wir nur sehr selten kommunizieren.

Peter Byrne
27. Rekorde in der Zeit

Auch wenn Everett nach seiner Dissertation nie wieder etwas zur Quantentheorie veröffentlichte, behielt er die Entwicklung seiner Theorie im Auge, als sie heranreifte und Aufmerksamkeit erregte. Besonders den kritischen Überlegungen des Experimentalphysikers John Stewart Bell schenkte er viel Beachtung. Bell arbeitete am CERN, dem Forschungszentrum, das einen riesigen Teilchenbeschleuniger betreibt, und befasste sich aus Liebhaberei mit den Grundlagen der Quantentheorie.

Peter Byrne
28. Austin

Kurz nachdem Wheeler dem Ruf an die Universität von Texas in Austin gefolgt war, luden er und De Witt Everett zu einem Seminar über die Viele-Welten-Deutung ein. Obwohl Everett öffentliche Vorträge gar nicht mochte, freute er sich über die Einladung und machte sich im April mit Nancy, Liz und Mark in seinem Cadillac, einem Gebrauchtwagen, auf die lange Fahrt von Virginia nach Austin.

Während ihr Vater seinen Vortrag hielt, vertrieben sich Mark und Liz die Zeit mit Biertrinken im VW Käfer eines Bekannten, der in Austin als Soldat stationiert war. Der Hörsaal, für den die Universität das strenge Rauchverbot ausnahmsweise und nur für Everett gelockert hatte, war voller Dozenten und neugieriger Studenten. Everett, wie üblich im schwarzen Anzug, erläuterte, während er kettenrauchend und gestikulierend ruhelos hin- und herlief, die Grundlagen der Theorie und beantwortete dann Fragen der Zuhörer.

Peter Byrne
29. Wheelers Rückzieher

Als Max Jammer 1972 die letzten Kapitel seines Buchs über die Philosophie der Quantenmechanik erarbeitete, bat er Wheeler um Everetts Adresse. Wheeler hatte Everetts Spur verloren und antwortete: „Bohr mochte [Everetts] Art der Beschreibung der Q. Mechanik nicht, wie er auch früher Feynmans Art der Beschreibung der Q. Mechanik nicht akzeptiert hatte. Trug er noch Everetts Fackel? Hielt er noch etwas von Everett? Jammer erfuhr Everetts Adresse in McLean später von DeWitt, der ihm auch von der Existenz der „langen Thesis“ erzählte. Jammer schrieb Everett, und der erzählte ihm in einer ausführlichen Antwort davon, welche Überlegungen ihn beim Verfassen der ursprünglichen Arbeit beeinflusst hatten. Er sagte, seine Theorie sei die einfachste verfügbare Erklärung der Quantenmechanik, aber es sei „Geschmackssache“, ob sie einem gefiele.

Peter Byrne

Eine amerikanische Tragödie

30. Die letzten Jahre

Wenn man auf der einzigen bekannten Tonbandaufnahme Everetts etwas leiernde Stimme hört, bekommt man ein Gefühl dafür, wie brüchig seine Energie war, wenn er getrunken hatte. Er klingt wie ein Mann, der sich gern mit Freunden am gute Leben freut, und zugleich etwas exzentrisch ist, selbstkritisch, traurig. Er war es gewöhnt, Freunden oder Kollegen weder Traurigkeit noch überhaupt ein Gefühl zu zeigen. Er vermittelte vielmehr das Bild eines Zynikers von seltener Intelligenz, der das Leben als ein Spiel sah, bei dem sich gescheite Menschen bemühen, das Schlimmste, was passieren kann, zu minimieren. Die Gefühle anderer schienen ihm ziemlich gleichgültig zu sein. Auch das Schicksal seiner Viele-Welten-Theorie war ihm anscheinend gleichgültig, denn er sprach nur selten von ihr.

Peter Byrne
31. Nachwirkungen

Nicht lange nach Everetts Tod schrieb Nancy an Mark eine Notiz, in der sie ausführte, dass er seinen Vater nicht hätte retten können. Sie und Liz hatten vor kurzem eine Fernsehsendung über den Herzinfarkt gesehen und erfahren, dass das Gehirn innerhalb weniger Minuten irreparabel geschädigt wird: „Man möchte niemanden erst vier Minuten nach dem Infarkt retten“, schrieb sie.

2

Everett sei ein „Opfer seiner Sucht“ gewesen. Und zu seinem Tod: „Ich glaube, er wusste, dass der Tod unvermeidlich war, aber er wollte uns auch alle Sorgen ersparen. Ich hoffe, diese Gedanken können dir helfen, Ruhe zu finden, wenn du an Hughs Tod denkst..“

Peter Byrne

Everetts Vermächtnis

Frontmatter
32. Everett modern

Formeln für die Wahrscheinlichkeit messen Ungewissheit und Entropie, quantifizieren Unwissen und Information, verringern den Drang nach kühnen Vermutungen, prägen das, was wir für wirklich halten. Könnte es sein, dass intelligente Entscheidungsfindung sich auf die Berechnung von Wahrscheinlichkeiten zurückführen lässt, auf

Wetten

? Das Rätsel der Wahrscheinlichkeit verwirrt Naturwissenschaftler, Philosophen und Romanschreiber, seit Menschen sich vor eine Wahl gestellt sehen – über die Existenz von Alternativen nachdenken. Bei einer

vernünftigen

Wahl kommt es, so meint man, darauf an, dass man, bevor man die Entscheidung trifft, Folgen dieser Entscheidung vorhersagt, indem man ihre Wahrscheinlichkeiten bestimmt.

Peter Byrne
33. Everett kommt nach Oxford

Seit Max Planck und Albert Einstein die Quantenwelt entdeckten, ist ein Jahrhundert vergangen. Die grundlegenden Quantenrätsel – Ungewissheit, Nichtlokalität und Messproblem – sind entweder ungelöst oder noch immer umstritten. Die einflussreichsten Vorschläge dazu, wie das Messparadoxon zu verstehen sei, machen die Kopenhagener Deutung (die behauptet, das Problem sei kein Problem), Bohms Theorie der nichtkollabierenden verborgenen Variablen (die die Schrödinger-Gleichung ergänzt), die „GRW“-Theorie vom spontanen Kollaps

2

(die die Schrödinger-Gleichung abändert), und die Everett-Interpretation, die nur die Schrödinger-Gleichung voraussetzt.

Peter Byrne
Backmatter
Metadata
Title
Viele Welten
Author
Peter Byrne
Copyright Year
2012
Publisher
Springer Berlin Heidelberg
Electronic ISBN
978-3-642-25180-1
Print ISBN
978-3-642-25179-5
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-642-25180-1

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