Zur Charakteristik Italiens als „verspätete Nation“. Helmuth Plessners Idealtypus und die Diagnose der Gegenwartslage eines EU-Gründungsmitglieds

Hinter Italiens gegenwärtiger Krise verbirgt sich eine soziologische Fragestellung, die größere Aufmerksamkeit verdient: die Mannigfaltigkeit der europäischen Moderne. Ausgehend von Shmuel N. Eisenstadts These zur multiplen Moderne, widmet sich der Aufsatz einer internen Ausdifferenzierung des klassischen Modells der europäischen Moderne. Plessners Konzept der „verspäteten Nation“ ermöglicht eine Untersuchung unterschiedlicher Bausteine und Geschwindigkeiten von Modernisierungsprozessen. Damit Plessners Modell auf die gegenwärtige Lage Italiens angewendet werden kann, muss es aber idealtypisch präzisiert und in seinen soziologischen Grundlagen expliziert werden. Darüber hinaus muss der normative Bias von Plessners Deutschlandstudie methodologisch in Klammern gesetzt werden, um dessen analytisches Raster auf andere Kontexte anwenden zu können. Der Beitrag stellt zunächst Plessners Modell idealtypisch vor, indem er die darin enthaltenen politik-, wirtschafts-, religions-, intellektuellen- und kultursoziologischen Fragestellungen voneinander unterscheidet. Im zweiten Schritt werden die in Plessners Begründung der Verspätungsthese enthaltenen impliziten Hinweise auf die soziologischen Arbeiten Karl Mannheims und Max Webers rekonstruiert. Im dritten Schritt eruiert der Aufsatz die Ergiebigkeit der Anwendung von Plessners Ansatz auf die Untersuchung der Gegenwartskrise Italiens. Abschließend zeichnet er die Grenzen von Plessners Analyse nach und weist auf die weiterführenden Untersuchungen hin, die notwendig sind, um ein idealtypisches Konzept der Mannigfaltigkeit der europäischen Moderne zu entwickeln.