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Published in: Zeitschrift für Arbeitswissenschaft 3/2022

Open Access 31-05-2021 | Wissenschaftliche Beiträge

Zur Kompatibilität von Maßsystemen der Akustik und zu den Wirkungen von Energie-äquivalenten, zum Gehör jedoch mehr oder weniger kompatiblen Schallbelastungen

Authors: Dr.-Ing. Hartmut Irle, Univ.-Prof. (i. R.) Dr.-Ing. habil. Helmut Strasser

Published in: Zeitschrift für Arbeitswissenschaft | Issue 3/2022

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Zusammenfassung

Die Stärke von Schallbelastungen wird bekanntlich durch den Pegel L mit einem logarithmischen Maß angegeben. Dieses, formal richtig nach dem Weber-Fechner’schen Gesetz aufgebaute Maßstabs-System der Lautstärke in dB (Dezibel) ist allerdings alles andere als empfindungsgerecht und damit inkompatibel zum Gehör. Das zeigt sich z. B. daran, dass ein Pegel von 100 Dezibel (dB) nicht lediglich doppelt so laut empfunden wird wie ein Pegel von 50 dB. Ein solcher Messwert repräsentiert sogar das „100.000-fache“ von 50 dB, und damit eine unvorstellbar höhere Belastung. Selbst in einer nur um 3 dB höheren Belastung steckt bereits die doppelte Energie bzw. Belastung für das Gehör. Weil eben nicht das Weber-Fechner’sche Gesetz, sondern das Stevens’sche Potenz-Gesetz erwiesenermaßen Gültigkeit besitzt, sollte bei der Einstufung der Stärke von Schallbelastungen zumindest das einigermaßen empfindungsgerechte Maßstabs-System der Lautheit mit der Einheit „Sone“ Verwendung finden. Eine Zunahme des Pegels um 10 dB, die erfahrungsgemäß mit einer gefühlten Verdopplung des „Empfindens“ verbunden wird, führt dabei auch zu einer Verdopplung des Sone-Wertes. Das Benutzen des allseits bekannten „dB“ schafft nicht selten Verwirrung und führt oftmals zu gravierenden Fehleinschätzungen. In graphischen Darstellungen werden das inkompatible Maßsystem der Lautstärke und das zum menschlichen Gehör eher kompatible Maßsystem der Lautheit in „Sone“ konkretisiert und veranschaulicht. Dabei werden auch erhebliche Diskrepanzen bei der Beurteilung von Schallexpositionen aufgezeigt, die bei unterschiedlicher Höhe und Einwirkdauer mittels des Halbierungsparameters q = 3 als gleich hoch eingeschätzt werden. Auszugsweise dargestellte Ergebnisse aus umfangreichen audiometrischen Untersuchungen belegen, dass energie-äquivalente, aber zeitlich unterschiedlich verteilte Schallbelastungen von in der Arbeit noch zulässigen 85 dB(A)/8 h höchst unterschiedlich starke zeitweilige Hörschellenverschiebungen (Temporary Threshold Shifts, TTS-Werte) verursachen. Ferner wird veranschaulicht, dass auch gleich starke moderne Musikschallbelastungen von 94 dB/1 h bei otologisch normalen Probanden zu audiometrisch messbaren, ähnlich hohen Hörschwellenverschiebungen wie Industrielärm führen. Das gilt z. B. für „Heavy Metal“, „Techno“ oder auch „House Music“. Besteht die gleich starke und genauso lang anhaltende akustische Belastung jedoch z. B. aus „Klassischer Musik“, so kommt es allenfalls zu „Physiologischen Kosten“ in der Größenordnung von ca. ¼ dessen, was zum menschlichen Gehör inkompatible akustische Belastungen verursachen. Daraus ist zu folgern, dass das Gehör nach dem Motto „Der Ton macht die Musik“ mit sinusförmigen akustischen Belastungen eher „klar kommt“ (dazu kompatibel ist) als mit stochastischen und u. U. impulshaltigen Schallereignissen, wie sie durch Metall-auf Metall-Schläge auftreten oder bei Maschinengeräuschen in der Metallverarbeitung vorkommen.

1 Einführung in die Maßsysteme der Akustik

Weil die Lärmschwerhörigkeit nach wie vor die am meisten vorkommende Berufskrankheit ist, gilt es im Arbeitsschutz und in der Arbeitswissenschaft, besonderes Augenmerk auf die akustischen Belastungen an Arbeitsplätzen zu richten, und diese zu messen, zu bewerten und zu beurteilen, sowie gegebenenfalls primäre, sekundäre und tertiäre Schallschutzmaßnahmen zu ergreifen.
Im oberen Teil von Abb. 1 ist die formelmäßige Beschreibung der Quantifizierung der Stärke von Schallbelastungen (bekanntlich durch den Pegel L mit einem logarithmischen Maß) dargestellt. Neben dem Schalldruckpegel ist aber, wie im mittleren Teil von Abb. 1 aufgeführt, auch die frequenzmäßige Zusammensetzung der Schallbelastungen zu erfassen. Dabei sollten neben physikalischen Größen wie Oktav- und Terzpegeln (LOktav und LTerz) z. B. mit Phon oder dB(A) auch physiologisch und psychologisch bewertete Maße gebildet werden. Schließlich spielt auch die Einwirkdauer der Schallbelastungen eine wichtige Rolle. Dazu muss bei zeitlich schwankenden Pegeln nach den im unteren Teil von Abb. 1 aufgeführten Formeln ein Mittelwert Lm oder der auf den 8‑Stundentag bezogene Beurteilungspegel Lr bzw. nach der Lärm-Vibrations-Arbeitsschutzverordnung (N. N. 2007) der Tages-Lärmexpositionspegel gebildet werden.
Dieses, formal richtig nach dem Weber-Fechner’schen Gesetz aufgebaute Maßstabssystem der Lautstärke in dB (Dezibel), wonach absolute Empfindungsänderung das Ergebnis relativer Reizänderungen sein sollten (vgl. oberen Teil von Abb. 2), ist allerdings alles andere als empfindungsgerecht und damit inkompatibel zum Gehör. Das zeigt sich z. B. daran, dass ein Pegel von 100 Dezibel (dB) nicht lediglich doppelt so laut empfunden wird wie ein Pegel von 50 dB. Ein solcher Messwert repräsentiert sogar das „100.000-fache“ von 50 dB, und damit eine unvorstellbar höhere Belastung. Selbst in einer nur um 3 dB höheren Belastung steckt bereits die doppelte Energie bzw. Belastung für das Gehör. Es muss aber eine akustische Belastung um 10 dB höher sein, dass sie auch doppelt so laut empfunden wird.
Weil eben nicht das Weber-Fechner’sche Gesetz, sondern das Stevens’sche Potenzgesetz erwiesenermaßen Gültigkeit besitzt, sollte bei der Einstufung der Stärke von Schallbelastungen zumindest das einigermaßen empfindungsgerechte Maßstabssystem der Lautheit mit der Einheit „Sone“ Verwendung finden. Wie in Abb. 2 Mitte dargestellt, sind aus den dB-Werten nach der Formel S = 2(L-40)/10 Sone-Werte zu berechnen. Die Formel baut auf dem Stevens’schen Potenzgesetz auf, wonach nicht absolute, sondern relative Empfindungsänderungen das Resultat von relativen Reizänderungen sind. Diese empfindungsgerechte Maßeinheit der Lautheit beginnt bei 1 Sone (40 dB). Ein Pegel von 10 dB mehr – also 50 dB – entsprechen dem Wert von 2 Sone. Schließlich führt jede weitere Erhöhung um 10 dB zu einer Verdopplung des Sone-Wertes (50 dB = 2 Sone, 60 dB = 4 Sone und z. B. 100 dB = 64 Sone). Bezüglich Details und weiterer kompatibler psycho-akustischer Maßsysteme sei auf die letzte Ausgabe eines „Klassikers der Akustik“, herausgegeben von Fastl und Zwicker (2007), verwiesen.
Das Benutzen des allseits bekannten „dB“ schafft nicht selten Verwirrung und führt oftmals, ebenso wie die alleinige Verwendung des A‑Filters in allen Dynamikbereichen, zu gravierenden Fehleinschätzungen. Gleiches gilt, wenn nach der Lärm- und Vibrations-Arbeitsschutzverordnung (N. N. 2007) eine 8‑stündige akustische Belastung mit einem Einzahlwert, dem Tages-Lärmexpositionspegel (früher besser bekannt als Beurteilungspegel Lr, (rating Level)) ausgewiesen wird. Die Berechnung von Tages-Lärmexpositionspegeln (Beurteilungspegeln) führt manchmal zu geradezu „verrückten“ bzw. irreführenden Ergebnissen. So ergibt sich nach dem Halbierungsparameter q = 3 bei Halbierung bzw. Verdopplung der Expositionszeit ein um 3 dB höherer bzw. niedriger Wert. So entspricht z. B., wie im rechten Teil von Abb. 3 visualisiert, ein Pegel von 94 dB, der 1 h einwirkt, einem Beurteilungspegel LArd von 85 dB über 8 h. In den übrigen 7 h könnte aber auch (wie im linken Teil von Abb. 3 dargestellt) ein Pegel bis zu 70 dB vorliegen, ohne dass sich der Beurteilungspegel zahlenmäßig überhaupt ändert. Man könnte also sogar Ruhephasen mit Lärm bis zu diesem Wert auffüllen, ohne dass das zahlenmäßig im Beurteilungspegel erkennbar wird, wenngleich die Wirkungen auf den Menschen höchst unterschiedlich sind. Andererseits würden Schallschutzmaßnahmen an Lärmquellen, die den Pegel von 75 dB, der über 7 h einwirkt, vollkommen eliminieren, „ad absurdum“ geführt, weil der Tages-Lärmexpositionspegel sich überhaupt nicht ändern würde.

2 Beispiele für höchst unterschiedliche Wirkungen Energie-äquivalenter Schallbelastungen

Wie in Abb. 4 visualisiert, entsprechen also bei Anwendung des Halbierungsparameters q = 3 85 dB/8 h einem um 3 dB höheren Pegel, also 88 dB/4 h, 91 dB/2 h, 94 dB/1 h, 97 dB/1/2 h, 100 dB/¼ h oder auch 113 dB/45 s. Schließlich wird selbst das „Aufsplitten“ dieser kurzen akustischen Belastung in Impulsschall (z. B. 9000 Hammerschläge auf einen Amboss mit einer Dauer von jeweils 5 ms) als unbedenklich deklariert.
Zur Problematik bei der derzeitigen Ermittlung des Beurteilungspegels nach der DIN 45645‑2 (2012), die speziell für Geräuschbelastungen geschaffen wurde, bei denen lediglich von extra-auralen Wirkungen und nicht von gehörschädigendem Lärm auszugehen ist, sei auf das Positionspapier von Strasser (2017) verwiesen. Leider sind auch derartige Normen und Richtlinien wie bspw. die VDI 2058 (2014) überhaupt nicht kompatibel zu den Wirkungen, weil nicht davon ausgegangen werden kann, dass die Gleichung „Energie-Äquivalenz = Stör-Äquivalenz“ gilt. Oder darf etwa ein einzelnes Schallereignis mit 90 dB(A) (als Vorbeifahrtpegel eines Lastkraftwagens) mit 1000 Schallereignissen von jeweils ca. 60 dB(A) (herrührend von Personenkraftwagen) gleichgesetzt werden? Der LKW stört dabei (vielleicht etwas stärker) nur einmal für ein paar Sekunden, wohingegen die 1000 PKWs über den ganzen Tag verteilt, eine äußerst lästige Schallquelle darstellen können.
Laute Schallbelastungen bzw. Lärm mit einem Beurteilungspegel oberhalb 85 dB(A) führen bekanntlich zu drastischen Vertäubungen, mitunter sogar zu Schädigungen des Gehörs. Selbst wenn Hörschwellenanhebungen (Vertäubungen) nur 10 dB betragen, wird der Höreindruck bereits halbiert. Nicht selten vorkommende Hörschwellenverschiebungen in der Größenordnung um 20 dB, die oft noch Stunden nach einer Schallbelastung anhalten, reduzieren den Lautheitseindruck auf ¼.
Experimentelle Untersuchungen aus den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts z. B. von Miller (1974) und umfangreiche experimentelle Messungen an größeren Gruppen von otologisch unauffälligen Testpersonen (Details siehe Irle et al. 1998, 2006) haben ergeben, dass der Halbierungsparameter nur bei akustischen Belastungen im Stundenbereich angewandt werden darf, und dass bei sehr kurzdauernden, zu 85 dB/8 h energie-äquivalenten Belastungen von z. B. 113 dB/45 s kaum noch Vertäubungen auftreten. Es konnte aber experimentell von Hesse et al. (1994) belegt werden, dass bei der Aufsplittung von derartigen Schallbelastungen in Impulsschall erheblich höhere und lang anhaltende Vertäubungen auftreten (vgl. Abb. 5 und rechte Seite von Abb. 6). So ist z. B. das Gehörschadens-Risiko für typischen Impulsschall (9000 Einzelimpulse mit 113 dB(A) einer Dauer von jeweils 5 ms) ca. 2,5-mal so hoch wie von Dauerschall mit 94 dB(A) über 1 h. Bei einer energie-äquivalenten Belastung von 113 dB(A)/über 45 s liegt es dagegen bei nur 15 %.
Zur Quantifizierung von Hörschwellenverschiebungen und deren Restitution bzw. den „Physiologischen Kosten“, die das Gehör für vorausgehende, verschiedenartige akustische Belastungen zu bezahlen hat, siehe z. B. Irle und Strasser (2005), Irle et al. (2006) oder Strasser und Irle (2006) sowie Strasser et al. (2007, 2008a). Die Anwendung des Halbierungsparameters für extrem hohe Pegel und sehr kurze Wirkzeiten ist absolut unangemessen, weil bei Überschreiten von 120 dB nicht nur mit Vertäubungen, d. h. einer reversiblen Ermüdung des Gehörs, sondern mit akuten irreversiblen Schädigungen gerechnet werden muss. Experimentelle Untersuchungen in diesem Dynamikbereich an Menschen sind aus ethischen Gründen verboten.
Energetisch gleiche Musikschallbelastungen können – wie z. B. von Irle et al. (2005), Strasser et al. (2005) oder Strasser et al. (2008b) nachgewiesen – das Gehör ähnlich stark in Mitleidenschaft ziehen wie Industrielärm. Das gilt z. B. für „Heavy Metal“, „Techno“ oder auch „House Music“. Besteht die gleich starke und genauso lang anhaltende akustische Belastung jedoch z. B. aus „Klassischer Musik“ oder auch „Klassischer“ Chinesischer Musik (Details siehe Strasser et al. 2009), so kommt es allenfalls zu „Physiologischen Kosten“, die das Gehör in Form von Vertäubungen zu bezahlen hat, in der Größenordnung von höchstens ¼ dessen, was zum menschlichen Gehör inkompatible Schall-Belastungen verursachen. Details hierzu siehe Abb. 78 und 9.
Daraus ist eindeutig zu folgern, dass das Gehör nach dem Motto „Der Ton macht die Musik“ mit sinusförmigen akustischen Belastungen eher „klar kommt“ (dazu also kompatibel ist) als mit stochastischen und u. U. impulshaltigen Schallereignissen, wie sie durch Metall-auf Metall-Schläge auftreten oder die bei Maschinengeräuschen in der Metallverarbeitung vorkommen.
Bei der traditionellen Beurteilung von Schallbelastungen werden in der Regel auch keine Pegel-Zeit-Analysen vorgenommen oder Pegel-Verteilungen ermittelt, wobei aus experimentellen Untersuchungen mittlerweile bekannt ist, dass z. B. bei „Klassischer Musik“ mit immer wiederkehrenden ruhigen Passagen nach lauteren Phasen (Decrescendos nach Crescendos) das Gehör die Gelegenheit bekommt, zwischendurch immer mal wieder „Durchzuschnaufen“ bzw. zu „Atmen“, anders als z. B. bei der Dauerbeschallung bzw. geradezu einem „Trommelfeuer“ mit 120 „Schlägen“/min bei „House Music“, wobei sogar bewusst durch hohe Anteile im tieferen Frequenzbereich Resonanzen im ganzen Körper verursacht werden. Das ist durchaus allgemein erkennbar, wenn z. B. ein PKW beim Warten an einer roten Ampel und entsprechender moderner Musik, die sich der Lenker „gönnt“, geradezu vibriert. Natürlich ist derartige Musik keineswegs kompatibel zum menschlichen Gehör, das „natürliche“ Geräusche wie z. B. das „Rauschen“ eines Wasserfalls (ähnlich zu „Weißem Rauschen“) und sinushaltige Schallvorgänge deutlich besser „verträgt“.
Die besondere Gefährlichkeit moderner Musikproduktionen, wie „Heavy Metal“, „Hardrock“ oder „Techno“ liegt darüber hinaus auch noch darin, dass sie in Diskotheken, Open-Air-Konzerten oder über Walkman bei wesentlich höheren Lautstärken gehört werden als Kompositionen, die bei Symphoniekonzerten oder Opernaufführungen dem Publikum dargeboten werden.

3 Diskussion und Ausblick

Bei der konventionellen Beurteilung von Umgebungsbelastungen (also nicht nur von Schallbelastungen) werden – auf den ersten Blick zwar plausibel – in der Regel hohe Intensitäten bei kurzen Wirkzeiten gleich eingeschätzt wie niedrige Intensitäten bei entsprechend längeren Expositionen. Dieses Prinzip einer energie-äquivalenten Verrechnung basiert auf der Hypothese, dass eine gleiche Dosis auch gleiche Wirkungen habe. Das ist jedoch keineswegs konform mit Paracelsus, auf den sich die Vertreter der Dosis-Maxime bzw. des Energie-Äquivalenz-Prinzips gerne beziehen. Solche Denkweisen sind mehr an physikalischen Paradigmen orientiert als an den psycho-physiologischen Eigengesetzlichkeiten des Menschen. Wer genau bei Paracelsus nachschlägt – dem der Spruch „Dosis facit venenum“ zugeschrieben wird – wird feststellen, dass sich in dem Spruch die Erfahrung und Erkenntnis des Arztes widerspiegelt, dass ein Medikament (der Extrakt einer Heilpflanze) in mehreren Gaben (das „rechte Maß“) heilbringend ist, wogegen die gesamte Menge auf einmal (die Dosis) tödlich sein kann. Das Gehör „funktioniert“ keinesfalls wie ein Dosimeter, das die über den Tag verteilte Schallenergie akkumuliert, um sie dann mathematischen Verrechnungen nach der Dosis-Maxime unterwerfen zu können.
Das gilt auch für andere Sinnesorgane. Ansonsten wären ja auch lokale Temperaturerhöhungen von noch so kurzer Dauer, z. B. beim Berühren der Fingerkuppe einer heißen Herdplatte, locker in eine momentane wohlige Wärme des Gesamtorganismus umrechenbar, würde ein Lichtblitz oder ein Laserstrahl, der die Netzhaut trifft, nicht blenden oder sogar Schaden anrichten, würde ein kurzer Nadelstich nicht Schmerz hervorrufen, sondern als taktile Streicheleinheit der betroffenen Stelle über eine längere Zeitspanne interpretiert werden dürfen.
Ohne grundsätzliches Wissen um die Kompatibilität von physikalischen Reizen und den physiologischen und psychologischen Eigengesetzlichkeiten des Menschen, d. h. den Reaktionen der Sinnesorgane kommt es im Falle von Schallbelastungen zu geradezu „unsäglichen“ Gleichsetzungen von gesetzlich sogar noch zulässigen Knallbelastungen (z. B. 100 Ereignisse mit einem Pegel von 140 dB bei einer Dauer von jeweils 1 ms) oder einem (erfreulicherweise gesetzlich nicht mehr ohne Gehörschutz zulässigen) Gewehrschuss, der bei einem Pegel von 160 dB lediglich 1 ms dauert. Bei letzterem würde man eine „Ohrfeige“ geradezu in Streicheleinheiten umrechnen.
In Anbetracht der in diesem Beitrag nur auszugsweise darstellbaren Erkenntnisse aus vielfältigen audiometrischen Untersuchungen zu den auralen Wirkungen verschiedenster akustischer, auch schmal- oder breitbandiger, hoch- oder tief-frequenter Schallbelastungen (Zusammenstellung siehe Strasser 2005) wäre es unverantwortlich, sich im Arbeitsschutz und in der Ergonomie auf die bequeme Position einer lediglich physikalischen Betrachtungsweise von Belastungen zu beschränken, und dabei zu ignorieren, dass Menschen auf Expositionen nach physiologischen und psychologischen Eigengesetzlichkeiten reagieren, und eben nicht lediglich nach der Physik der leblosen Materie „funktionieren“. Die konventionelle, in Normen und Richtlinien nahegelegte Vorgehensweise bei der Messung, Bewertung und Beurteilung von Schallbelastungen ist zwar hochpräzise und mathematisch exakt. Aus ergonomischer Sicht ist sie jedoch als sehr problematisch einzuschätzen, weil bei der Etablierung von Mess- und Beurteilungsgrößen keineswegs an Kompatibilität mit den Wirkungen auf den Menschen gedacht wurde. Der „Gipfel“ an Unverständlichkeit des logarithmisch geprägten Maßsystems wird „abgeschossen“ mit dem Titel des von Hoffmann und v. Lüpke (1979) herausgegebenen Buches: „Null Dezibel+Null Dezibel=Drei Dezibel“.
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Title
Zur Kompatibilität von Maßsystemen der Akustik und zu den Wirkungen von Energie-äquivalenten, zum Gehör jedoch mehr oder weniger kompatiblen Schallbelastungen
Authors
Dr.-Ing. Hartmut Irle
Univ.-Prof. (i. R.) Dr.-Ing. habil. Helmut Strasser
Publication date
31-05-2021
Publisher
Springer Berlin Heidelberg
Published in
Zeitschrift für Arbeitswissenschaft / Issue 3/2022
Print ISSN: 0340-2444
Electronic ISSN: 2366-4681
DOI
https://doi.org/10.1007/s41449-021-00254-x

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