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Published in: Organisationsberatung, Supervision, Coaching 4/2020

Open Access 23-10-2020 | Diskurs

Zur Rationalität der Intuition

Author: Prof. Dr. em. Helmut Willke

Published in: Organisationsberatung, Supervision, Coaching | Issue 4/2020

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Zusammenfassung

Immer dann, wenn eine Entscheidungssituation zu schwierig, zu unübersichtlich, zu drängend, insgesamt also zu komplex erscheint, muss Entscheiden nach Intuition als Erklärung oder als Ausrede herhalten. Da niemand weiß, was nun genau Intuition ist, vielmehr sie irgendwie mit Gefühl, Bauch, Unbewusstem, Vorrationalem etc. zusammenhängen soll, eignet sich Intuition bestens dafür, Unerklärliches zu erklären. Ausgangspunkt dieses Textes ist, dass es sich bei Intuition um einen Modus der Entscheidungsfindung handelt. Es werden daher Argumentationen unterschiedlicher Entscheidungstheorien genutzt, um zu begründen, dass auch intuitives Entscheiden erfahrungsbasiertes Entscheiden ist.

1 Flucht aus der Komplexität

„Intuition ist ein anderes Wort für fehlende Bereitschaft nachzudenken.“1 Im folgenden Text werde ich vor allem darüber räsonieren, welche Faktoren und Umstände diese fehlende Bereitschaft ausmachen oder auslösen könnten. Immer dann, wenn eine Entscheidungssituation zu schwierig, zu unübersichtlich, zu drängend, insgesamt also zu komplex erscheint, muss Entscheiden nach Intuition als Erklärung oder als Ausrede herhalten. Da niemand weiß, was nun genau Intuition ist, vielmehr sie irgendwie mit Gefühl, Bauch, Unbewusstem, Vorrationalem etc. zusammenhängen soll, eignet sich Intuition bestens dafür, Unerklärliches zu erklären.2
Ausgangspunkt aller Überlegungen zur Intuition sollte sein, dass es sich um einen Modus der Entscheidungsfindung handelt. Es geht also um Entscheidungen. Dann sollte nicht ganz außer Acht bleiben, dass es (wenn wir nicht bei den Alten Griechen anfangen wollten) seit einigen Jahrhunderten fundierte Überlegungen, Konzeptionen und Theorien des Entscheidens gibt, die hilfreich sein könnten, auch die mögliche Rolle von Intuition beim Entscheiden zu beleuchten.
Sowohl in archaischen Gesellschaften wie in frühen Hochkulturen wurden große, schwierige Entscheidungen weder rational noch intuitiv getroffen, sondern mithilfe von religiösen und magischen Ritualen oder von Orakeln. Der Beistand der Götter bei der Entscheidungsfindung war unerlässlich, vor allem wenn es um Entscheidungen über Krieg und Frieden ging. Die Entdeckung der Entscheidungsfreiheit des Menschen ist eine Errungenschaft der frühen Moderne, die sich der Befreiung von den Traditionen der archaischen Gesellschaft verdankt. Nicht mehr die Ahnen, die Götter, die Tradition oder die Natur lenken das Verhalten des Menschen, sondern der Mensch selbst kann sich zwischen alternativen Möglichkeiten nach seinen eigenen Kriterien oder Präferenzen entscheiden. Neben vielen anderen hat nicht zufällig Niccolo Machiavelli die Ambivalenz der Entscheidungsfreiheit als Chance und als Begrenzung des Handelns des Fürsten herausgestellt und damit am Beginn des 16. Jahrhunderts im Florenz der Medici die Grundlagen eines autonomen, selbstherrlichen Politiksystems gelegt. Im Kontext einer Erörterung von „Fortuna“ schreibt er: „Ich weiß wohl, dass es viele gegeben hat und gibt, die glauben, die Ereignisse seien derart von Fortuna und von Gott vorherbestimmt, dass die Menschen mit ihrer Klugheit sie nicht lenken könnten, ja überhaupt nichts dagegen vermöchten … Aber um unsere Willensfreiheit nicht ganz preiszugeben, halte ich nichtsdestoweniger dafür, dass Fortuna wohl zur Hälfte Herr ist über unsre Taten, aber die andere Hälfte, oder fast soviel, unsrer Leitung überlässt“ (Machiavelli 1961 (1513), S. 134).
Mit Säkularisierung und Aufklärung wird die Idee der Entscheidungsfreiheit zum festen Bestandteil der westlichen Kultur, ihrer Ethik, ihres Rationalismus und Individualismus. Auch die modernen Entscheidungstheorien, die im 19. Jahrhunderts zur Erklärung des rationalen (ökonomischen) Handelns entstehen, stehen durchgängig auf der Seite der Entscheidungsfreiheit und verdrängen deren Begrenzungen in den dunklen Tiefen der Leidenschaften und der Irrationalitäten.
Die modernen Entscheidungstheorien der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts radikalisieren diese Position. Sie gehen von klar erkennbaren Zwecken des menschlichen Handelns aus und postulieren sogar eine Konsistenz und eine Transitivität von Zwecken. Damit gelingt es vor allem der Ökonomik, ein konsistentes Modell des rationalen homo oeconomicus zu entwerfen, der mit voller Entscheidungsfreiheit sein Zwecke setzt und zwischen verschiedenen Zwecken und alternativen Mitteln der Zweckerreichung kühl kalkulierend entscheidet und auf Intuition nicht mehr angewiesen ist. Auch die moderne Rechtswissenschaft benötigt diese Grundlage, um personale Verantwortlichkeit postulieren zu können, – und sie steht damit entschlossen auf der Seite der Willens- und Entscheidungsfreiheit.
Allerdings wird die Entscheidungstheorie ihre Vergangenheit nicht los. Vor allem außerhalb der Disziplin der Ökonomie, in Philosophie, Psychologie und Biologie, kommt die andere Seite des Entscheidungsdilemmas zum Tragen. Zwar sind es nicht mehr die Götter, die das Entscheiden vorherbestimmen, aber es gibt viele andere Gründe dafür, die Idee der Entscheidungsfreiheit als Illusion zu verstehen und z. B. stattdessen auf Intuition zurückzugreifen.
Der triviale philosophische Determinismus wird von einigen Zweigen der Psychologie als Behaviorismus quasi naturwissenschaftlich unterfüttert und hoffähig gemacht. Auch nach der weitgehenden Diskreditierung des Behaviorismus wird sein Anliegen in der jüngsten Gegenwart von Kognitionspsychologen und Neurobiologen wiederbelebt und mit neuen naturwissenschaftlichen Begründungen versehen. An die Stelle zwingender Verhaltensmuster und Reaktionsreflexe treten nun neuronale Schaltzwänge und zwingende Dendritenkonstellationen, welche nach Ansicht dieser Konzeptionen die Entscheidungsfreiheit als Illusion und Selbstbetrug entlarven (Singer 2000).
Das Wieder-Aufflackern des Determinismus in Form neuronaler Schaltzwänge und intuitiver Reflexe ist lehrreich. Denn es beleuchtet erneut das Dilemma jeder Entscheidungstheorie: Wir können nicht wissen, ob unser Entscheiden wirklich frei oder wirklich determiniert ist. Wir können nur Konzeptionen entwerfen, die als Modelle des Entscheidens mehr oder weniger brauchbar sind. Unter diesen Bedingungen erscheint es als plausibel, den extremen Auflösungen des Entscheidungsdilemmas wenig zuzutrauen: Weder Determinismus noch rein rationales Entscheiden erscheinen der komplexen und vielschichtigen Praxis des Entscheidens angemessen zu sein. Offenbar erfordert die Komplexität des Entscheidens eine adäquat komplex gebaute Entscheidungstheorie. Folgerichtig kommt es in den 1960er und 1970er Jahren zu einer grundlegenden Revision der Entscheidungstheorie, die mit den Namen Herbert Simon, James March, Johan Olsen und anderen verknüpft ist. Simon (1957, 1983) prägt den Begriff der „begrenzten Rationalität“ („bounded rationality“) und weist damit darauf hin, dass der klassische idealtypische Begriff des rationalen Entscheidens von Voraussetzungen ausgeht, die in der Realität nicht gegeben sind, – etwa die Bedingung vollständiger Information und unbegrenzter Zeit.
Als Gegenpol zu intuitivem Entscheiden sollte demnach von vornherein nicht rein rationales Entscheiden angenommen werden, sondern ein Entscheidungshandeln, das die Begrenzungen menschlichen Handelns – vor allem kognitive und temporale Begrenzungen – zugrunde legt. Je deutlicher und relevanter diese Grenzen sind, desto mehr könnte sich ein Raum für Intuition öffnen, wenn Intuition als ein Mechanismus verstanden wird, mit dessen Hilfe Menschen in hochkomplexen und intransparenten Konstellationen dennoch überhaupt entscheiden können.
Dann wird auch deutlich, dass diese Grenzen, die zunächst einen Raum für Intuition zu öffnen scheinen, seit einiger Zeit durch neue technologische Hilfsmittel erheblich ausgeweitet werden. Die Stichworte sind Digitalisierung, Virtualisierung, lernfähige neuronale Netze, Schwarmintelligenz, künstliche Intelligenz, Entscheidungsalgorithmen etc. Google oder Amazon entscheiden nicht intuitiv, welche Kauf-Vorschläge sie Millionen von Online-Nutzern in Echtzeit machen, sondern nach lernfähigen, höchst rationalen Entscheidungsregeln. Während verunsicherte Autofahrer/innen in schwierigen Verkehrssituationen jetzt noch glauben dürfen, intuitiv zu entscheiden, werden sehr bald in autonomen Fahrzeugen höchst rationale Algorithmen darüber entscheiden, wohin das Auto steuert. Wenn bereits jetzt lernfähige Softwareprogramme bessere Investitionsentscheidungen treffen als gewiefte Finanzanalytiker und Big-Data-basierte Analyseprogramme bessere Trefferquoten bei Gewebeanalyse oder Krebszellendetektion3 haben als erfahrene Fachärzt/innen, dann sind für intuitives Entscheiden harte Zeiten angebrochen.
Mit diesen Entwicklungen wird deutlicher als zuvor, dass Intuition primär die Umschreibung für ein Unvermögen ist – das Unvermögen, in bestimmten Konstellationen begründet zu entscheiden. Damit ist Intuition nicht wertlos oder irrelevant. Vielmehr nimmt sie einen begründeten Platz genau dort ein, wo Begründungen fehlen. Solange es für Menschen viele derartige Konstellationen gibt – man kann sie zusammenfassend beschreiben als Situationen überwältigender Komplexität –, hat „Intuition“ als Platzhalter für fehlende Begründungen einen nicht zu unterschätzenden Stellenwert für Selbstachtung und Legitimierung. Ein Standardbeispiel betrifft Manager/innen, die Entscheidungen mit Intuition begründen, weil sie keine Begründung haben, aber gegenüber Organisation und Mitarbeiter/innen eine solche brauchen.

2 Flucht aus der Rationalität

Einen aufschlussreichen Kontrapunkt setzt Intuition dort, wo rationale Entscheidungen im Prinzip möglich wären, aber aus übergeordneten Gründen nicht gut aussähen. Zum Beispiel in der Liebe. Während über Heirat in archaischen Gesellschaften – und in Japan z. B. teilweise bis heute – gerade nicht intuitiv entschieden, wird, sondern nach sehr rationalen Kriterien wie Familienpolitik, Vermögen etc., gelten in der Moderne die Regeln des Ideals romantischer Liebe. Diese besagen u. a., dass, grob gesagt, Liebe irgendwie ohne rationale Überlegung aus dem Bauch heraus intuitiv entstehen müsse, um echt zu sein. Luhmann spricht hinsichtlich der gesellschaftlichen Konstruktion von Liebe von der Illusion, „die moderne Gesellschaft sei eine spezifisch rationale Gesellschaft (Max Weber). In der Intimkommunikation muss die paradoxe Konstitution ausgehalten, ja expressiv verwendet werden. Hier versagt die Flucht in die Scheinrationalität“ (Luhmann 1982, S. 69).
Auch in anderen Situationen gilt Rationalität als unfein, etwa in bestimmten Aspekten von Kunstproduktion und Kunstgenuss. Die wirklich geniale Künstlerin gestaltet intuitiv, und der reiche Mäzen entscheidet beim Kunstkauf selbstverständlich nicht nach erwartetem Marktwert, sondern intuitiv nach Gefallen. Während sich über diese Fälle, inklusive Liebe, noch mit der Leichtigkeit des distanzierten wissenschaftlichen Beobachters sprechen ließe, wird es bei der politischen Intuition ernst.
Seit die Welt mit einem US-amerikanischen Präsidenten geschlagen ist, der aus dem Bauch heraus intuitiv entscheidet, weil er zu komplexen rationalen Entscheidungen unfähig ist, lassen sich die Risiken einer intuitiven Flucht aus der Rationalität nicht mehr überschätzen. Dies betrifft nicht nur eine Einzelperson, sondern eine weltweite Bewegung zu einem politischen Populismus, der gesellschaftliche und globale Komplexitäten zu banalen Slogans und Schlagwörtern reduziert. Eine Reihe komplex verknüpfter Faktoren führte innerhalb weniger Jahre zu einer frappierend massiven Bedrohung der rationalen und weltoffenen Form von Demokratie, welche die klassischen westlichen Demokratien über lange Zeit kennzeichnete. In den USA wurde ein für Isolationismus und „America first“ stehender politischer Amateur zum Präsidenten gewählt. Großbritannien beschloss den Brexit, in Frankreich stimmte 2017 ein gutes Drittel der Franzosen für Marine Le Pen vom rechtsextremen Front National, und in Deutschland zog die rechtsradikale und nationalistische AfD in den Bundestag ein. Auch in weniger demokratisch gefestigten Ländern kam die Demokratie weiter unter Druck: In der Türkei zerstörte Präsident Erdogan die Institutionen der Demokratie, in Ungarn und Polen übernahmen nationalistische und anti-europäische Regierungen das Ruder und schränkten die demokratischen Institutionen wie unabhängige Justiz und freie Presse massiv ein. Unter dem Vorwand, „dem Volk“ eine Stimme zu geben, betreiben politische Unternehmer, die zumeist den rechten, rechtsradikalen oder nationalistischen Lagern des politischen Spektrums angehören, faktisch eine Demontage der Demokratie. Ob Putin in Russland, Erdogan in der Türkei, Orban in Ungarn, Le Pen in Frankreich, die AfD in Deutschland oder Trump in den USA: Immer geht es darum, einer verunsicherten und weitgehend ahnungslosen Mehrheit von Enttäuschten durch nationalistische und fremdenfeindliche Parolen Versprechungen zu machen, die seriöse Politik nicht einhalten kann.
Populismus negiert Komplexität als prägendes Merkmal moderner Gesellschaften. Er vertritt stattdessen – wie beispielhaft etwa die Tea-Party-Bewegung, die aberwitzigen Positionen eines Donald Trump oder die Pegida-Bewegung zeigen – eine forcierte Trivialisierung gesellschaftlicher Probleme bis zu dem Punkt, an dem es ebenso einfach wird, „Schuldige“ zu finden wie triviale „Lösungen“ zu propagieren (ausführlich dazu Müller 2016). Ein simplifizierender Populismus auf der einen Seite, eine Entwicklung zu autoritären Regimen in vielen Ländern auf der anderen Seite belegen, dass die Überforderung durch Komplexität oft genug dazu führt, dass auf überlegen scheinende intuitive, „volksnahe“ Entscheidungen ausgewichen wird. Weil Freiheit darauf gerichtet ist, rationale Optionen zu erweitern und neue Möglichkeitsräume zu öffnen, ist die freiheitliche Demokratie ein erstes Opfer aller „schrecklichen Vereinfacher“, die einer nicht beherrschbar erscheinenden Komplexität mit der Beherrschung von Menschen durch vor-rationale, intuitive Entscheidungen bzw. „Eingebungen“ begegnen wollen.
Der Überforderung vieler Bürger durch vielfältige gesellschaftliche Komplexitäten setzt der Populismus die großen Vereinfachungen entgegen: einfache Lösungen, Reduktion auf Schwarz-Weiß-Bilder, summarische moralische Anschuldigungen und Antworten. Dass die Antworten unbrauchbar sind, darf nicht vergessen lassen, dass die Überforderung vieler Bürger real und folgenreich ist und dass diese daher in vielen Fällen selbst nur intuitiv entscheiden können. Wenn die Bürger ihre Repräsentanten und die Fachleute nicht mehr verstehen, dann werden sie leichte Beute derjenigen, die einfache Erklärungen aus dem Bauch heraus anbieten. Die gegenwärtigen Demokratien haben die Überforderung der Bürger durch eine hyperkomplexe Welt bislang nicht ernst genug genommen. Die Wenigsten verstehen die komplexen Kausalketten, die am Ende zu Migrationsströmen führen; nur Wenige verstehen, warum eine Energiewende notwendig ist, warum dafür keine Stromleitungen vorhanden sind und trotz allem Strom teurer wird; und es gibt wohl niemanden, der noch einen Überblick über die Zusammenhänge des Klimawandels hat. Und gegenwärtig hat die Welt hautnah erlebt, wie schwierig es ist, Menschen die Folgen einer exponentiellen Ausbreitung von Infektionen in einer globalen Pandemie verständlich zu machen. Aber alle diese Themen sind politische Themen und haben politische Relevanz und Konsequenzen. Entscheidungen müssen getroffen werden, und sie fallen, auch wenn die meisten Bürger/Wähler nicht mehr nachvollziehen können, wer warum wie entschieden hat.
Diese durch eine hpyerkomplexe Welt angetriebene Flucht aus der Rationalität ist nicht nur politisch brandgefährlich. Auch individuell und psychologisch gibt es bedenkliche Anzeichen. Wenn auch noch die absurdesten Verschwörungstheorien blühen, wenn zwischenmenschliche Kommunikation verstummt, weil alle auf ihr Smartphone starren, wenn es in Japan etwa eine Million „Hikikomori“ geben soll, also Menschen (hauptsächlich Männer), die sich über lange Zeit nicht mehr aus ihrem Zimmer trauen,4 dann zeigt sich daran beispielhaft, dass die Flucht aus der Rationalität einer Welt, die bedrohlich, überkomplex und intransparent erscheint, ein breit gestreutes Phänomen darstellt. Es erscheint wenig plausibel, dass Intuition hier Abhilfe schaffen oder auch nur zu einer Lösung beitragen könnte. Vielmehr ist zu befürchten, dass auch in dieser Hinsicht Intuition und intuitives Entscheiden eher Ausfluchten sind als sinnvolle Strategien, eher Ausrede für die fehlende Bereitschaft, sich den Herausforderungen der gegenwärtigen gesellschaftlichen Realitäten zu stellen.

3 Hybrides Entscheiden

Wenn ich nach allem, was ich bislang ausgeführt habe, dennoch das Konzept der Intuition nicht verabschieden möchte, so liegt dies an zwei Gründen. Zum einen möchte ich eine Definition von Intuition vorschlagen, die es erlaubt, Intuition an Wissen anzukoppeln. Zum anderen möchte ich die scharfe Trennung zwischen rationalem und nicht-rationalem Entscheiden mit einem Konzept des hybriden Entscheidens überbrücken.
Konstruktiv lässt sich Intuition verstehen als implizites Wissen (ausführlich zum intuitiven Wissen Willke 2011, S. 36 ff.). Intuitiv entscheiden heißt eben nicht, aus dem hohlen Bauch heraus zu entscheiden. Vielmehr ist dieser gefüllt mit angesammelter Erfahrung, mithin Wissen, welches allerdings nicht rational aufgearbeitet verfügbar ist, sondern implizit schlummert. Wenn eine erfahrene Managerin, ein Facharzt oder eine praxiserprobte Supervisorin in einer schwierigen und drängenden Situation intuitiv entscheidet, dann geschieht dies nicht voraussetzungslos, sondern auf dem Hintergrund langjähriger professioneller Expertise, die durch Praxis erworben wurde. Ein Teil dieser Expertise mag durchrationalisiert sein, durch Kommunikation, Reflexion oder andere Formen der Explikation offengelegt, während andere Teile dagegen implizit bleiben und sich unmittelbar in Handlungen/Entscheidungen ausdrücken können. Solche Entscheidungen scheinen selbst für die handelnden Personen aus dem Nichts zu kommen, aber das ist eine Täuschung. Implizites Wissen ist unsichtbares Wissen und selbst für die betroffene Person unsichtbar, solange es nicht in die Form der Sprache und in die Sichtbarkeit der Kommunikation gebracht worden ist. Aber es ist nicht einfach Bauchgefühl, sondern erworbenes und körperlich gespeichertes Wissen, welches sich in spontan erscheinenden Entscheidungen ausdrücken kann. Insbesondere Daniel Kahneman hat diesen Hintergrund ausführlich analysiert und den Zusammenhang von Intuition und Erfahrung als „Intuition as recognition“ beschrieben, indem er Herbert Simon zitiert: „Intuition is nothing more and nothing less than recognition“ (Kahneman 2011, S. 237). „Wiedererkannt“ werden dabei erlebte Erfahrungen und erworbene Fähigkeiten („acquired skills“), die als implizites Wissen gespeichert und verfügbar sind.
Wissen wird generiert, wenn Informationen – als selegierte Daten, also Unterschiede, die einen Unterschied ausmachen (Bateson 1984) – in einen Erfahrungskontext eingebaut werden und damit diesen Erfahrungskontext verändern und prägen. Jede Praxis erzeugt Wissen, und insofern lässt sich die kontinuierliche Erzeugung von Wissen gar nicht vermeiden. Aber jedes Wissen von Personen ist zunächst implizites Wissen, und es erfordert eine gesonderte und besondere Anstrengung der Explikation, um daraus rational verfügbares und kommunizierbares Wissen zu machen (Willke 2011). Wissensgenerierung ist notwendig an eine soziale Praxis gebunden, mithin an Kommunikation, und jede Generierung oder Veränderung von Wissen setzt eine „community of praxis“ (Wenger 1999) voraus, die bereit und in der Lage ist, entsprechende Kommunikationen zu tragen.
Das Verhältnis von Wissen und Entscheidung wird dadurch kompliziert, dass der Wissensbegriff changiert, je nachdem, welcher Gegenbegriff ihm zugeordnet wird. In archaischen Gesellschaften ist Glauben der Gegenbegriff zu Wissen, in frühmodernen Gesellschaften grenzt sich Macht von Wissen ab, und erst in der Moderne wird Nicht-Wissen zur anderen Seite des Wissens. Die Form des Wissens – im Sinne von Spencer Brown (1979) – verändert sich also je nach gesellschaftsgeschichtlicher Epoche. Innerhalb der Form Wissen/Glauben ist das Verlangen des Menschen nach Wissen im Prinzip eine Entscheidung gegen den Glauben, wie die Paradies-Parabel lehrt, denn Wissen im strengen Sinne können nur die Götter haben, nicht aber der Mensch. Die einzig relevante Entscheidung ist dann diejenige für oder gegen den Glauben. Allerdings zeigt sich bereits hier, und insbesondere in der jüdisch-christlichen Tradition, die ganze Verwirrung und Paradoxie des Entscheidens darin, dass unklar bleibt, wie der Mensch in seiner Nichtigkeit sich gegenüber einem allmächtigen und allwissenden Gott so etwas wie Entscheidungsfreiheit herausnehmen können soll oder, noch paradoxer, sich diese Freiheit von eben diesem Gott aufdrängen lassen muss.
Die Form Wissen/Macht wird perfekt vom Alexander-Mythos eingefangen. Während die Denker noch darüber nachgrübeln, wie der Gordische Knoten zu lösen sei, schlägt ihn Alexander einfach durch und belegt so die Überlegenheit der Macht vor dem Wissen. Dies ist, wohlgemerkt, keine intuitive Entscheidung Alexanders, sondern eine machtbasierte Entscheidung, die keine weitere Überlegung erfordert. Macht macht entscheidungsfähig, während Wissen die Dinge verkompliziert und (wie dann bei Hamlet) geradezu unfähig zur Entscheidung macht.
Die heute relevante Form von Wissen/Nichtwissen bringt andere Ausprägungen der Paradoxie des Entscheidens und ihren Bezug zur Intuition mit sich. Sobald Wissen diese Form annimmt, ist mit jeder Erzeugung von Wissen zwingend auch die Erzeugung von Nichtwissen verbunden. Mehr Wissen heißt dann mehr Nichtwissen, mehr Ungewissheit und mehr Risiko. Dies heißt auch, dass schwierige Entscheidungen nicht mehr rein rational begründet werden können, weil sie immer auch Nichtwissen und Risiko mit einschließen. Daraus entsteht die Notwendigkeit für hybrides Entscheiden. Damit ist gemeint, dass in Konstellationen hoher Komplexität und Ungewissheit Entscheidungen weder rein rational noch gewissermaßen ohne Kontrolle aus dem Bauch heraus getroffen werden sollten, sondern als hybride Kombination aus notwendig begrenzter Rationalität einerseits und einer expliziten Nutzung des impliziten Wissens andererseits. Dies setzt die Fähigkeit voraus, einerseits mit den Grenzen möglicher Rationalität umzugehen (und z. B. diese Grenzen nicht hinter dem Mythos des knallharten Managers oder der unfehlbaren Expertin zu verstecken), andererseits zugleich aber das Risiko einzugehen, implizites Wissen zuzulassen und zu nutzen, obwohl es noch nicht rational geprüft und in die Form der Sprache gebracht worden ist.
Da Wissen an Praxis hängt und Praxis immer auch anders möglich, also kontingent ist, ist jede Entscheidung für eine bestimmte Praxis eine Selektion aus möglichen Alternativen und mithin zugleich und unaufhebbar eine Entscheidung gegen andere mögliche Operationsformen, Praktiken und Realitäten. Wissen steigert somit die Komplexität der Entscheidungssituation, obwohl und weil für brauchbares Entscheiden Wissen natürlich notwendig erscheint. Damit gehören Entscheidung und Risiko untrennbar zusammen. Mit Luhmanns Formel ausgedrückt: „Komplexität … heißt Selektionszwang, Selektionszwang heißt Kontingenz, und Kontingenz heißt Risiko“ (Luhmann 1984, S. 47).
Hybrides Entscheiden wird dort besonders relevant, wo Entscheidungen in der Praxis allzu gerne mit Intuition begründet werden, nämlich bei Entscheidungen in Organisationskontexten, sei dies in den Formen von Management, Beratung, Coaching oder Supervision.
Wird die Kategorie des Wissens in eine zentrale Stelle der Entscheidungstheorie eingerückt, dann gewinnt die organisationale Einbettung von Entscheidungen noch mehr an Bedeutung. Wissen entsteht nur in kommunikativen Prozessen, und Nichtwissen ist der einzige relevante Auslöser für Kommunikationen, „denn Kommunikation findet ihren Anlaß ja typisch im Nichtwissen“ (Luhmann 1997, S. 39). Wissen und Kommunikation greifen auf dasselbe Rohmaterial zurück, nämlich Beobachtungen, Daten und Informationen. Organisationen erzeugen eine hochgradige Selektivität von Beobachtungen und Informationen durch etablierte Strukturen, Prozesse, Regeln und Rituale. Damit bestimmen organisationale Kontexte in hohem Maße, welches Wissen in und durch Organisationen generiert, verteilt und genutzt wird und welches Nichtwissen dabei zur Rahmenbedingung für Entscheiden wird.
Mit der Wissensintensität und der Entscheidungsdichte von Organisationen steigt der Bedarf an Mystifikationen, die unerklärliche Entscheidungen auf Intuition, Charisma, leadership oder die überlegene Expertise von Personen zurechnen. Zugleich bleibt paradoxerweise unklar, das heißt im strengen Sinne intransparent und kontingent, welche Entscheidungen richtig oder auch nur angebracht wären. Denn zu jeder Entscheidung gibt es Alternativen, deren Realisierung möglicherweise noch bessere Ergebnisse erbracht hätten. Organisationen setzen darüber hinaus Entscheidungsprämissen, welche die Entscheidungen für Organisationen plausibel machen, nicht aber für Personen. Alles Entscheiden impliziert damit zwingend Risiken für die Personen, denen Entscheidungen zugerechnet werden. Dies schafft seinerseits Risiken für die Organisation, weil Personen die Möglichkeit haben, Entscheidungssituationen umzudefinieren, zu negieren oder ihnen auszuweichen. Entscheidungsdruck in Organisationen erzeugt damit einen rekursiven, sich selbst verstärkenden Zirkel von Ungewissheiten und Risiken, der nur durch Mystifikationen wie Intuition einerseits, Heroisierung und Dämonisierung andererseits latent gehalten und damit handhabbar gemacht wird. Was wären angesichts dieser Bedingungen bessere Möglichkeiten, riskante Entscheidungen zu begründen?
Karl Weick gibt eine aufschlussreiche Antwort. Er empfiehlt, gute Geschichten zu erzählen: „In short, what is necessary in sensemaking is a good story“ (Weick 1995, S. 61). Mit dieser unkonventionellen Antwort verweist er darauf, dass es für die Mitglieder von Organisationen darauf ankommt, in ihrer eigenen Logik die Abläufe und Ereignisse in der Organisation zu verstehen und daraus einen sinnvollen Zusammenhang herzustellen. Dies wird umso schwerer fallen, je stärker sich die Logik der Organisation als dominant durchsetzt. Dennoch können Personen die Übermacht der Organisationen gerade dadurch konterkarieren, dass sie hartnäckig auf ihren eigenen Geschichten bestehen und damit die „großen Erzählungen“ der Organisationen unterlaufen. Vor allem entsteht Sinn für Personen erst im Nachhinein als Interpretation von vergangenen Ereignissen. In seiner unnachahmlichen Diktion drückt dies Karl Weick so aus: „How can I know what we did until I see what we produced?“ (ebd., S. 30).
Will man die spezifisch menschliche Entscheidungskompetenz fördern oder fordern, dann steht man vor einer paradoxen Aufgabe: Man muss Menschen ein Ja zur Bereitschaft abringen, Nein zu sagen. Diese Bereitschaft ist anspruchsvoll, weil sie sich auf Situationen und Konstellationen bezieht, die unvermeidbar intransparent und unkontrollierbar sind, und die Entscheider, die nein sagen, können nicht wissen, was sie damit für sich und ihre Organisation anrichten. Aber genau um dieses bewusst eingegangene Risiko der Verstörung geht es. Es ist ein Risiko für beide Seiten, sowohl für die Person wie auch für die Organisation. Sehr kluge Organisationen rechnen dies ein und ermöglichen einigen ihrer Mitglieder „skunk works“ oder andere Arten von Freiräumen für „organisations-freies“ Operieren (Fiol 1994), und die ganz Großen leisten sich für diesen Zweck ein Forschungsinstitut, einen Think tank oder „fellows“. Und sehr kluge Personen nehmen diesen Freiraum für sich in Anspruch, auch gegen die Organisation, um für die Organisation etwas zu bewirken, was diese nicht mehr oder noch nicht im Auge hat. Wird das Risiko dabei für Personen zu groß, dann bleibt immer noch die Ausrede, dass die fragliche Entscheidung intuitiv getroffen worden sei.
Ist man sich dieser problematischen Seiten des Konzepts der Intuition bewusst, dann lassen sich zwei Formen beschreiben, in denen Intuition eine produktive und instruktive Rolle spielen kann. Zum einen die eher subversive Form des „Papierkorbmodells des Entscheidens“; zum anderen die eher optimistische Form der Nutzung sozialer Kompetenz und sozialer Intelligenz.
Mit dem Papierkorb-Modell des Entscheidens bringen Cohen, March und Olsen die Tradition einer rationalen Verknüpfung von Problemen und Lösungen ins Wanken. Die rationale Konzeption geht davon aus, dass in Organisationen Probleme entstehen und daraufhin stringent und rational nach Lösungen gesucht wird. March und seine Mitautoren sehen demgegenüber die organisationale Wirklichkeit dadurch gekennzeichnet, dass Präferenzen problematisch, Technologien unklar und Partizipationen fluktuierend sind. Tatsächlich sind Organisationen damit eher organisierte Anarchien (March 1990, S. 330).
Vor diesem Hintergrund eines Verständnisses von Organisation kommen sie zu einer komplizierten Wechselwirkung zwischen dem Entstehen von Problemen in einer Organisation, dem Einsatz von Ressourcen und den Entscheidungen zur Behebung des Problems. An der Stelle einer klaren, linearen Beziehung zwischen diesen Elementen sehen sie vielmehr relativ unabhängige Ströme von Komponenten, vor allem Probleme, Lösungen und Ressourcen, die eher situativ und anarchisch aufeinander treffen: „Probleme werden oft gelöst, jedoch selten durch die Wahlmöglichkeit, der sie zunächst zugeordnet worden sind“ (ebd., S. 351). Dies heißt für die Praxis, dass nicht Lösungen für ein Problem gesucht werden, sondern dass es etablierte Lösungen gibt, die sich auf die Suche nach passenden Problemen machen.
Das Mülleimer-Modell bringt die Frage einer brauchbaren oder vernünftigen „Technologie der Torheit“ (ebd., S. 282 ff.) zum Vorschein. Wenn Organisationen in hohem Maße organisierte Anarchien darstellen, dann käme es darauf an, mit der unvermeidlichen Torheit intelligent umzugehen. Dies heißt vor allem, organisationale Abläufe so intelligent zu gestalten, dass es möglich ist, interessante Ziele und lohnende Probleme zu entdecken oder über Spiel und Imagination zu erzeugen. In diesem Sinne könnte Intuition eine subversive Torheit darstellen, die manchmal am Ende zu intelligenten Lösungen führt. Es liegt auf der Hand, dass die genannten Momente dem Selbstbild der rationalen, effizienten und effektiven Organisation ebenso widersprechen wie dem Mythos des heroischen Managers – und daher im offiziellen Diskurs wenig Gehör finden. Für alle Beteiligten wäre es schwierig, diesen Hintergrund organisationalen Entscheidens offen zu legen und damit die latente Funktion einer notwendigen Mystifizierung des Entscheidens preiszugeben. Eine Auflösung des Zirkels setzt voraus, dass Person und Organisation als unterschiedliche Welten und unterschiedliche Typen von Systemen verstanden werden und dann, in einem zweiten Schritt, brauchbare Formen ihres Zusammenspiels, ihrer „strukturellen Kopplung“ eingerichtet werden. Diese Auflösung ist allerdings unwahrscheinlich, weil sie das relativ geringe Gewicht von Personen in organisationalen Entscheidungskontexten demaskieren würde. Lohnender scheint es zu sein, weiterhin die Illusion des heroischen und intuitiven Entscheidens zu pflegen (Baecker 1994) und positiv klingende Anleitungen dafür zu entwerfen, wie Personen als Entscheider zu optimalen Entscheidungen kommen können.
Gegenüber dieser skeptischen Einschätzung gibt es doch immerhin einen Lichtblick für Intuition: die Nutzung emotionaler und sozialer Intelligenz in Prozessen des Entscheidens.

4 Emotionale und soziale Intelligenz in Entscheidungssituationen

Emotionale Intelligenz ist der Grad der Kompetenz, mit eigenen und fremden Emotionen produktiv und konstruktiv umzugehen. Soziale Intelligenz bezeichnet die Fähigkeit, Kommunikationssituationen und -konstellationen adäquat einzuschätzen und zu nutzen. Wichtig ist in unserem Zusammenhang, dass es nicht um emotionale und soziale Intelligenz im Allgemeinen geht, sondern spezifisch um deren Rolle und Bedeutung in Entscheidungsprozessen.
Auch hier erweist sich, dass ein wissens-basiertes Konzept von Intuition hilfreich ist, um zu verstehen, warum Intuition auf gemachten Erfahrungen gründet und nicht auf geheimnisvolle Weise aus dem Nichts oder aus dem Bauch heraus entsteht. Zeigt jemand emotionale Intelligenz in einer unübersichtlichen Entscheidungssituation, die schnelles Entscheiden erfordert, dann heißt dies nichts anderes, als dass diese Person ihr implizit gespeichertes Wissen um eigene und fremde Emotionen schlagartig aktiviert und sich von diesen Erfahrungen leiten lässt. Damit ist auch gesagt, dass emotionale Intelligenz nicht irgendwie einfach da ist oder eben auch nicht, sondern dass sie wie alles anderes Wissen auch auf Erfahrungen beruht, also denjenigen zuwächst, die in den entsprechenden Feldern nicht Novizen sind, sondern Expert/innen. Allerdings wäre auch hier Naivität verfehlt. Kahneman macht darauf aufmerksam, dass Erfahrungen, Lernen und erworbene Fähigkeiten unter zwei Bedingungen hilfreich sind: wenn die Lernkontexte hinreichend überschaubar und voraussagbar („predictable“) sind und wenn sie die Gelegenheit zu kontinuierlicher („prolonged“) Praxis ermöglichen. Dagegen führen hyperkomplexe und irreguläre Konstellationen („wicked environments“) zu Problemen, weil aus Erfahrungen falsche Schlüsse gezogen werden und dadurch Falsches gelernt wird (Kahneman 2011, S. 240). Genau deshalb können intuitive Entscheidungen auch ganz falsch liegen.
Analoges gilt für soziale Intelligenz. Erfahrungen im Umgang mit komplexen Kommunikationskonstellationen, die immer mehrere Menschen umfassen und in diesem Sinne soziale Konstellationen sind, werden als implizites Wissen gespeichert. Je mehr Erfahrung jemand darin hat, bis hin zu professioneller Schulung/Ausbildung/Praxis bezüglich solcher Konstellationen, desto leichter fällt es, in entsprechenden Situationen intuitiv zu entscheiden – was dann konkret nichts anderes heißt, als dass jemand in der Lage ist, sein/ihr angesammeltes Erfahrungswissen zu aktivieren und für schnelle Entscheidungen zu nutzen.
Auch wenn ich mit meiner Argumentation einer gewissen Entzauberung der Intuition das Wort rede, so verliert sie damit keineswegs an Bedeutung. Im Gegenteil: Ich verstehe Intuition als eine Kompetenz, die durch Erfahrung, Ausbildung und Professionalisierung zu einem wichtigen Bestandteil von Entscheidungskompetenz entwickelt werden kann. Diese Kompetenz wird umso wichtiger, je mehr komplexe und intransparente Entscheidungskonstellationen insbesondere für Führungskräfte zum Normalfall werden und je weniger plausibel es erscheint, schwierige Entscheidungen auf rein rationale Begründungen zu beschränken.
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Footnotes
1
Dieser etwas pauschale Satz ist ein Eigenzitat. In einem gemeinsamen Seminar mit Silja Kotte habe ich mit diesem Satz etwas unwirsch auf Teilnehmer/innen reagiert, die „Intuition“ immer dann ins Spiel brachten, wenn es schwierig wurde. Daraufhin hat Silja Kotte mich angeregt, diesen Satz zu erläutern – was ich hiermit tue.
 
2
Zweifellos gibt es auch seriöse Auseinandersetzungen mit dem Phänomen der Intuition; vgl. vor allem Gigerenzer (2008) und Gigerenzer (2013). Allerdings geht es mir hier nicht um eine umfassende Würdigung, sondern darum, eine kritische Gegenposition zu erläutern.
 
Literature
go back to reference Baecker, D. (1994). Postheroisches Management. Ein Vademecum. Berlin: Merve. Baecker, D. (1994). Postheroisches Management. Ein Vademecum. Berlin: Merve.
go back to reference Bateson, G. (1984). Geist und Natur. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Bateson, G. (1984). Geist und Natur. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
go back to reference Brown, S. G. (1979). Laws of form. New York: Dutton. Brown, S. G. (1979). Laws of form. New York: Dutton.
go back to reference Fiol, M. (1994). Consensus, diversity, and learning in organizations. Organization Science, 5(3), 403–420.CrossRef Fiol, M. (1994). Consensus, diversity, and learning in organizations. Organization Science, 5(3), 403–420.CrossRef
go back to reference Gigerenzer, G. (2008). Bauchentscheidungen. Die Intelligenz des Unbewussten und die Macht der Intuition (6. Aufl.). München: Goldmann. Gigerenzer, G. (2008). Bauchentscheidungen. Die Intelligenz des Unbewussten und die Macht der Intuition (6. Aufl.). München: Goldmann.
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Metadata
Title
Zur Rationalität der Intuition
Author
Prof. Dr. em. Helmut Willke
Publication date
23-10-2020
Publisher
Springer Fachmedien Wiesbaden
Published in
Organisationsberatung, Supervision, Coaching / Issue 4/2020
Print ISSN: 1618-808X
Electronic ISSN: 1862-2577
DOI
https://doi.org/10.1007/s11613-020-00676-2

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