1 Einleitung
Mit der weiten Verbreitung moderner Informations- und Kommunikationstechnologien sind Beschäftigte zunehmend immer und überall für Arbeitsbelange erreichbar. Laut repräsentativer Befragungen berichtet rund ein Drittel der abhängig Beschäftigten in Deutschland, zumindest manchmal in der Freizeit in arbeitsbezogenen Angelegenheiten kontaktiert zu werden, und knapp ein Viertel gibt an, dass von ihnen erwartet wird, auch im Privatleben für arbeitsbezogene Belange erreichbar zu sein (BAuA
2016; DAK
2017). Ähnliche Zahlen existieren auch für den europäischen Raum: In einer repräsentativen Befragung von abhängig Beschäftigten in 31 europäischen Ländern aus dem Jahr 2005 gaben 18 % an, manchmal von ihrer Arbeit in der Freizeit kontaktiert zu werden und weitere 21 % sogar häufig (Arlinghaus und Nachreiner
2014).
Pangert et al. (
2016) bezeichnen diese Verfügbarkeit von Beschäftigten für Arbeitsbelange (sowie in einem weiteren Sinn auch die Verfügbarkeit von Arbeitsbelangen für Beschäftigte), die über die Grenze der Arbeitsdomäne hinaus geht als
arbeitsbezogene erweiterte Erreichbarkeit (aeE). Im Unterschied zur Rufbereitschaft handelt es sich bei der aeE um eine unregulierte Flexibilitätsanforderung (Pauls et al.
2019), die meist auf zusätzliche, unbezahlte Arbeit in der Freizeit hinausläuft.
Inzwischen gibt es viele Studien, die mögliche Auswirkungen von aeE untersucht haben. Dabei zeigen sich vor allem Probleme beim
Abschalten von der Arbeit (z. B. Dettmers et al.
2016) und
Konflikte zwischen Arbeit und Privatleben (WFC; z. B. Voydanoff
2005). Einige Studien konnten für Beschäftigte ungünstige Zusammenhänge von aeE auch mit weiteren Variablen zeigen, z. B. Schieman und Young (
2013) mit Schlafstörungen, Dettmers et al. (
2016) mit emotionaler Erschöpfung und Voydanoff (
2005) mit Stress.
Im Gegensatz zu den Auswirkungen von aeE gibt es wenig Forschung, die Aufschluss darüber gibt, welche spezifischen Aspekte von Erreichbarkeit besonders problematisch sind. Dies ist jedoch von großer praktischer Bedeutung, da die Kenntnis der Wirkmechanismen von Erreichbarkeit mögliche Ansatzpunkte für eine Reduktion negativer Folgen bietet. Die Arbeiten von Dettmers et al. (
2016) sowie Ohly und Latour (
2014) haben gezeigt, dass die Freiwilligkeit von Erreichbarkeit eine Rolle spielt. Während bei Dettmers et al. (
2016) Erreichbarkeitserwartungen das Ausmaß der Erschöpfung und der mentalen Distanzierung von der Arbeit besser vorhergesagt haben als die Anzahl der Jobkontakte, war bei Ohly und Latour (
2014) die abendliche, arbeitsbezogene Smartphonenutzung aus Pflichtgefühl bzw. weil es erwartet wird mit negativen, ein intrinsisch motivierter abendlicher Gebrauch des Smartphones zu Arbeitszwecken jedoch mit positiven Folgen für das Wohlbefinden assoziiert. Weitere Forschungsergebnisse legen zudem nahe, dass es nicht vor allem die bloße Anzahl der Jobkontakte, sondern der mit der Bearbeitung von Kontaktanfragen verbundene Zeitaufwand sein könnte, der sich besonders negativ auswirkt. So zeigte ein Gedankenexperiment, bei dem sich die Teilnehmenden in eine Situation am Sonntagabend entweder ohne, mit kurzer oder mit längerer Erreichbarkeit hineinversetzen sollten, dass zwar schon die bloße Kontaktierung in der Freizeit negative Auswirkungen auf das Wohlbefinden hat, diese jedoch besonders stark ausgeprägt sind, wenn die Kontaktierung mit einem hohen Zeitaufwand einhergeht (Pangert et al.
2017a).
Ebenfalls gibt es kaum Studien zu Antezedenzien von aeE. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass individuelle Präferenzen bei der Trennung zwischen Arbeit und Privatleben (Derks et al.
2016), motivationale Gesichtspunkte (Ohly und Latour
2014), berufliches Engagement und Ehrgeiz (Boswell und Olson-Buchanan
2007), Leistungsdruck (Glavin und Schieman
2012) und die Arbeitsmenge (Derks et al.
2014) eine Rolle spielen könnten. Pangert et al. (
2017a) fanden außerdem Anzeichen dafür, dass Notfälle, eine Überlastung der Beschäftigten sowie eine Kultur der Erreichbarkeit im Betrieb Auslöser von aeE darstellen könnten. Eine systematische Einbeziehung verschiedener möglicher Auslöser von Erreichbarkeit ist von großer praktischer Bedeutung, da diese bei der Planung zukünftiger Interventionen für eine Reduktion von aeE mögliche Ansatzpunkte für Maßnahmen bieten.
Die Fragestellung der vorliegenden Studie ist daher eine doppelte: Zum einen möchten wir herausfinden, ob der Zeitaufwand für Erreichbarkeit einen über die Anzahl der Jobkontakte hinausgehenden Beitrag zur Aufklärung der Varianz bei den beiden in der Literatur am besten untersuchten Kriterien (WFC sowie Abschalten von der Arbeit) leistet. Zum anderen werfen wir die Frage auf, welche Bedingungen Erreichbarkeit vorhersagen, wobei wir neben Kontrollvariablen sowohl mögliche personenbezogene Antezedenzien als auch Faktoren auf der Ebene der Arbeitsbedingungen miteinbeziehen. Diese zwei Fragestellungen sind von hoher praktischer Relevanz, da beide Ansatzpunkte für eine gesündere Gestaltung von aeE bieten.
3 Methode
3.1 Vorgehen und Stichprobe
Die Daten wurden über eine Onlinebefragung von Angestellten einer öffentlich-rechtlichen und einer genossenschaftlichen Bank mit jeweils rund 500 Beschäftigten erhoben. Diese bekamen über ihre dienstliche Emailadresse durch die Kontaktperson bei der jeweiligen Bank einen Link zur Befragung zugesendet, mit der Bitte, an dieser teilzunehmen. Der Fragebogen enthielt Frageblöcke zu den Präferenzen hinsichtlich der Gestaltung von Arbeit und Privatleben, zum Ausmaß der aeE, zu möglichen Auslösern, Umgangsstrategien sowie Kriteriumsvariablen und Fragen zur Demographie. Die Bearbeitung des Fragebogens dauerte ca. 20 min.
Insgesamt nahmen 341 Beschäftigte an der Befragung teil, von denen 163 angaben, in der Freizeit für Arbeitsbelange erreichbar zu sein. Davon wiesen 13 auf mindestens einer der relevanten Variablen fehlende Werte auf und mussten von den Analysen ausgeschlossen werden. Die verbleibenden 150 erreichbaren Angestellten bildeten unsere Analysestichprobe. 61 % unserer endgültigen Stichprobe waren weiblich, 14 % unter 30, 19 % zwischen 30 und 40, 31 % zwischen 40 und 50 und 36 % über 50 Jahre alt. 75 % der Befragten arbeiten Vollzeit, 23 % hatten Führungsverantwortung (n = 5 keine Angabe) und mit 22 % hatte nur ein relativ kleiner Anteil in der Freizeit Zugriff auf die Arbeitsmails. Es gaben jedoch 95 % an über ein Smartphone zu verfügen.
3.2 Erhebungsinstrumente
Alle Variablen wurden, sofern nichts anderes erwähnt ist, auf einer fünfstufigen Likertskala mit Antwortmöglichkeiten von 1 (völlig unzutreffend) bis 5 (völlig zutreffend) erfasst.
4 Ergebnisse
Eine Übersicht über Mittelwerte, Standardabweichungen und Interkorrelationen findet sich in Tab.
1. Hervorzuheben ist, dass es zwischen dem Zeitaufwand und positiven Einstellungen zur aeE in der für die Studie ausgewerteten Stichprobe der Erreichbaren (
n = 150) einen Zusammenhang von
r = 0,02,
p = 0,83 gibt, während er in der Gesamtstichprobe (
n = 361)
r = 0,15,
p < 0,01 betrug. Implikationen hieraus werden in der Diskussion thematisiert.
Tab. 1Mittelwerte und Korrelationen
1. Angenommene Kontakte | – | | | | | | | | | | | | |
2. Zeitaufwand | 0,46 | – | | | | | | | | | | | |
3. Segmentationspräferenz | −0,16 | −0,26 | 0,91 | | | | | | | | | | |
4. Positive Einst. zur aeE | 0,11 | 0,02 | −0,46 | 0,68 | | | | | | | | | |
5. Begeisterung | 0,10 | 0,07 | −0,39 | 0,27 | 0,90 | | | | | | | | |
6. Notfälle | 0,40 | 0,24 | −0,24 | 0,34 | 0,22 | 0,82 | | | | | | | |
7. Überlastung | 0,46 | 0,48 | −0,02 | 0,05 | 0,01 | 0,31 | 0,88 | | | | | | |
8. Erreichbarkeitskultur | 0,20 | 0,21 | 0,13 | −0,00 | −0,31 | 0,17 | 0,40 | – | | | | | |
9. WFC | 0,12 | 0,23 | 0,17 | 0,01 | −0,36 | 0,04 | 0,40 | 0,40 | 0,92 | | | | |
10. Abschalten | −0,21 | −0,20 | −0,18 | 0,03 | 0,33 | 0,00 | −0,22 | −0,27 | −0,57 | 0,86 | | | |
11. Arbeitszeit | 0,27 | 0,31 | −0,08 | 0,07 | 0,14 | 0,29 | 0,27 | 0,10 | 0,23 | −0,15 | – | | |
12. Geschlecht | 0,29 | 0,32 | −0,22 | 0,07 | 0,13 | 0,42 | 0,19 | 0,02 | −0,03 | 0,06 | 0,42 | – | |
13. Zugriff | −0,58 | −0,50 | 0,15 | −0,02 | −0,20 | −0,36 | −0,46 | −0,02 | −0,04 | 0,12 | −0,31 | −0,46 | – |
Mean | 6,20 | 2,26 | 3,83 | 2,85 | 4,42 | 1,97 | 1,80 | 2,04 | 2,26 | 3,43 | 37,75 | – | – |
SD | 10,48 | 1,07 | 1,01 | 0,92 | 1,01 | 1,00 | 0,91 | 0,88 | 0,95 | 0,85 | 9,09 | – | – |
Alle Berechnungen wurden mit SPSS 22 durchgeführt. Die Hypothesen 1a, 2a sowie 3 und 4 wurden anhand dreier multipler Regressionsanalysen (Tab.
2,
3 und
5) und die Hypothesen 1b und 2b (Tab.
4) mit dem Process Plugin von Hayes (
2013) getestet. Im Kontext der Hypothesen 3 und 4 wurden zunächst in einem ersten Schritt die Kontrollvariablen eingegeben, im zweiten Schritt die Antezedenzien auf der individuellen Ebene und im dritten Schritt die Faktoren auf der organisationalen Ebene.
4.1 Hypothesen zum Zusammenhang zwischen Zeitaufwand für Erreichbarkeit und WFC
Der Zeitaufwand für Erreichbarkeit leistete einen zusätzlichen über die Anzahl der arbeitsbezogenen Kontakte hinausgehenden Beitrag zur Aufklärung der Varianz bei WFC (
p = 0,01) und war wie erwartet als Prädiktor in der Regressionsanalyse signifikant,
b = 0,22,
p = 0,01 (H1a) (Tab.
2). Ebenfalls fanden wir den von uns vermuteten Mediatoreffekt (H1b), der jedoch nur partiell war. Der Zusammenhang zwischen dem Zeitaufwand und WFC wurde teilweise über eine Erhöhung der Gesamtarbeitszeit vermittelt (
b = 0,04 [0,01; 0,10];).
Tab. 2Vorhersage des WFC durch Kontrollvariablen und den Zeitaufwand für Erreichbarkeit
Geschlecht | −1,30 | 0,17 | −0,07 | −0,22* | 0,17 | −0,12 |
Anzahl Kontakte | 0,01 | 0,01 | 0,14 | 0,00 | 0,01 | 0,05 |
Zeitaufwand für Erreichbarkeit | – | – | – | 0,22* | 0,08 | 0,24 |
Änderung in R2 | 0,02 | 0,04* |
R2 gesamt | 2 % | 6 %* |
4.2 Hypothesen zum Zusammenhang zwischen Zeitaufwand für Erreichbarkeit und Abschalten
Der Zeitaufwand für Erreichbarkeit leistete anders als erwartet keinen zusätzlichen über die Anzahl der arbeitsbezogenen Kontakte hinausgehenden Beitrag zur Aufklärung der Varianz im Kriterium und war kein signifikanter Prädiktor,
b = −0,13,
p = 0,07 (H2a) für das Abschalten (Tab.
3).
Ohne die Anzahl der Kontakte als Kontrollvariable zeigte sich jedoch, dass ein Zusammenhang zwischen Zeitaufwand und Abschalten besteht und teilweise über eine höhere Gesamtarbeitszeit vermittelt ist (H2b;
b = −0,03 [−0,07; −0,00]; Tab.
4).
Tab. 3Vorhersage von Abschalten durch Kontrollvariablen und den Zeitaufwand für Erreichbarkeit
Geschlecht | 0,22 | 0,15 | 0,13 | 0,28 | 0,15 | 0,16 |
Anzahl Kontakte | −0,02** | 0,01 | −0,24 | −0,01 | 0,01 | −0,18 |
Zeitaufwand für Erreichbarkeit | – | – | – | −0,13 | 0,07 | −0,17 |
Änderung in R2 | 0,06* | 0,02 |
R2 gesamt | 6 %* | 8 %** |
Tab. 4Gesamtarbeitszeit als Mediator des Zusammenhangs zwischen Zeitaufwand und WFC bzw. Abschalten
Geschlecht | −0,38* | 0,17 | −0,20 | 0,33* | 0,16 | 0,19 |
Gesamtarbeitszeit | 0,03** | 0,01 | 0,25 | −0,16 | 0,01 | 0,17 |
Zeitaufwand | 0,19* | 0,08 | 0,21 | −0,16* | 0,07 | 0,21 |
Indirekter Effekt | 0,04 [0,01, 0,10] | 0,02 | – | −0,03 [−0,07, −0,00] | – | – |
R2 | 11 %** | 8 %** |
4.3 Antezedenzien von Erreichbarkeit
Unter den Kontrollvariablen war der Zugriff auf Arbeitsemails in allen drei Regressionsschritten ein signifikanter Prädiktor für den Zeitaufwand für Erreichbarkeit (b = −1,12, p < 0,01; b = −1,15, p < 0,01; b = −0,77, p < 0,01), wobei das Beta nach der Hinzunahme der Arbeitsbedingungen stark zurückgegangen ist. Das Geschlecht war bei keinem der Schritte signifikant.
5 Diskussion
Das Ziel unserer Arbeit war es Antezedenzien von aeE auf verschiedenen Ebenen zu identifizieren und den Zeitaufwand für Erreichbarkeit über die Erhöhung der Arbeitszeit als möglichen Mechanismus für negative Effekte von aeE zu untersuchen. Dabei zeigte sich, dass der Zeitaufwand für Erreichbarkeit WFC (H1a), aber nicht das Abschalten von der Arbeit (H2a) besser vorhersagte als die bloße Anzahl der angenommenen Kontakte. Sowohl der Zusammenhang zwischen dem Zeitauswand für Erreichbarkeit mit WFC (H1b) wie auch mit Abschalten (H2b) wurde über eine höhere Gesamtarbeitszeit vermittelt. Hinsichtlich der Antezedenzien bestätigte sich, dass eine höhere Präferenz zur Segmentierung der Lebensbereiche mit einem geringeren Zeitaufwand für Erreichbarkeit einhergeht (H3a) sowie auf der Ebene der Arbeitsbedingungen, dass eine stärkere Überlastung einen höheren Zeitaufwand vorhersagt (H4b). Positive Einstellungen zur aeE (H3b), Begeisterung für die Arbeit (H3c), eine Verantwortlichkeit für Notfälle (H4a) oder das Ausmaß einer Erreichbarkeitskultur konnten den Zeitaufwand (unter Berücksichtigung aller anderen Faktoren) nicht vorhersagen.
5.1 Zeitaufwand für Erreichbarkeit, WFC und Abschalten von der Arbeit
Der Zusammenhang zwischen dem Zeitaufwand für Erreichbarkeit und WFC sowie die Mediation durch die Gesamtarbeitszeit sind mit der Annahme vereinbar, dass der Zeitaufwand die Gesamtarbeitszeit erhöht und dies aufgrund von Zeitmangel zu stärkeren Konflikten zwischen Arbeit und Privatleben führt. Die Tatsache, dass die Mediation nur partiell ist, indiziert jedoch auch, dass der Zusammenhang nicht ausschließlich durch die Erhöhung der Gesamtarbeitszeit zustande kommt, es also nicht nur eine Frage der Zeit ist, sondern auch, wie Boundary- und Border-Theorie nahelegen, andere Faktoren wie Rollenkonflikte und ein stärkeres Übergreifen arbeitsbezogener Stressoren von Bedeutung sind (Ashforth et al.
2000; Clark
2000). Während sich unsere Vorhersagen bezüglich WFC bestätigten, konnte der Zeitaufwand für Erreichbarkeit Probleme beim Abschalten nicht besser vorhersagen als die Anzahl der arbeitsbezogenen Kontakte. Dies könnte dadurch erklärt werden, dass die Zeitdauer hier – anders als angenommen – tatsächlich keinen Unterschied beim Abschalten von der Arbeit macht, sondern, wie die Boundary-Theorie nahelegt, alleine schon der Arbeitskontakt in der Freizeit zu einem Übergang aus der aktuellen Rolle in die Rolle als Arbeitnehmer*in dazu führt, dass arbeitsbezogene Gedanken aktiviert werden und ein Abschalten erschweren. Wir möchten aber darauf hinweisen, dass das Fehlen einer inkrementellen Varianzaufklärung nicht bedeutet, dass sich aeE nicht negativ auf das mentale Distanzieren von der Arbeit auswirken. Auch der ohne Einbezug der arbeitsbezogenen Kontakte bedeutsame Zusammenhang zwischen Zeitaufwand und Abschalten wird partiell durch ein Ansteigen der Gesamtarbeitszeit vermittelt.
5.2 Antezedenzien auf der individuellen Ebene
Die Boundary-Theorie legt nahe, dass Individuen unterschiedliche Präferenzen bei der Segmentation bzw. Integration der Lebensbereiche aufweisen und diese Annahme konnte auch in Bezug auf Erreichbarkeit bestätigt werden. Eine höhere Präferenz zur Integration ging in unserer Studie mit mehr Erreichbarkeit einher. Ein Grund dafür, dass positive Einstellungen zur aeE nach Einbezug der übrigen Antezedenzien und Kontrollvariablen nicht auch mit dem Zeitaufwand für Erreichbarkeit assoziiert waren, könnte sein, dass Personen, die eine negativere Einstellung zu aeE haben, eher nicht in ihrer Freizeit für Arbeitsbelange erreichbar sind. Diese Annahme wird dadurch gestützt, dass es in der untersuchten Stichprobe der Erreichbaren bivariat einen Nullzusammenhang zwischen positiven Einstellungen zur aeE und dem Zeitaufwand gibt, während der von uns angenommene Zusammenhang in der Gesamtstichprobe bivariat existiert.
Das Fehlen eines Zusammenhangs zwischen Begeisterung für die Arbeit und dem Zeitaufwand geht mit dem Befund von Hassler et al. (
2016) konform, die in ihrer Studie keinen Unterschied bei verschiedenen Indikatoren für Arbeitsengagement und -zufriedenheit zwischen erreichbaren und nicht erreichbaren Beschäftigten finden konnten. Boswell und Olson-Buchanan (
2007) hatten zwar auch keinen Zusammenhang mit affektivem Commitment gefunden, allerdings gab es in ihrer Studie Zusammenhänge zwischen Ehrgeiz bzw. beruflichem Engagement auf der einen und dem Ausmaß der arbeitsbezogenen Techniknutzung in der Freizeit auf der anderen Seite. Eine mögliche Erklärung für diesen Widerspruch könnte sein, dass Beschäftigte zwar durchaus aus taktischen Gründen in ihrer Freizeit erreichbar sind, intrinsische Motive hier jedoch keine Rolle spielen.
5.3 Antezedenzien auf der Ebene der Arbeitsbedingungen
Überlastung ist im Vergleich mit Notfällen und Erreichbarkeitskultur auf der Ebene der Arbeitsbedingungen der stärkste Treiber von aeE. Dass eine Verantwortlichkeit für Notfälle im Unternehmen, zumindest im Kontext der übrigen Antezedenzien, nicht mit einem höheren Zeitaufwand für Erreichbarkeit zusammenhing, könnte mit Eigenheiten der untersuchten Branche erklärt werden. Während in anderen Bereichen (z. B. im IT-Sektor, vgl. Menz
2017) Notfälle beim Kunden bzw. im eigenen Unternehmen ein relevantes Thema sind, und den Zeitaufwand für Erreichbarkeit erhöhen (Pauls et al.
2019), scheinen solche Notfälle im Finanzdienstleistungssektor eher von untergeordneter Bedeutung zu sein. Eine Erreichbarkeitskultur als möglicher Auslöser von aeE wurde von Beschäftigten im Rahmen qualitativer Interviews immer wieder thematisiert (Menz
2017), hat sich jedoch nach Einbezug der Kontrollvariablen weder in dieser noch in einer vorherigen Studie (Pauls et al.
2019) empirisch bestätigt. Wir vermuten, dass solche impliziten Erreichbarkeitserwartungen von den Beschäftigten zwar durchaus wahrgenommen werden, aber bei der Mehrheit nicht handlungsleitend sind. Es muss jedoch gesagt werden, dass die Mittelwerte auf den Skalen, die die Ursachen erfassen, unter dem Skalenmittelpunkt liegen und somit ein (noch) geringer Erreichbarkeitsdruck vorhanden zu sein scheint, was sich auch im eher niedrigen Ausmaß an aeE wiederspiegelt.
5.4 Limitationen
Da es sich hier um Querschnittsdaten handelt, können aus der Studie keine sicheren kausalen Schlüsse gezogen werden und es bedarf weiterer längsschnittlicher Untersuchungen um die Frage der Ursache-Wirkungs-Beziehung zu klären. Des Weiteren war die Reliabilität der Messung der Erreichbarkeitskultur vergleichsweise gering und könnte dadurch zum diesbezüglichen Nullbefund beigetragen haben. Auch muss angemerkt werden, dass die Stichprobengröße eher klein ist und aus einer bestimmten Branche stammt, so dass man mit Generalisierungen vorsichtig sein sollte.
5.5 Implikationen und Schlussfolgerungen
Die Studie zeigt, dass Antezedenzien von Erreichbarkeit auf unterschiedlichen Ebenen liegen und sowohl Faktoren auf der Personenebene (persönliche Präferenzen) als auch strukturelle Bedingungen (Zugriff auf E‑Mails) und Arbeitsbedingungen (Überlastung) eine Rolle spielen. Da aeE mit negativen gesundheitlichen und privatlebensbezogenen Auswirkungen für die Beschäftigten verbunden ist (Pangert et al.
2016), sollte man diese unterschiedlichen Ebenen dazu nutzen, um Ansatzpunkte zu finden, die Erreichbarkeit zu reduzieren. Auf der individuellen Ebene könnte man z. B. mit Aufklärung über die potentiellen Gefahren von aeE beginnen, denn aeE kann auch für Personen, die freiwillig in ihrer Freizeit für Arbeitsbelange erreichbar sind, schädliche Auswirkungen haben (Hassler et al.
2016). Da sich alleine die Möglichkeit des Zugriffs auf arbeitsbezogene E‑Mails als ein Prädiktor des Zeitaufwandes herausgestellt hat, könnte man sich hinsichtlich struktureller Bedingungen überlegen, inwiefern es von Unternehmensseite gewollt und notwendig ist, dass Beschäftigte in ihrer Freizeit Zugriff auf ihre Arbeitsemails haben und hier gegensteuern. Allerdings muss man auch bedenken, dass die Möglichkeit des Abarbeitens von E‑Mails in der Freizeit von Arbeitnehmern teilweise als Ressource verstanden wird (vgl. Duranova und Ohly
2016). Der wichtigste Ansatzpunkt scheint daher die Arbeitsmenge und die damit verbundene Überlastung zu sein. Hier sind zum einen betriebliche Strategien zu einer Reduktion der Überlastung von Mitarbeitern denkbar als auch eine Förderung von Selbstmanagementkompetenzen. Beispiele für konkrete Maßnahmen finden sich bei Pangert et al. (
2017b). Die Rolle des Zeitaufwands für Erreichbarkeit lässt darauf schließen, dass man zumindest einen Teil der negativen Auswirkungen von aeE abmildern kann, wenn man bei einer Reduzierung des Zeitaufwandes ansetzt, etwa dadurch, dass wichtige Kontaktanfragen priorisiert und weniger wichtige in der Freizeit nicht beantwortet werden (vgl. Pangert et al.
2017b). Voraussetzung hierfür sind allerdings geeignete Rahmenbedingungen, wie z. B. betriebs- bzw. abteilungsinterne Absprachen, die den Druck von den Beschäftigten nehmen und ihnen den entsprechenden Handlungsspielraum garantieren.
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