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2020 | Book

Demokratie und Anomie

Eine fundamentale Herausforderung moderner Volksherrschaft in Theorie und Praxis

Editors: Prof. Dr. Martin Sebaldt, Simon Bein, Mag. Sebastian Enghofer, Verena Ibscher, Luis Illan

Publisher: Springer Fachmedien Wiesbaden

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About this book

Moderne Demokratien stehen vor fundamentalen Herausforderungen. Dazu zählt das Phänomen der Anomie, verstanden als Zustand systematischen Normen- und Ordnungsverlusts. Die Studie dokumentiert die weite Verbreitung anomischer Potentiale in westlichen Demokratien, belegt aber auch deren Ambivalenz: Denn aus solchen Gefahren können auch Lerneffekte resultieren, die eine politische Modernisierung begünstigen. Auf dieser breiten empirischen Erkenntnisgrundlage unternimmt die Studie eine interdisziplinäre theoretische Erklärung dieser faszinierend vielfältigen Herausforderung moderner Demokratien.

Table of Contents

Frontmatter

Einführung und theoretische Grundlagen

Frontmatter
Anomie als fundamentale Herausforderung moderner Demokratien: Problemstellung, Forschungsdesiderate und Koordinaten des Projekts
Zusammenfassung
Das Spannungsverhältnis zwischen Demokratie und Anomie ist wissenschaftlich nur ansatzweise untersucht. Der einführende Beitrag dokumentiert zunächst diesen unbefriedigenden Forschungsstand, indem er bisherige Studien zu demokratischen Defekten auf diese spezifische Thematik hin untersucht und dabei die entsprechenden inhaltlichen Blindstellen herausarbeitet. Davon ausgehend wird sodann das Programm der gesamten Studie entwickelt, welches der Bewältigung dieses Forschungsdesiderats dient.
Martin Sebaldt
Das Problem der Anomie: Ideengeschichtliche Traditionen und moderne sozialwissenschaftliche Theorien
Zusammenfassung
Der Begriff „Anomie“ reicht bis in die Antike zurück. Ursprünglich bezeichnete anomisches Verhalten individuelle Verfehlungen, welche göttlichen Rechts- und Moralvorstellungen widersprachen. Erst später verschiebt sich der Anomiebegriff hin zur Beschreibung sozialer Zustände. Mit Durkheim findet Anomie als Beschreibung sozialer Desorganisation Eingang in die moderne Soziologie, um später von Merton zur Erklärung kriminellen Verhaltens verwendet zu werden. In der Politikwissenschaft jedoch ist der Zusammenhang von Anomie und politischer Ordnung bis heute nur ansatzweise durchleuchtet.
Simon Bein, Sebastian Enghofer

Strukturelle Annäherungen

Frontmatter
Anomie durch Kontrollverlust? Handlungsspielräume und Lenkungsprobleme deutscher Geheimdienste
Zusammenfassung
Der Beitrag geht der Frage nach, inwiefern Defizite parlamentarischer Nachrichtendienstkontrolle anomisches Potenzial bergen. Anhand der Kontrolle von BND, BfV und MAD durch das Parlamentarische Kontrollgremium des Deutschen Bundestages lassen sich derartige anomische Tendenzen in Gestalt normabweichender Verhaltensweisen der beteiligten Akteure identifizieren. Ursächlich hierfür sind Pathologien in Kontrollnormen und -architektur, die insbesondere aus dem Spannungsfeld zwischen nachrichtendienstlichem Effizienzprinzip und dem Kontrolle einfordernden Demokratieprinzip resultieren.
Andreas Friedel
Anomie durch Machtkonkurrenz? Die Bedrohung lateinamerikanischer Demokratien durch das Militär
Zusammenfassung
Wie kaum ein anderer Raum eignet sich Lateinamerika, um das anomische Potenzial des Militärs zu veranschaulichen. Denn dessen maßgebliche politische Rolle seit der Entkolonialisierung führte zu weitreichenden militärischen Prärogativen in den dortigen Staaten. Anhand der Fallbeispiele Argentinien, Brasilien und Chile wird gezeigt, dass vor allem der Charakter der Machtausübung und der Grad an Repression ausschlaggebend für den militärischen Einfluss waren und sind. Anomische Erblasten lateinamerikanischer Demokratien sind daher auch im Rahmen aktueller Krisen bemerkenswert aktuell.
Alexander Straßner
Anomie durch Exklusion? Ursachen, Profile und Effekte des modernen systemkritischen Populismus in Österreich
Zusammenfassung
Populismus ist eine zentrale Herausforderung moderner Demokratien. Ausgehend von der Prämisse, dass Populismus eine Logik der Exklusion besitzt, geht der Beitrag am Beispiel der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) dem anomischen Potenzial populistischer Akteure auf den Grund. Dabei zeigt sich zum einen, dass die rechtspopulistische FPÖ selbst ebenso ausgegrenzt wird wie sie es gegenüber anderen Gruppen praktiziert. Zum anderen ist erkennbar, dass diese populistische Herausforderung die österreichische Politik zu Lernprozessen zwingt, denn populistische Themen sind hochaktuell.
Raphael Gritschmeier
Anomie durch Überkomplexität? Regulierungsprobleme komplexer Mehrebenensysteme am Beispiel der Inneren Sicherheit Deutschlands im Rahmen der EU
Zusammenfassung
Eine Zunahme an Handlungsinterdependenzen und übergreifenden Problemzusammenhängen stellt insbesondere die Politik in Mehrebenensystemen vor fortwährende Herausforderungen. Mit Blick auf die Koordination zwischen den Ebenen gilt es dabei, vor allem eine funktionale Balance aus struktureller Vereinheitlichung und Flexibilität zu wahren. Der vorliegende Beitrag untersucht am Beispiel der Inneren Sicherheitsgewährleistung zwischen Bund, Ländern und EU, inwiefern über- bzw. unterkomplexe Koordinationsstrukturen in Mehrebenensystemen einen Nährboden für anomische Entwicklungen darstellen können.
Luis Illan

Funktionale Annäherungen

Frontmatter
Anomie durch Ressourcenraubbau? Ursachen, Muster und Folgen am Beispiel des Niedergangs der Bundeswehr
Zusammenfassung
Die Bundeswehr laboriert an sechs Kardinalproblemen, die maßgeblich zu ihrem Niedergang beigetragen haben: Sie verfügt über keine Reserven für den Spannungsfall, verliert an personeller Substanz, verschwindet durch Wehrpflichtaussetzung und Standortsterben aus der gesellschaftlichen Mitte, ist rüstungstechnisch eine Ruine, hat veraltete Strukturen und leidet an einem eklatanten Strategiedefizit. Der Beitrag zeigt, dass dies bisher in Bevölkerung und Truppe nur begrenzt zu anomischen Unzufriedenheitspotenzialen geführt hat. Gerade die jüngsten Trends deuten hier aber eine Verschlechterung an.
Martin Sebaldt
Anomie durch Fehlsteuerung? Planungsgrundsätze und Effekte der europäischen Finanzpolitik im Gefolge der Schuldenkrise
Zusammenfassung
Der Beitrag unternimmt den Versuch, am Fall der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise Anomien, also Zustände systematischen Normen- und Ordnungsverlusts, in der Finanzpolitik zu identifizieren. Dazu werden für ausgewählte Politikfelder der europäischen Finanzmarkt- und Haushaltspolitik evidente Regelungslücken aufgesucht und den politischen Maßnahmen zur Überwindung dieser Defizite gegenübergestellt. Es zeigt sich, dass Regelungsdefizite nun teilweise von Übersteuerung abgelöst werden und hierarchische Fremdsteuerung dafür anfälliger ist als Gegenstände der Selbstkoordination.
Maximilian Grasl
Anomie durch Integrationsversagen? Die Rolle der Korruption in Italien als Begleiterscheinung schwacher Bindungen an den Nationalstaat
Zusammenfassung
Korruption ist ein Phänomen, welches als Abweichung von politischen und gesellschaftlichen Normen und damit als Form von Anomie in Demokratien eingestuft werden kann. Anhand des Fallbeispiels Italien lässt sich nachzeichnen, dass sich die konkreten Formen dortiger Korruption auf Ursachen zurückführen lassen, die letztlich in der schwachen Bindung an den Nationalstaat wurzeln. Politisches Integrationsversagen, welches auch als Defizit staatlicher Leistungsfähigkeit verstanden werden kann, bedingt aus dieser funktionalen Perspektive anomische Verhaltensweisen in Form korrupter Handlungen.
Sabine Fütterer
Anomie durch Identitätsgefährdung? Chancen und Risiken der Leitkulturkontroverse in Deutschland
Zusammenfassung
Demokratien sind auf eine gemeinsame Identität als Grundlage sozialen Zusammenhalts angewiesen. Doch die gegenwärtigen identitätspolitischen Spannungen führen einerseits zum Streben nach partikularer Anerkennung, lassen andererseits aber die Frage offen, was die liberal-demokratische Gesellschaft im Ganzen noch zusammenhält. Die Leitkulturdebatte in Deutschland versinnbildlicht dieses Problem. Der Beitrag geht deshalb der Frage nach, welche Chancen und anomischen Risiken die Leitkultur-Idee für den Zweck einer funktionalen Ausgestaltung kollektiver Identität in modernen Demokratien haben kann.
Simon Bein

Transversale Annäherungen

Frontmatter
Anomie durch Relativismus? Das Problem normativer Rechtfertigung moderner Demokratie in theoretisch-vergleichender Perspektive
Zusammenfassung
Die Frage nach der Bedeutung des Relativismus für die Entstehung von Anomie im demokratischen Kontext ist nicht ohne weitergehende Annahmen zu klären. Anomisches Potenzial kann man Relativismus nur dann attestieren, wenn man ihn normativistisch zu bewerten sucht, ihn also mit einem naturrechtlich begründeten und damit vorausgesetzten demokratietheoretischen Maßstab beurteilt. Negiert man dies aber, gibt es im Grunde auch keinen Maßstab für das Anomische. ‚Anomie‘ wäre dann vielmehr nur ein weiteres mögliches Element der „unendlichen Aufgabe“, welche die Demokratie darstellt.
Jan Kleine
Anomie als Strukturdefekt der Demokratie? Einsichten aus der Theorie demokratischer Antinomien mit einem Ausblick auf das Verhältnis zur Religion
Zusammenfassung
Der Beitrag zeigt entlang der Antinomien der Demokratie, wie demokratisch zustande kommendes Recht legitimitätstheoretisch unsicher und normativ angreifbar bleibt. Der Begriff der Anomie ist dabei geeignet, die Entkoppelung geltender Gesetze und demokratischer Prozeduren als übergreifenden Strukturdefekt der modernen Volksherrschaft zu identifizieren, ein Defekt, der in mehrfacher Hinsicht selbstzerstörerisch wirkt. Ins Visier gerät dadurch neuerlich die Spannung zwischen (säkularer) Demokratie und Religion, die der ideengeschichtlichen Applikation des Anomie-Konzepts bei Durkheim vorausging.
Oliver Hidalgo
Anomie durch Wandel? Der Faktor Modernisierung als Herausforderung demokratischer Stabilität am Beispiel der Political Correctness
Zusammenfassung
Am Beispiel von Political Correctness (PC) wird analysiert, inwiefern soziokulturelle Modernisierung in Demokratien Anomie erzeugen kann. Als modernisierungsspezifische Destabilisierungsfaktoren werden neben Freiheits- oder Gleichheitsverlusten auch revolutionäre Bestrebungen oder strikte Gegnerschaft zu Wandel herausgearbeitet. Daran anknüpfend wird anhand der Kontroversen über sexuelle Gewalt und Migration gezeigt, dass sowohl die Bejahung als auch die Ablehnung von PC anomische Gefahren bergen, der oft emotionale PC-Diskurs aber zugleich ein Indiz für gelebte Demokratie darstellt.
Verena Ibscher
Anomie durch Akzeleration? Der Faktor Zeit als Stresselement demokratischer Politik am Beispiel der Internet-Revolution
Zusammenfassung
Soziale Beschleunigung kann als prägendes Phänomen spätmoderner Gesellschaften ausgemacht werden. In diesem Kontext stellt sich die Frage nach der Wirkung von sozialer Beschleunigung auf politische Prozesse, Institutionen und Inhalte. Dabei zeigt sich, dass die Demokratie neben der klassischen Gewaltenteilung auch eine temporale Gewaltenteilung kennt. Soziale Beschleunigung führt dazu, dass diese temporale Gewaltenteilung brüchig wird, was insbesondere durch die Digitalisierung verschärft wird. Die praktischen Konsequenzen dieser Desynchronisation werden anhand des Brexit illustriert.
Sebastian Enghofer

Bilanz und Folgerungen

Frontmatter
Demokratie und Anomie: Profile, Ursachen und Effekte einer fundamentalen Herausforderung in der empirischen Synopse
Zusammenfassung
Der Beitrag bilanziert die Befunde der zwölf Fallstudien und analysiert, inwieweit sich diese in einen systematischen Gesamtzusammenhang stellen lassen. Dabei zeigt sich, dass Anomie eine potenziell vielgestaltige, inhaltliche Dimensionen und systemische Handlungsebenen überschreitende Herausforderung der Demokratie darstellt, ihr Gefährdungspotenzial jedoch variiert: Neben vereinzelten fundamentalen Bedrohungsszenarien sind auch Fälle zu konstatieren, in denen anomische Entwicklungen einen Nutzen für die Performanz demokratischer Gemeinwesen aufweisen, weil sie Lerneffekte bewirken.
Martin Sebaldt, Verena Ibscher, Luis Illan
Anomie als ambivalentes Signum der Demokratie: Ansatzpunkte und Konturen einer allgemeinen Theorie
Zusammenfassung
Der Abschlussbeitrag verknüpft Demokratie- und Anomieforschung und baut dabei auf den theoretischen und empirischen Vorarbeiten des Sammelbandes auf. Dabei wird ausgehend von meinem Buch „Pathologie der Demokratie“ und unter Nutzung klassischer Anomietheorien (insb. Merton) differenziert erschlossen, welche Anomieformen und demokratische Defektszenarien typischerweise miteinander verbunden sind. Zentrale Folgerung: In Demokratien kann Anomie sowohl als Gefahr begriffen werden wie auch als Chance – letzteres dann, wenn sie zu Reformen nötigt und damit politische Lernprozesse anstößt!
Martin Sebaldt
Metadata
Title
Demokratie und Anomie
Editors
Prof. Dr. Martin Sebaldt
Simon Bein
Mag. Sebastian Enghofer
Verena Ibscher
Luis Illan
Copyright Year
2020
Electronic ISBN
978-3-658-30533-8
Print ISBN
978-3-658-30532-1
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-30533-8