Skip to main content
Top

2008 | Book

Die Europäische Union

Governance und Policy-Making

Editor: Ingeborg Tömmel

Publisher: VS Verlag für Sozialwissenschaften

insite
SEARCH

Table of Contents

Frontmatter

Theoretische Perspektiven

Frontmatter
Governance und Policy-Making im Mehrebenensystem der EU
Auszug
Seit Anfang der 90er Jahre hat sich die Forschung zur europäischen Integration und, spezieller, zum Policy-Making der EU enorm erweitert und ausdifferenziert (vgl. PVS-Sonderheft 23, Kreile 1992). Diese Entwicklung ist nicht nur einer fachimmanenten Forschungslogik zu verdanken, sondern auch und besonders den realen Veränderungen im EU-System: der Ausweitung europäischer Politik auf eine Reihe von neuen Feldern und Bereichen; den einschneidenden Veränderungen in den Instrumentarien politischer Steuerung; der Herausbildung neuartiger Modi der Governance. Mit der Bearbeitung dieser Phänomene veränderte sich auch die Perspektive auf die EU: Nicht mehr die Logik und Dynamik des Integrationsprozesses, und damit die klassischen Integrationstheorien, standen im Vordergrund, sondern die EU als politisches System und Akteur des Policy-Makings, der zwar keine Staatsqualität besitzt, wohl aber Staatsfunktionen ausübt und dementsprechend auch die Staatstätigkeit der Mitgliedstaaten transformiert.
Ingeborg Tömmel
Entwicklung von Governance im Mehrebenensystem der EU
Auszug
Unter den Begriffen, die die Besonderheiten der Politik in der EU charakterisieren sollen, gewannen Konzepte wie „multi-level-governance“ (Bache/Flinders 2004; Benz 2003; Hooghe/Marks 2001) und „network governance“ (Eising/Kohler-Koch 1999) in den letzten Jahren an Aufmerksamkeit. Die Policy-Forschung analysierte zudem Veränderungen von Governance-Formen in der EU und identifizierte „new modes of governance“ (Eberlein/Kerwer 2004; Héritier 2002; Kohler-Koch/Rittberger 2006; Treib et al. 2007). Neuerdings bemüht man sich um Typologien von Governance, welche die empirische Forschung über politische Prozesse sowie über Steuerung und Koordination im europäischen Mehrebenensystem anleiten können (Eising/Lenschow 2007; sowie Tömmel, Börzel, Bähr et al. in diesem Band).
Arthur Benz

„Harte“ versus „weiche“ Modi der Governance

Frontmatter
European Governance — Verhandlungen und Wettbewerb im Schatten der Hierarchie
Auszug
Dieser Beitrag beschäftigt sich mit European Governance, also mit der Frage, wie in der Europäischen Union (EU) regiert wird1. Welches sind die Strukturen und Prozesse politischer Herrschaft, durch die sich die EU als politisches System auszeichnet? In der Literatur wird immer häufiger die Annahme vertreten, dass es sich bei der EU um ein überaus komplexes, funktional und territorial ausdifferenziertiertes Mehrebenensystem handelt, das sich nicht mit den herkömmlichen Konzepten und Theorien erfassen lässt, sonder eine Regierungsform eigener Art (sui generis) darstellt. Mit einem beachtlichen Maß an Kreativität hat die Politikwissenschaft Begrifflichkeiten entwickelt, welche den außerordentlichen Charakter der EU als neue, post-nationale Herrschaftsstruktur erfassen soll.
Tanja A. Börzel
Von Hierarchie zu Kooperation? Zur Entwicklung von Governance-Formen in zwei regulativen Politikfeldern der EU
Auszug
Die politikwissenschaftliche Forschung hat sich in den vergangenen Jahren intensiv mit dem Wandel von Governance-Formen befasst (siehe etwa Rhodes 1997; Pierre 2000; Kooiman 2003; Kersbergen/Waarden 2004; Mayntz 2005). Diese Diskussion hat mittlerweile auch die Europaforschung erfasst (Tömmel in diesem Band). Mit Governance werden unterschiedliche Formen der Koordination und Steuerung sozialer Interaktion bezeichnet. Im Unterschied zum Steuerungsbegriff der 1970er Jahre geht der Governance-Begriff jedoch nicht von einem öffentlichen Steuerungssubjekt auf der einen Seite aus, das intentional das Handeln privater Steuerungsobjekte auf der anderen Seite steuert. Governance legt das Hauptaugenmerk vielmehr auf institutionelle Regelstrukturen, die die Interaktion von öffentlichen und privaten Akteuren ermöglichen und beschränken.
Holger Bähr, Oliver Treib, Gerda Falkner
Der doppelte Voluntarismus in der EU-Sozial- und Beschäftigungspolitik
Auszug
Die Integration nationaler Volkswirtschaften im Rahmen der Europäischen Union (EU) erzeugt aus sich selbst heraus keine Legitimität. Menschen verlieben sich nicht in den Gemeinsamen Markt, wie der ehemalige Kommissionspräsident Delors bemerkte. Diese Einsicht hat in der Europäischen Union das Bemühen motiviert, gesellschaftliche Akteure in den Politikprozess einzubinden. Besonders wichtig waren hierbei die Sozialpartner.1 Die Einbindung von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden sowohl in die Politikformulierung als auch in die -umsetzung wurde zum Leitbild guten Regierens. Dies zeigte sich sowohl im Weißbuch „Europäisches Regieren“ (Europäische Kommission 2001) als auch an der Förderung des Sozialen Dialogs in den Osterweiterungsländern durch die Europäische Kommission. In einer Vielzahl von Dokumenten werden die Sozialpartner als „Schlüssel für ein besseres Regieren“ bezeichnet (Europäische Kommission 2002: Kapitel 1; 2004).
Simone Leiber, Armin Schäfer

Kompetenzverschiebungen im Mehrebenensystem

Frontmatter
Intra-Kommissionsdynamik im Policy-Making: EU-Politiken angesichts des demographischen Wandels
Auszug
Die Bevölkerung in Europa wird älter. Damit sind vielfältige Herausforderungen an die Nachhaltigkeit sozialer Sicherungssysteme, das Funktionieren der Arbeitsmärkte und das gesellschaftliche Miteinander verbunden. Nimmt die EU ihr im Lissabon Prozess gesetztes Ziel ernst, der weltweit dynamischste und wettbewerbsfähigste wissensbasierte Raum zu werden, so muss sie politische Antworten auf den demographischen Wandel finden.1 Auf nationaler Ebene gilt die Rentenpolitik als Hauptstellschraube. Im Vergleich mit der nationalstaatlichen Ebene sind die Handlungskompetenzen der EU hier eingeschränkt. Erst seit 2002 verfügt die EU mit der Offenen Methode der Koordinierung Renten (OMK Renten) über ein weiches, koordinierendes Politikinstrument. Neben der OMK Renten antwortet eine Vielzahl von EU-Instrumenten in verschiedenen Politikfeldern2 auf den demographischen Wandel: eine Leitlinie und quantitative Beschäftigungsziele für Ältere in der Europäischen Beschäftigungsstrategie; eine Richtlinie der Antidiskriminierungspolitik, die Alter als Diskriminierungsgrund ausschließt; Richtlinien über betriebliche und private Zusatzrenten im Bereich Binnenmarktpolitik sowie wirtschafts- und fiskalpolitische Entscheidungen im Rahmen der Wirtschafts- und Währungspolitik. Zusammengenommen zeigt sich ein Bild, in dem die europäische Ebene trotz Kompetenzlücke aktiv Politik für Ältere betreibt. Ich frage, am Beispiel der EU-Politik für Ältere, nach der Rolle von Dynamiken innerhalb der Europäischen Kommission im EU-Policy-Making. Die Dimension des Policy-Making, die dabei im Zentrum steht, ist die Generierung von Kompetenzen.3
Miriam Hartlapp
„Keeping Competence“ — Politikkoordination als Mittel der institutionellen Verankerung europäischer Umwelt- und Regionalpolitik
Auszug
Die Europäische Union ist gekennzeichnet durch einen fortlaufenden Wandel ihrer Zuständigkeitsbereiche. In der wissenschaftlichen Analyse gilt dabei der Policy-Expansion der EU das Hauptinteresse, war doch bisher jede Vertragsänderung mit dem Hinzufügen neuer beziehungsweise dem Aufwerten alter Kompetenzen verbunden. Dies gilt auch für die zwei Politikbereiche, die im Mittelpunkt unserer Untersuchung stehen sollen: die europäische Umwelt- und die regionale Strukturpolitik. Die Umwelt- und die Regionalpolitik wurden mit dem Inkrafttreten der Europäischen Einheitsakte in den Aufgabenbereich der EU aufgenommen. Die Umweltpolitik ist seitdem deutlich expandiert (Zito 1999). Die Regionalpolitik konnte an europäischem Profil gewinnen und erfreute sich seit Mitte der 1980er-Jahre eines wachsenden Anteils an den EU-Haushaltsaufwendungen. Diese Entwicklungen entsprechen Pollacks 1994 aufgestellter These einer schleichenden Kompetenzausweitung („creeping competence“) der EU. Es ist ebenfalls Pollack, der 2000 unter Verweis auf das Subsidiaritätsprinzip und den dominanten neoliberalen Diskurs in Europa zu dem Schluss kommt, dass die Phase der „creeping competence“ einer Phase des Kompetenzrückbaus weicht. Er argumentiert, dass zwar die regulative Politik der EU stabil scheint, aber insbesondere die EU-Ausgabenpolitik negativ betroffen sei (Pollack 2000). Wir werden im Folgenden ein regulatives (Umwelt) und ein distributives (Regionalpolitik/Stadtentwicklung) Politikfeld näher betrachten und zeigen, dass eine solche auf Policy-Typen fokussierte Analyse zu kurz greift, um die Entwicklungen der europäischen Zuständigkeiten zu begreifen. So wird dem Prozess der Bestandssicherung auf Policy-Ebene, also Strategien des „keeping competence“, bisher zu wenig differenzierte Aufmerksamkeit geschenkt.
Andrea Lenschow, Renate Reiter
Politikabbau im europäischen Mehrebenensystem: Nationale Beendigungseffekte europäischer Politik
Auszug
Die Frage, welche Effekte europäische Politiken bei ihrer nationalen Umsetzung haben, wird in aller Regel unter dem Gesichtspunkt der ausgelösten Transformation beziehungsweise der Innovation untersucht. Das Neue, das entsteht, erhält die meiste Aufmerksamkeit. Nur selten, und praktisch nie in systematischer Absicht, geraten hier vorhandene Politikelemente in den Blick, die unter europäischem Einfluss ganz oder teilweise abhanden kommen. Dabei gibt es durchaus empirischen Anlass, nach den nationalen Abbaueffekten europäischer Politikgestaltung zu fragen. So zielt beispielsweise die europäische Strukturförderung ausdrücklich, und im Ergebnis erfolgreich, auf die Schrumpfung nationaler Fördergebiete sowie auf den kontinuierlichen Ressourcenentzug für bestimmte Ziele und damit verbundene Förderinstrumente (Tömmel 1994). Desgleichen kann für die Europäisierung der nationalen Transportpolitiken gezeigt werden, dass Schutzmechanismen nationaler Spediteure aufgrund von entstandenen Inkompatibilitäten mit europäischen Regelungen ausgehebelt wurden — mit erheblichen Effekten für das betroffene volkswirtschaftliche Segment bestimmter Mitgliedstaaten (Héritier et al. 2001). Die Frage, der angesichts solcher empirischer Befunde und der theoretisch identifizierbaren Forschungslücke in Sachen Politikabbau in diesem Beitrag nachgegangen werden soll, ist daher: Unter welchen Bedingungen löst die Implementation europäischer Politik nationale Beendigungsprozesse aus? Und können wir einen systematischen Zusammenhang zwischen dem jeweiligen Implementationsmodus (verstanden als Art der Verhaltenssteuerung nationaler Akteure) und dessen Effekten für nationale Beendigungsprozesse erwarten?
Michael W. Bauer, Christoph Knill

Herausbildung regulativer Regime im Mehrebenensystem

Frontmatter
Regulatory Governance im europäischen Mehrebenensystem
Auszug
In der politikwissenschaftlichen Europaforschung besteht weitgehend Konsens darüber, dass das Regieren in Europa inzwischen in einem dynamischen Mehrebenensystem stattfindet — europäische „Governance“ ist „Multi-Level Governance“ (vgl. Marks et al. 1996; Jachtenfuchs/Kohler-Koch 1996; Scharpf 1999, 2002; Grande/Jachtenfuchs 2000; Hooghe/Marks 2001, 2003; Jachtenfuchs 2001; Benz 2000, 2003; Bache/Flinders 2004; Tömmel 2006; zusammenfassend Kohler-Koch/Rittberger 2006). Dabei fällt auf, dass sich sowohl die konzeptionellen Bemühungen als auch die unüberschaubar gewordene Fülle von empirischen Forschungsarbeiten weitgehend auf institutionelle und materielle Aspekte des Policy-Making und Probleme der demokratischen Legitimation europäischer Politik konzentriert haben. Im Vergleich hierzu wurden die dynamischen Aspekte des Regierens im europäischen Mehrebenensystem bislang unterschätzt, wenn nicht sogar gänzlich vernachlässigt.1 Dies gilt sowohl für die äußere Dynamik des europäischen Herrschaftsraums als auch für die innere Dynamik des Mehrebenensystems der EU.
Edgar Grande, Ute Hartenberger
Risikoregulierung im europäischen Binnenmarkt: Regulierungsagenturen, Normungsinstitute und Komitologie-Ausschüsse
Auszug
Die europäische Binnenmarktpolitik wird zunehmend durch Regulierungsregime geprägt, die einen erheblichen Teil der Entscheidungen auf administrative, technische und wissenschaftliche Expertengremien verlagern. Dazu werden neue, mit Entscheidungskompetenzen ausgestattete Foren geschaffen, an denen auch Akteure beteiligt sind, die im europäischen Entscheidungsprozess sonst keine herausragende Rolle spielen (Gehring et al. 2005). Dadurch richtet sich die Funktion der Legislativorgane der EU, also der Kommission, des Rates und des Parlaments, zunehmend auf die Lenkung der nachgeordneten Entscheidungsgremien. Ausgelöst wurde diese Entwicklung durch den „Neuen Ansatz“, der im Rahmen des Binnenmarktprogramms von 1985 (KOM 85 [310]) eingeführt wurde, um die schwierige Entscheidungsfindung im Rat auf dem Gebiet der binnenmarktbezogenen Risikoregulierung teilweise zu umgehen (Joerges 1988). Eingerichtet wurden nacheinander neue Regulierungsregime für die europäische Normung von Produktrisiken, für die Regulierung der Lebensmittelsicherheit, die Arzneimittelzulassung, die Regulierung des europäischen Finanzmarktes sowie die Chemikalienkontrolle. Das Weißbuch der Kommission über Europäisches Regieren (KOM 2001 [428]) sieht weitere Anwendungsbereiche vor.
Thomas Gehring, Michael A. Kerler, Sebastian Krapohl
Regime der Finanzmarkt- und Unternehmensregulierung in Europa: die Bestimmung gesetzlicher Strukturen und Regulierungsprozesse
Auszug
In den Jahren 2001 bis 2005 wurden in der Europäischen Union drei Regime im Politikbereich des Binnenmarktes errichtet, die die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten und ihrer regulativen Aufsichtsbehörden mit der Europäischen Kommission zum ersten Mal umfassend regelten, jedoch mit unterschiedlichen Graden der Delegation von Kompetenzen der Mitgliedstaaten an die supranationale Ebene. Es handelt sich um drei Regime: eins für Gesellschaftsrecht, eins für Finanzmarktregulierung und eins für Rechnungslegungsstandards. Mit ihren unterschiedlichen Steuerungssystemen sind sie das Herzstück eines Programms zur Vollendung des europäischen Binnenmarktes und zum begleitenden Anlegerschutz.
Shawn Donnelly

Governance im Schatten der Marktintegration

Frontmatter
Jenseits von Implementierung und Compliance — Die Europäisierung der Mitgliedstaaten
Auszug
Die Verlagerung der Europaforschung von Fragen der Integration stärker hin zu Fragen des politischen Systems der EU und dessen Auswirkungen auf die nationale Politik (policies, politics und polities) zeigt sich besonders deutlich am Wachstum der Europäisierungsliteratur (Green Cowles et al. 2001; Featherstone/Radaelli 2003). Trotz der Vielfalt europäischer Steuerungsmodi und der Breite der von europäischer Integration beeinflussten Politikfelder wurde unter dem Oberbegriff „Europäisierung“ die Entwicklung eines einheitlichen Forschungsprogramms unternommen. Verschiedene Autoren haben Typologien von Europäisierungsmechanismen aufgestellt und dabei unter anderem nach den zugrunde liegenden Formen der Integration, den vorherrschenden Steuerungsmodi und nach jeweils typischen Politikfeldern differenziert (Knill/Lehmkuhl 2002; Bulmer/Radaelli 2005).
Susanne K. Schmidt, Michael Blauberger, Wendelmoet van den Nouland
Die Ursachen des europäischen Steuerwettbewerbs
Auszug
Anfang der 90er Jahre war man sich unter Sozialwissenschaftlern einig, dass die Vollendung des Binnenmarktes zu erheblichem Wettbewerb zwischen den Mitgliedstaaten führen werde (statt vieler Gatsios/Seabright 1989; Giovannini 1989; Scharpf 1994; Sinn 1995). Je freier sich Güter, Dienstleistungen, Kapital und Personen über nationale Grenzen hinweg bewegen dürften, desto einfacher würden sie sich auch unliebsamen Regulierungen und Steuern durch Abwanderung entziehen können. Die Abwanderungsdrohung wiederum werde die nationalen Regierungen zwingen, Regulierungen und Steuern zu senken, um wirtschaftliche Aktivität im Land zu halten oder ins Land zu locken. Das Ergebnis, so fürchteten viele und hofften manche, werde eine Aufweichung regulativer Standards und eine chronische Unterfinanzierung des Wohlfahrtsstaates sein.
Philipp Genschel, Thomas Rixen, Susanne Uhl

Formen transnationaler Politikkoordination

Frontmatter
Europäische Governance im Politikfeld Innere Sicherheit
Auszug
Das Politikfeld „innere Sicherheit“1 hat sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten zu einem der dynamischsten der europäischen Integration entwickelt. Hiervon zeugen nicht nur die häufigen Vergleiche des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts mit dem Binnenmarktprojekt (vgl. beispielsweise Lavenex/Wallace 2005: 458), sondern auch quantitative Daten zur Zahl an Ratssitzungen und Rechtsakten (vgl. Müller 2003; Monar 2004: 128). Obwohl sich im Bereich der internationalen polizeilichen Zusammenarbeit ein genereller Trend zur Internationalisierung beobachten lässt, ist diese im Bereich der Europäischen Union besonders weit vorangeschritten (Jachtenfuchs et al. 2006). Einer verbreiteten Erklärung zufolge stellt die wachsende grenzüberschreitende Zusammenarbeit vor allem eine Reaktion auf einen Denationalisierungsschub im Bereich von Organisierter Kriminalität und Terrorismus dar.2 Da die meisten EU-Staaten im Rahmen des Schengener Abkommens darüber hinaus auf regelmäßige Grenzkontrollen und damit auf das traditionell wichtigste nationale Instrument zur Bekämpfung grenzüberschreitender Kriminalität verzichtet haben, liegt eine europäische Innen- und Justizpolitik darüber hinaus in der neofunktionalistischen Logik eines „spill-over“ von einer gemeinsamen Politik der Freizügigkeit zu gemeinsamen Ausgleichsmaßnahmen. Gleichzeitig macht jedoch die Zugehörigkeit des Politikfelds innere Sicherheit zum Kern von (nationaler) Staatlichkeit und Souveränität eine weit reichende ßbertragung von Kompetenzen an europäische Institutionen unwahrscheinlich.
Wolfgang Wagner
Neue Dynamik in der Europäischen Außen- und Sicherheitspolitik: auf dem Weg zu einer EU Security Governance
Auszug
Die Forschung zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und zur Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) der EU ist traditionell stark geprägt durch Fragen nach der Handlungsfähigkeit der EU, ihrem Charakter als internationalem Akteur und den Grenzen und Möglichkeiten einer „europäischen“ Außenpolitik (Bretherton/Vogler 2006; Hellmann/Wagner 2003; Reiter et al. 2002). Kaum thematisiert wurde bislang die Perspektive der verschiedenen Modi der Governance innerhalb der zweiten Säule der Union, die angesichts des grundsätzlich intergouvernementalen Zuschnitts jenes Politikfeldes offenkundig kaum Aufmerksamkeit beanspruchte. Damit blieben zugleich die Potenziale einer differenzierten Betrachtung unterschiedlicher Formen und Varianten der Entscheidungsfindung und Steuerung bislang unausgeschöpft. Spätestens mit der Entstehung der ESVP wurden aber neue Dynamiken ausgelöst, die insgesamt auf die Entstehung eines vielschichtigen und verwobenen Gefüges europäischer Sicherheitspolitik hindeuten. Im Folgenden soll es darum gehen, diesen Prozess der Herausbildung und Ausdifferenzierung verschiedener Modi der Governance im Bereich der Sicherheitspolitik der Europäischen Union nachzuzeichnen und ihre spezifischen Charakteristika eingehender zu beleuchten. Zu fragen ist dabei zentral nach den Präge- und Wirkungskräften für die Differenzierung dieser Modi, dabei im besonderen nach den Freiräumen innerhalb einer institutionellen Systemkonfiguration europäischer Außen- und Sicherheitspolitik, die augenscheinlich mit dem Etikett des Intergouvernementalismus nicht mehr ausreichend beschrieben werden kann.
Udo Diedrichs

Politikkoordination in internationalen Dimensionen

Frontmatter
Die Nachbarschaftspolitiken der Europäischen Union: zwischen Hegemonie und erweiterter Governance
Auszug
Neuen Governance-Formen wird in der Integrationsforschung das Potenzial zugeschrieben, Integration trotz Harmonisierungsmüdigkeit und nationaler Diversität zu ermöglichen. Sie eröffnen im System der Europäischen Union neue Formen der horizontalen Zusammenarbeit neben oder jenseits des traditionellen Modells supranationaler Integration durch die eher hierarchische Gemeinschaftsmethode. Dabei definiert sich das Wesen der Integration durch Governance weniger in der Erschaffung neuen überstaatlichen Rechts als in einem kontinuierlichen Prozess kooperativer Praxis zwischen verschiedenen Regierungsebenen. Während die Entwicklung neuer Governance-Formen im Innern in Steigendem Maße in den Fokus der Integrationsforschung gelangte, blieb weitgehend unbeachtet, dass sich seit Anfang der 1990er Jahre auch in den Außenbeziehungen der EU eine Intensivierung von Assoziationsformen beobachten lässt, die zumindest teilweise auf neuen Governance-Formen beruht.
Sandra Lavenex, Dirk Lehmkuhl, Nicole Wichmann
Externe Effekte von Mehrebenenregieren. Die Europäische Gemeinschaft in der WTO
Auszug
Die Europäische Gemeinschaft (EG)1 stellt ein Novum für die internationalen Handelsbeziehungen dar. Ihre Außenhandelspolitik entsteht nicht als Ausdruck der politischen Präferenzen eines einzelnen zentralen Akteurs, sondern als Produkt eines komplexen Abstimmungsprozesses zwischen mittlerweile siebenundzwanzig Mitgliedstaaten und unter Beteiligung einer ganzen Reihe supranationaler Institutionen. Die Kommission der EG hat zwar das formale Initiativmonopol sowie die alleinige Kompetenz, mit anderen Staaten Verträge auszuhandeln, muss sich hierzu allerdings der Unterstützung der Mitgliedstaaten versichern. In allen Fragen der Anpassung europäischen Rechts an internationales Handelsrecht greift darüber hinaus das normale Legislativverfahren, in dem zusätzlich die Zustimmung des Europäischen Parlamentes notwendig ist. In der Disziplin der Internationalen Beziehungen wird dieses Spezifikum der EG als komplexes Mehrebenensystem zwiespältig betrachtet: Während der nicht-staatliche Charakter der EG einerseits als wichtige Bedingung für den internen Ausgleich widerstreitender Interessen gilt, wird andererseits befürchtet, dass die komplexen internen Strukturen die Handlungsfähigkeit der EG einschränken und ihre Fähigkeit zur Befolgung eingegangener rechtlicher Verpflichtungen verringern (vgl. Meunier 2000). Unter den Bedingungen moderner internationaler Politik und der hohen Bedeutung, die internationale Rechtsnormen in so unterschiedlichen Bereichen wie der Handels- oder der Umweltpolitik in den letzten Dekaden erhalten haben, muss diese Befürchtung ernst genommen werden. Internationale Politik vollzieht sich heute nur noch begrenzt im Modus machtbasierter Verhandlungen und zunehmend im Modus rechtsbasierter Übereinkommen.
Jürgen Neyer, Ulrike Ehling

Schlussfolgerungen

Frontmatter
Governance europäischer Politiken — Konvergenzen, Divergenzen und Varianzen im EU-System
Auszug
Fasst man die Ergebnisse des vorliegenden PVS-Sonderheftes zusammen, dann zeigt sich zunächst eine Fülle von differierenden und zum Teil widersprüchlichen Entwicklungen im Policy-Making und in den Governance-Modi der EU. Während einerseits die primär quantitativ gerichteten Analysen von Börzel sowie Bähr, Treib und Falkner1 vor einer Überschätzung neuer oder spezifischer Governance-Modi sowie den diesen entsprechenden Akteursstrukturen warnen, zeigen andererseits die empirischen Einzelanalysen eine Fülle von Policy-Entwicklungen auf, die auf kreative und somit neuartige institutionelle und prozedurale Lösungen, häufig unterhalb der Schwelle hierarchischer Modi der Governance und klarer Kompetenzübertragungen auf die europäische Ebene, hinweisen.
Ingeborg Tömmel
Backmatter
Metadata
Title
Die Europäische Union
Editor
Ingeborg Tömmel
Copyright Year
2008
Publisher
VS Verlag für Sozialwissenschaften
Electronic ISBN
978-3-531-90795-6
Print ISBN
978-3-531-14979-0
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-531-90795-6