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1998 | OriginalPaper | Chapter

Die Fraktionen als Opportunity Structure: Handlungsmöglichkeiten und Handlungsrestriktionen für die Abgeordneten

Author : Suzanne S. Schüttemeyer

Published in: Fraktionen im Deutschen Bundestag 1949 – 1997

Publisher: VS Verlag für Sozialwissenschaften

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Allenthalben stößt man auf journalistisch vermittelte Impressionen aus und über Fraktionen. Ein aktuelles und besonders gelungenes Beispiel aus der 13. Legislaturperiode:

“Irgendwann während der Fraktionssitzung leimte sich Kurt Faltlhauser, der Staatssekretär im Finanzministerium, hinüber zu Wolfgang Schäuble und raunte ihm zu: Wolfgang, Du bist a Schachspieler.’ Das muß ungefähr zu dem Zeitpunkt gewesen sein, als Wolfgang Bötsch, der Postminister, die Diskussion im Saal mit den Worten kommentierte, nun sei alles gesagt — nur noch nicht von allen. Und dies war dann auch der Moment, in dem das wohl größte sozialpolitische Reformwerk der Legislaturperiode von der CDU/CSU-Fraktion akzeptiert wurde und ein monatelanges Ringen um das Kindergeld zwischen den Familien- und Finanzpolitikern ein Ende fand.

Ein Ringen, ein Taktieren und Finassieren, wie es typischer kaum sein kann für die komplizierte Art, mit der in der Koalition und ihren vielen Gremien Politik gemacht wird. Es ist dieses Geflecht von Arbeitsgruppen und Koalitionsrunden, das Schäuble wie kein zweiter durchschaut, und durch dessen Verdrahtungen er Signale zu senden versteht, die schließlich — wenn sich alles fügt — den Organismus in einem Takt schlagen lassen. Jetzt, wo sich die Koalition in ihrem Erfolg sonnt, wird er wieder als Meistertaktierer gelobt.

In der Tat hat Schäuble in den vergangenen zwei Wochen auf ein Kindergeldmodell hingearbeitet, das er dann in nur zwei Tagen schier handstreichartig in der Koalition durchsetzte. Eine Arbeitsgruppe zur Familienpolitik hatte in quälenden Sitzungen Modell nach Modell diskutiert, Tabellen gewälzt und Rechnungen angestellt. Den gordischen Knoten aber durchschlug Schäuble, der ... ein neues Modell entstehen ließ....

Schäuble mußte nun seinen Vorschlag in das Koalitionsgeflecht einspeisen. Ende der vergangenen Woche begann er mit seiner Überzeugungstour, informierte wohl Helmut Kohl und Kanzleramtsminister Bohl. Bohl jedenfalls verschickte einen von ihm ausgearbeiteten Vorschlag an die schwer ackernde Kindergeld-Arbeitsgruppe — ein geschickt eingefädeltes Manöver, um von Schäubles Vorstoß öffentlich abzulenken. Wie zu erwarten, wurde das Papier vom familienpolitischen Sprecher der Union, Walter Link, am Wochenende herausposaunt.

Während die Nation noch über der ausgelegten Fährte rätselte, ging Schäuble am Montag im Präsidium der CDU in die Offensive und traf auf großen Zuspruch. Wenige Stunden später bearbeitete er die nächste Ebene im Geflecht, die Arbeitsgruppe, in der auch FDP und CSU versammelt waren. Hier argumentierte er vorsichtiger, kleidete seinen Vorschlag in eine Frage....

Am Dienstagmorgen wurde Schäubles Plan in der Koalitionsrunde gutgeheißen — dann ging es Schlag auf Schlag: Schäuble änderte die Tagesordnung der Fraktionssitzung, zog die Debatte über die Familie um Stunden vor, massierte und bearbeitet die Abgeordneten, wägte, erklärte. Gerhard Stoltenberg, früher mal Finanzminister, investierte viel Herzblut gegen die Reform, konnte aber nicht überzeugen. Zu stark war die Phalanx der Familienpolitiker. Und Helmut Kohl? Der war gar nicht erst gekommen...”

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Metadata
Title
Die Fraktionen als Opportunity Structure: Handlungsmöglichkeiten und Handlungsrestriktionen für die Abgeordneten
Author
Suzanne S. Schüttemeyer
Copyright Year
1998
Publisher
VS Verlag für Sozialwissenschaften
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-322-80352-8_5