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2008 | Book

Handbuch Armut und Soziale Ausgrenzung

Editors: Ernst-Ulrich Huster, Jürgen Boeckh, Hildegard Mogge-Grotjahn

Publisher: VS Verlag für Sozialwissenschaften

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About this book

Die soziale Entwicklung in Deutschland, ihre Wahrnehmung in der Öffentlichkeit und die politischen Strategien zu ihrer Bearbeitung treten immer stärker auseinander. Einerseits werden ein Anstieg von Armut und sozialer Ausgrenzung beobachtet und problematisiert, andererseits gilt der Sozialstaat als nicht mehr finanzierbar, die bestehenden Sozialle- tungsansprüche werden als Ursache mangelnder Leistungsbereitschaft und abnehmender Eigenverantwortung kritisiert. Diese sozialen Phänomene und ihre unterschiedlichen Deutungen sind nicht nur in Deutschland, sondern in allen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union und in anderen westlichen Staaten zu beobachten. Auch historisch haben sie ihre jeweiligen Vorläufer. In Wissenschaft und Forschung hat es in den letzten drei Jahrzehnten verstärkte Bemühungen gegeben, Armut und soziale Ausgrenzung nicht nur analytisch genauer zu erfassen und in ihren unterschiedlichen Facetten und Kontexten zu sehen, sondern auch Möglichkeiten ihrer Überwindung aufzuzeigen. Doch dieser Diskurs zerfällt weitgehend in Einzelbetracht- gen, ohne den als multidimensional erkannten Kontext von Armut und sozialer Ausgr- zung als solchen multi- bzw. interdisziplinär zu erfassen. Diesem Erfordernis stellt sich das vorgelegte Handbuch. Es bündelt nicht nur Theorie, Empirie und Handlungsperspektiven, sondern sucht auch den Diskurs quer zu den beteil- ten Wissenschaften und deren empirische sowie theoretische Herangehensweisen. Dass dieses möglich wurde, verdanken die Herausgeberin und die Herausgeber dem Zusamm- spiel zahlreicher Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Ihnen sei dafür an dieser Stelle herzlich gedankt. Herausgeberschaft und Redaktion dieses Bandes stellen erhebliche Anforderungen an alle Beteiligten. Die Herausgeber sind froh, in Kay Bourcarde einen Kollegen gefunden zu haben, der diesen wechselvollen Prozess redaktionell mitgetragen hat. Auch ihm gebührt unser Dank.

Table of Contents

Frontmatter

Einleitung

Frontmatter
Armut und soziale Ausgrenzung Ein multidisziplinäres Forschungsfeld

„Denn Arme habt ihr allezeit bei euch (...)“, so heißt es schon im Neuen Testament (Mt 26,11). Armut ist ganz offensichtlich eine die verschiedensten gesellschaftlichen Formationen überdauernde — quasi ‚zeitlose‘ — Tatsache, andererseits aber weist die Geschichte zahlreiche Versuche auf, Armut zu überwinden. Armut gehört zur Menschheitsgeschichte und hat selber eine Geschichte; sie hat unterschiedliche Erscheinungsformen und fordert zu immer neuen Versuchen heraus, gesellschaftliche Phänomene in Theorien zu fassen. Nicht zuletzt bringt Armut soziale Akteure hervor, die private wie öffentliche Ressourcen, Strategien und Perspektiven zu ihrer Überwindung mobilisieren bzw. entwickeln wollen — vom kleinen Wirkungskreis des Einzelnen bis hin zu weltweiten Interventionen.

Ernst-Ulrich Huster, Jürgen Boeckh, Hildegard Mogge-Grotjahn

Theorien der Armut

Frontmatter
Gesellschaftliche Ein- und Ausgrenzung Der soziologische Diskurs

Der (soziologische) Blick auf Armut und soziale Ausgrenzung wird durch „zwei Grundparadoxien“ begleitet. Denn ihr Auftreten ist für eine Gesellschaft sowohl konstitutives wie potenziell gefährdendes Element (vgl. Dietz 1997: 10). Während die empirische Erforschung sozialer Ungleichheit sich in diesem Spannungsfeld auf einzelne Dimensionen und/oder das reale Ungleichheitsgefüge ganzer Gesellschaften bezieht, fragen Theorien sozialer Ungleichheit nach den Voraussetzungen und Bedingungen, die zu unterschiedlichen Ungleichheitsgefügen führen. Der Beitrag geht auf ausgewählte klassische und moderne soziologische Konzepte sozialer Ungleichheit ein und diskutiert die Tauglichkeit von Begriffen wie „Klasse“, „Schicht“, „Lebenslage“ oder „Milieu“ für das Verständnis heutiger Armutslagen und Ausgrenzungsprozesse. Dabei wird deutlich, dass

Armut und soziale Ausgrenzung

ein soziologisches Querschnittsthema bilden, sei es in Bezug auf die zu betrachtende gesellschaftliche Reichweite als soziales Phänomen wie auch der Zuordnung zu den unterschiedlichen Bereichen der Soziologie. Zu den Grundfragen soziologischer Ungleichheitsforschung gehören das Verhältnis der ökonomischen zu den sozialen, politischen und kulturellen Dimensionen von Armut und sozialer Ausgrenzung ebenso wie die Beschreibung bzw. Analyse der Folgen ungleicher Lebenslagen für die Handlungsspielräume der Menschen sowie das in sozialer Ungleichheit liegende gesellschaftliche Konfliktpotenzial. Vor dem Hintergrund unterschiedlicher politischer wie gesellschaftlicher Legitimationsmuster und/oder Funktionszuschreibungen fragt der soziologische Diskurs immer auch nach den Möglichkeiten bzw. Grenzen sozialer Integration innerhalb einer Gesellschaft.

Hildegard Mogge-Grotjahn
Ungleichheit und Armut als Movens von Wachstum und Wohlstand?

Die ökonomische Theorie diskutiert den Zusammenhang zwischen Ungleichheit oder Armut einerseits und wirtschaftlichem Wachstum sowie Wohlstand andererseits. Wichtige Theoretiker in diesem Zusammenhang sind: Adam Smith, John Stuart Mill, Milton Friedman, Friedrich August von Hayek, John Maynard Keynes, John Rawls, Amartya Sen und die Konzeptionen der sozialen Marktwirtschaft sowie schließlich die der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds im Kontext der Armutsbekämpfung der hochverschuldeten Länder des Südens.

Dieter Eißel
Soziale Eingrenzung als sozialstaatliches Ziel Der sozialpolitische Diskurs

Mit der Trennung der Arbeitervon der Armenpolitik Mitte des 19. Jahrhunderts beginnt der

sozialstaatliche

Diskurs in Deutschland: Innerhalb der Gruppe derjenigen, die nicht in der Lage sind, durch Erwerbsarbeit ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen, wird unterschieden zwischen denen, die Erwerbsarbeit leisten oder geleistet haben, und denen, die davon aus welchen Gründen auch immer ausgeschlossen sind. Der sich herausbildende Sozialstaat stellt soziale Leistungen bereit, einmal zur Bewältigung konkreter Problemlagen, zum anderen zur Sicherstellung der Integration dieses Personenkreises in das auf der kapitalistischen Warenproduktion basierende Gesellschaftssystem. Dieser bereits in der

Kaiserlichen Botschaft

von 1881 explizit formulierte Gedanke wird in der sozialstaatlichen Theoriebildung bei

Max Weber

, dann explizit bei

Eduard Heimann

und

Herrmann Heller

als Integrationsgebot in der klassengespaltenen Gesellschaft mit dem Ziel gefasst, das Mehrheitsprinzip und das soziale Postulat der Demokratie mit dem der Kapitalakkumulation in Einklang zu bringen. Dieser Integrationsansatz ist auch in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg bestimmend geblieben (

Sozialstaatsgebot

im Grundgesetz), er wird aber immer wieder in Frage gestellt

(minimal state).

Auf der anderen Seite gibt es stets neue Versuche, diesen Integrationsansatz auf die sich verändernde Bedingungen wie etwa europäisierter

(Anthony Giddens)

bzw. weltweiter Wirtschaftsverflechtungen

(Amartya Sen)

zu beziehen und damit zu aktualisieren. Dabei kommt es stets von Neuem sowohl innerhalb der auf soziale Inklusion ausgerichteten Reformgruppierungen zu Konflikten darüber, ob und inwieweit das erreichte bzw. erreichbare Ausmaß an Eingrenzung ausreicht, als auch im Lager der Gegner derartiger Reformvorstellungen, ob nicht der Grad sozialer Eingrenzung zu weitgehend und letztlich bezogen auf die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit nicht mehr tragbar sei.

Ernst-Ulrich Huster
Das Maß der Armut: Armutsgrenzen im sozialstaatlichen Kontext Der sozialstatistische Diskurs

Aus individueller Sicht ist es ein schweres Los, in Armut leben zu müssen. Aus der Sicht eines Sozialstaates stellt das Vorhandensein von Armen unter der Wohnbevölkerung die Verfehlung eines wichtigen sozialpolitischen Ziels dar. Diese beiden Perspektiven sind auch maßgeblich für den sozialstatistischen Diskurs; sie müssen aber sorgfältig unterschieden werden. Soll einzelnen armen Menschen mit sozialstaatlichen Maßnahmen geholfen werden, so ist die Voraussetzung hierfür, dass sie identifiziert werden können. Für den Sozialstaat als Akteur, der das Ziel der Armutsbekämpfung bzw. Armutsvermeidung mit allgemeinen Gesetzen oder anderen institutionellen Regelungen und Instrumenten verfolgt, genügt eine Statistik, die lediglich die Zahl, den Bevölkerungsanteil und die durchschnittliche „Schwere“ der Armutslage von anonym bleibenden Menschen aufzeigt. Außerdem ist es wichtig, die Dauer von Armutslagen und das Ausmaß der Aufstiege aus und der Abstiege in Armutslagen zu ermitteln.

Richard Hauser
Dynamik von Armut

Seit den 1990er Jahren hat sich in Europa, basierend auf US-amerikanischen Vorbildern, eine

dynamische Armutsforschung

entwickelt, die Einkommensarmut, Sozialhilfebezug und Deprivation im Längsschnitt untersucht (Verlaufsanalysen anhand von Mikrodaten). Die dynamische Forschung zeigt, dass Armutslagen beweglicher sind als in öffentlichen und wissenschaftlichen Debatten lange (und vielfach noch heute) angenommen. In der älteren Armutsforschung, vor allem in der

Randgruppenforschung

, ist die Dynamik von Armut teilweise bereits untersucht worden, meist jedoch mit unzureichenden Daten, Methoden und deterministischen, auf Abstiegskarrieren beschränkten theoretischen Modellen. Die neuere dynamische Forschung verändert die Messung von Armut, die Analyse von Armut, Armutsbilder und Armutspolitik. Wesentliche Ergebnisse sind, dass Armut häufig nur von kurzer Dauer ist, dass die Armen grundsätzlich handlungsfähig sind (

coping

) und dass Armutslagen oft mit Ereignissen im Lebensverlauf verknüpft sind, wie Verlust des Arbeitsplatzes, Scheidung oder Geburt eines Kindes („Verzeitlichung“ und „Individualisierung“ von Armut). Zugleich wird aber eine „soziale Entgrenzung“ von Armut festgestellt, d.h. Armut reicht als vorübergehende Erfahrung und als Abstiegsdrohung über herkömmliche Randschichten hinaus. Die dynamische Sicht basiert auf einem kontingenten Modell individueller Armutskarrieren, das ältere Vorstellungen eines Teufelskreises der Armut in sich aufnimmt, aber einordnet als einen Karrieretypus neben anderen. Kritiker der dynamischen Forschung betonen, dass Armut weiterhin ein Klassenphänomen sei. Demgegenüber wird in dem Beitrag das Konzept des Lebenslaufs als theoretischer Rahmen für Armutsanalysen vorgeschlagen.

Lutz Leisering
International vergleichende Armutsforschung

Internationale Vergleiche zum Thema Armut spielen eine immer größere Rolle. Sie dienen sowohl dem wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn als auch dem Soll-Ist-Vergleich im politischen Raum. Dies gilt in weltweitem Maßstab, aber insbesondere für Vergleiche innerhalb der Europäischen Union. So wurde im Rahmen des Lissabon-Prozesses der Europäischen Union die Bekämpfung von Armut zu einem zentralen Ziel erkoren und für den Bereich Soziale Eingliederung eine regelmäßige empirische Armutsberichterstattung implementiert.

Wolfgang Strengmann-Kuhn, Richard Hauser
Der Wert der Armut Der sozialethische Diskurs

In diesem Beitrag werden ausgehend von dem biblischen Befund zum Thema theologischsozialethische Bewertungen der Armut dargestellt. Neben der Aufgabe der Überwindung der als skandalös zu bewertenden Armut, die wesentlich mit sozialer Ausgrenzung verbunden ist, wird auch die Perspektive freiwillig gewählter Formen des individuellen Verzichts thematisiert.

Traugott Jährlichen
„Denn Armut ist ein Glanz aus Innen...“ Armut und Kunst

Die Prüfung, ob eine Kunstdarstellung richtig, schlüssig, einleuchtend, o.ä. sei, ist hier nicht das Thema; ob sie die richtige Partei beim Kampf gegen die Armut ergriffen hätte, ebenso wenig. Beides wäre auch inadäquat, denn wenn jemand ein kunstvolles Produkt erschafft, das eine sinnlich erfahrbare Objektivierung seiner Vorstellungen über ein faktisches Phänomen wie die Armut zeigt, kann die passende Kategorie der Rezeption dieses Kunstwerkes nur das Gefallen des Rezipienten sein. Dass die künstlerischen Betrachtungen der Armut Gültigkeit beanspruchen, lässt oft übersehen, wie der Künstler mit seinem Gegenstand verfahren ist. Im Kunstwerk schlagen sich Ansichten der Künstler über die Armut nieder, die jedoch als sinnliche Erscheinungen mehr dem Gefühl und weniger der Urteilskraft des Rezipienten anheim gestellt sind. Dass sich dessen gefühltes Gefallen wiederum nicht urteilslos auf das Kunstwerk bezieht, sondern im Kunstwerk existente Urteile als die seinen wiederoder auch anerkennt, soll samt einer kurzen Darstellung von Struktur und Inhalt eben dieser Urteile aufgezeigt werden. Dabei werden Beispiele aus verschiedenen Kunstformen hinzugezogen, denn es geht hier nicht um eine stringente „Kunstgeschichte der Armutsdarstellungen“, sondern darum, was den Kunstgegenstand Armut ausmacht. Dass Künstler reale Armut gewissermaßen als ästhetischen Gegenstand transformieren, beweist die eines ästhetizistischen Zynismus eigentlich unverdächtige

Käthe Kollwitz

(1867–1945), wenn sie schreibt:

„Daß eigentliche Motiv aber, warum ich von jetzt an zur Darstellung fast nur das Arbeiterleben wählte, war, weil die aus dieser Sphäre gewählten Motive mir einfach und bedingungslos das gaben, was ich als schön empfand.“ (Kollwitz 1983: 268)

Rainer Homann
‚Freiwillige Armut‘ Zum Zusammenhang von Askese und Besitzlosigkeit

Askese ist ein Kampfbegriff. Der Asket stellt die Machtfrage. Der Kampf ist ein Kampf um das Selbst, die Macht ist das Vermögen der Selbstmächtigkeit. Das Selbst ist dreierlei zugleich: Es ist der Ort, an dem gekämpft wird, es ist das, worum gekämpft wird, und es ist selbst das Subjekt des Kampfes. Wer bestimmt, mit welcher Macht und mit welchem Recht und mit welchem Anspruch, was das Selbst ist? (Vgl. hierzu u. zum Folgenden neben den Lexikon-Artikeln: Wimbush/Valantasis 1998 u. Freiberger 2006.)

Fritz Rüdiger Volz
Die Entwicklung des Rechts der Armut zum modernen Recht der Existenzsicherung

Das moderne Recht der Existenzsicherung geht auf das Recht der Armut zurück und hat seine Quellen damit im Polizeirecht. Während der Arme früher grundsätzlich aus der bürgerlichen Gesellschaft ausgeschlossen war, indem ihm seine Eigenschaft als Rechtsperson abgesprochen wurde, wird er im demokratischen Rechtsstaat durch das Recht grundsätzlich eingeschlossen und zwar durch das verfassungsrechtliche Institut der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG), das zusammen mit dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) den Schutz des ‚soziokulturellen

Existenzminimums‘

verbürgt. Das deutsche Recht widmet sich im SGB II und im SGB XII diesem Fürsorgerecht, das sich mit seinen

Strukturprinzipien

deutlich vom übrigen Recht abgrenzt. Ein Blick in die einschlägigen Regelungen zeigt, dass das Recht die Armut selbst nicht beseitigt, sondern einhegt und als Referenzsystem erhebliche Bedeutung für den modernen ‚sozialen Interventionsstaat‘ erlangt hat.

Knut Hinrichs

Geschichte der Armut und sozialen Ausgrenzung

Frontmatter
Geschichte der Armut im abendländischen Kulturkreis

Armut ist eine relative, in den jeweiligen politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Kontext eingebettete Größe. Im abendländischen Kulturkreis, dessen Einheit im Christentum wurzelte, war Armut allgegenwärtig und eine ständige Bedrohung. Abgesehen davon, wie der biblischen Überlieferung in der Praxis entsprochen wurde, konnte es innerhalb der kulturellen Einheit des Abendlandes eine breite Skala sozialer Einstellungen im Blick auf die Armut geben, weil der metaphorische Charakter der religiösen Sprache und die Vielschichtigkeit des biblischen Verständnisses von Armut eine Anpassung an veränderte Situationen und unterschiedliche Interpretationen neuer Phänomene ermöglichten. Armut trat in der Geschichte des Abendlandes unterschiedlich in Erscheinung. Dies zeigt sich terminologisch darin, dass die Begriffe pauper und paupertas (arm, Armut) verschiedene Bedeutungen gewannen: Stand seit dem 6. Jahrhundert zunächst die fehlende Teilhabe an der gesellschaftlichen Macht im Vordergrund, so bildete seit der Jahrtausendwende die ökonomische Not den Kern dessen, was durch den Begriff Armut bezeichnet wurde. „Arm“ konnte sich in der mittelalterlichen Gesellschaft sowohl auf fehlende Ressourcen für ein angemessenes ständisches Leben beziehen als auch auf Gruppen, die ihren Lebensunterhalt nicht selbst sichern konnten. Freiwillige und unfreiwillige Armut wurden unterschieden, aber auch aufeinander bezogen. In der abendländischen Geschichte der Armut lassen sich Wendepunkte grob markieren: Bis ca. 1100 dominierte ein in der Feudalordnung verankertes Verständnis von Armut im Sinne der Abhängigkeit der „Armen“ von den potentes. Mit dem Widererstehen der Stadtkultur und dem Vordringen der Geldwirtschaft in Mittel- und Westeuropa seit dem 11.

Gerhard K. SchäferSchäfer
Von der mittelalterlichen Armenfürsorge zu den Anfängen der Sozialstaatlichkeit

Die kommunale Armenfürsorge ist dem zentralen Sozialstaat geschichtlich und systematisch vorgelagert, zugleich tritt sie immer wieder dort in den Vordergrund, wo zentrale Sicherungssysteme in ihrer Leistungsfähigkeit eingeschränkt sind. Dieses zeigte sich nicht nur nach den beiden Weltkriegen, sondern als Folge der Massenarbeitslosigkeit auch während der Weltwirtschaftskrise und verstärkt seit Mitte der 1970er Jahre. Die

Fürsorge

unter-liegt einer widersprüchlichen Legitimation: Sie soll das bestehende System abhängiger Erwerbsarbeit teils mehr erzieherisch, teils unter Sanktionsandrohung mehr disziplinierend als vorherrschenden Rahmen der

Subsistenzsicherung

stabilisieren, so auch durch den Abstand der gewährten Leistungen von den Markteinkommen unterer Lohngruppen

(Lohnab-standsgebot).

Zugleich steht sie seit ihren Anfängen in der

christlichen Armenfürsorge

immer unter dem Gebot der Bewahrung von Menschenwürde und dem Mitfühlen mit dem in seinen Rechten verletzten Einzelnen, indem sie vorleistungsfrei einen existenzminimalen Lebensstandard absichern soll. Parallel zur Entwicklung und Ausdifferenzierung der Arbeiterpolitik seit Mitte des 19. Jahrhunderts kommt es auch zu einer arbeitsteiligen Spezialisierung in der Armenfürsorge. Dieses geschieht zunächst auf der Ebene freier Träger im 19. Jahrhundert, dem der Staat durch seine Gesetzgebung in der Weimarer Republik folgt. Die Bereiche Gesundheits-, Wohnungslosen- und Erwerbslosenfürsorge bekommen in dieser Zeit eigene institutionelle Regelungen und Zuständigkeiten. Die Fürsorge verbindet Geld-, Sach- und Dienstleistungen. Die Armenfürsorge ist auch einer der Schrittmacher beim Ausbau der

Sozialversicherung

, indem sie bestimmte soziale Risiken sichtbar macht und eine sozialversicherungsrechtliche Lösung notwendig erscheinen lässt: so bei den Folgen von Arbeitslosigkeit, beim Schwerbehindertenrecht, bei der Absicherung des Pflegerisikos.

Ernst-Ulrich Huster

Armut und soziale Ausgrenzung:Gesellschaftliche Prozesse und Lebenslagen

Frontmatter
Arbeit: Mit Erwerbsarbeit in die Armut oder aus der Armut?

Erwerbsarbeit besitzt nicht nur eine hohe Bedeutung zur Erzielung von Einkommen, sondern fungiert nach wie vor als zentrale Institution der Vergesellschaftung durch soziale Teilhabe. Mit dieser Mehrdimensionalität ist spiegelbildlich auch die Mehrdimensionalität von Armut aufgrund von Arbeitslosigkeit und Niedriglohnbezug verbunden. Der Beitrag fokussiert auf diesem Hintergrund die Schnittstellen zwischen Erwerbsarbeit, Arbeitslosigkeit und Niedriglohn. Zentrale Begriffe werden unter Bezugnahme auf empirische Dimensionen verdeutlicht. Neben dem objektiven Kriterium ‚Einkommen‘ wird auch auf die subjektive Perspektive abgestellt (Lebenszufriedenheit, Deprivation). Es wird deutlich, dass die Dichotomie ‚Erwerbsarbeit oder Armut‘ in der modernen Erwerbsgesellschaft nur von scheinbarer Natur ist. Selbst eine Vollzeitbeschäftigung ist kein Garant mehr für ein den Lebensunterhalt abdeckendes Einkommen. Auch ist nach wie vor ein erheblicher Anteil von Geringverdienern von verdeckter Armut betroffen. Insbesondere gering Qualifizierte und Langzeitarbeitslose haben ein erhöhtes Risiko zu tragen, im Niedriglohnsegment zu verbleiben, durch Arbeitslosigkeit in die Nähe der Armutsschwelle zu gelangen und eine Dequalifizierung zu erfahren, die Ausstiegschancen aus Armut oder Aufstiegschancen aus dem Niedriglohnsegment einschränken. Welche politischen Gegenmaßnahmen sind erforderlich und könnten erfolgreich sein? Der Beitrag diskutiert anhand von exemplarischen Beispielen den Zielerreichungsgrad und Effizienz von präventiven und reaktiven Instrumenten. Versäumnisse auf präventiver Seite (Erhöhung der Erwerbsbeteiligung von Frauen, Öffnung des Bildungssystems für traditionell bildungsferne Bevölkerungsschichten) induzieren generell einen erhöhten Bedarf an reaktiver Gegensteuerung.

Lutz C. Kaiser
Einkommen und soziale Ausgrenzung

Die Verfügbarkeit über Einkommen und Vermögen bestimmt in zentraler Weise die Teilhabe- und Verwirklichungschancen eines Menschen — sowie der von ihm ggf. abhängigen Familienmitglieder — in der Gesellschaft. So erweitert ein hohes Einkommen und Vermögen zum einen individuelle bzw. die im Familienkontext stehenden Spielräume für die Förderung und Entwicklung von Interessen, Kenntnissen und Fähigkeiten. Zugleich steigen mit dem Einkommen und Vermögen die Möglichkeiten, in allen relevanten Lebenslagen (v.a. Wohnen, Bildung, Gesundheit) höherwertige Dienst- und Sachleistungen in Anspruch zu nehmen. Zum anderen ist gerade das Vorhandensein von Vermögen häufig wieder selbst Quelle für weiteres Einkommen bzw. Wohlstand, so dass sich durch die Verteilung der Einkommens- und Vermögensbestände strukturelle Auswirkungen auf den Partizipationsgrad der Menschen ergeben.

Jürgen Boeckh
Bildungsarmut und die soziale „Vererbung“ von Ungleichheiten

In dem folgenden Beitrag wird der Zusammenhang von ungleichen materiellen Ressourcen und den sie verursachenden oder auf sie folgenden Bildungsmängeln diskutiert. Zunächst wird definiert, was unter Bildung verstanden werden kann und begründet, warum Bildung in wachsendem Maße auch für den materiellen Erfolg im Leben verantwortlich gemacht werden kann. Mit Bezug auf die Theorie Bourdieus wird Bildung daraufhin als „kulturelles Kapital“ interpretiert, das durch die Übernahme eines spezifischen „Habitus“ im Herkunftsmilieu weiter gegeben wird. In einem weiteren Abschnitt werden psychologische Theorien über die genetisch bedingte Intelligenzentwicklung vorgestellt und mit Bezug auf die neuere Gehirnforschung verworfen. Anschließend werden Aufbau und Ergebnisse der PISA-Studie referiert und Entwicklungstendenzen des deutschen Schulsystems beschrieben und kritisiert. Besonders die Tatsache, dass es anderen Ländern durchaus gelingt, auch Kindern aus bildungsfernen Milieus zu Schulerfolgen zu verhelfen, beweist, dass in Deutschland noch dringend Handlungsbedarf in dieser Richtung besteht. Am Ende wird daher ein Blick auf bildungspolitische und pädagogische Konzepte geworfen, die eine Inklusion benachteiligter Kinder in das Bildungswesen und die Gesellschaft im Allgemeinen befördern können.

Carola Kuhlmann
Gesundheit und soziale Lebenslage

Soziale Benachteiligung bzw. Armut gehen bei Erwachsenen mit reduzierter Gesundheit und bei betroffenen Kindern zusätzlich mit einer geringeren neurokognitiven Entwicklung einher (vgl. Case/Lubotsky/Paxson 2002). Der soziale Gradient

1

für Gesundheit ist empirisch vielfach nachgewiesen worden. Es besteht wissenschaftlich Einigkeit darüber, dass dieser Zusammenhang über die gesamte Lebenspanne geht und alle demographischen Gruppen betrifft. Dieser Zusammenhang ist unabhängig davon, wie in den verschiedenen Untersuchungen Armut bzw. soziale Klasse definiert wurde (vgl. Feinstein 1993). Überwiegend wird in der Literatur von einer kausalen Beziehung ausgegangen (vgl. West 1991). Wissenschaftliche Untersuchungen beschäftigen sich vor allem mit Unterschieden in den sozioökonomischen Merkmalen wie Ausbildung, beruflicher Status und Einkommen, wobei gleichzeitig einhergehende Unterschiede im Gesundheitszustand auch als „gesundheitliche Ungleichheit“ bezeichnet werden (vgl. Mielck 2000). Neuere wissenschaftliche Ansätze differenzieren zusätzlich nach Geschlecht, Familienstatus, Ethnizität und Migration, sozialer Integration, regionalen Bezügen, Verstädterung und Teilhabe an kulturellen Aktivitäten. Zunehmend wird auch eine größere Bedeutung der subjektiven Bewertung der sozialen Situation durch die Akteure und Akteurinnen selbst eingeräumt. (vgl. Kolip/Koppelin 2002).

Fritz Haverkamp
Wohnen und Quartier: Ursachen sozialräumlicher Segregation

Die ungleiche Verteilung von unterschiedlichen Bewohnergruppen im Stadtgebiet bezeichnen wir als Segregation. Sie entsteht als der Übersetzung von sozialer Distanz in räumliche Distanz. Aktive Distanzierungen gehen von den Haushalten mit besserer Ressourcenausstattung aus, die über ihren Wohnstandort nach subjektiven Präferenzen entscheiden können; passiv und unfreiwillig segregiert werden dagegen die Haushalte mit geringen Ressourcen — sie werden in Quartiere gelenkt, die von der Mehrheitsgesellschaft gemieden werden. Nicht nur die Verfügung über materielles Kapital entscheidet darüber, wer wo in der Stadt wohnt, vielmehr bestehen auch kulturelle Barrieren, z.B. ethnische Diskriminierungen, die zu einer Konzentration von bestimmten Minderheiten in bestimmten Quartieren der Stadt führen.

Hartmut Häuβermann
Geschlecht: Wege in die und aus der Armut

Armut oder Exklusion stellt eine multidimensionale Lebenslage dar, die an biografische Ereignisse und Lebensphasen gebunden oder aber dauerhaft verfestigt sein kann. Wege in diese Lage und auch aus ihr heraus sind ursächlich verknüpft mit der Teilhabe an Erwerbsarbeit und an Transfereinkommen, die überwiegend auf Erwerbsarbeit beruhen (Renten bzw. Pensionen, Arbeitslosengeld). Die Chancen zur Teilhabe an Erwerbsarbeit steigen mit wachsenden Qualifikationen (allgemein- und berufsbildenden Abschlüssen). Sowohl die Bildungschancen und -erfolge als auch die Zugänge zu Erwerbsarbeit und Einkommen sind geschlechtstypisch ausgeprägt. In der Organisation des horizontal und vertikal geschlechtstypisch segmentierten Arbeitsmarktes wie auch in den Sicherungssystemen des Wohlfahrtsstaates manifestiert sich eine historisch gewachsene Geschlechterordnung im Sinne von „(...) politisch etablierte(n) Beziehungen zwischen unbezahlter Arbeit in der Familie und bezahlter Arbeit auf dem Arbeitsmarkt, sowie deren jeweilige Relation zu den Sicherungssystemen des Wohlfahrtsstaates.“ (Brückner 2004: 27)

Hildegard Mogge-Grotjahn
Migration und soziale Ausgrenzung

Migration ist ein prägendes Merkmal der Menschheitsgeschichte. Migration ist dabei ein in der Person des Migranten begründeter Akt, dem in der Regel auch soziale, politische und/oder ökonomische Problemlagen in der Herkunftsregion zugrunde liegen. Monokausale Ansätze zur Beschreibung von Migrationsbewegungen greifen deshalb in der Regel zur kurz, weshalb ein ganzes Bündel von Faktoren zur Erklärung von Wanderungsbewegungen herangezogen wird (

Push und Pull Faktoren

). Diese können sich im Zeitverlauf sowohl in ihrem Mischungsverhältnis wie in ihrer je individuellen Bedeutung verändern. Wanderungsbewegungen haben sowohl auf das Herkunftswie das Zielland mittelbare wie unmittelbare Auswirkungen. Dabei lässt sich feststellen, dass der Grad der Akzeptanz von Migrantinnen und Migranten in signifikanter Weise mit der wirtschaftlichen Situation im Aufnahmeland korrespondiert, sowie von der angeblichen bzw. tatsächlichen Integrationsbereitschaft der Zugewanderten abhängt.

Jürgen Boeckh
Armut im Familienkontext

Armut lässt sich allein individuell nicht angemessen betrachten, da Haushalts-und Familienkontexte für von Armut betroffene oder bedrohte Menschen meist eine wesentliche Rolle bezogen auf Armutsrisiken und -Ursachen sowie für Schutzfaktoren, Ressourcen und Selbsthilfepotentiale spielen. Armut im Familienkontext steht dabei in engem Zusammenhang mit gesellschaftlichen Ursachen, Risiken, Schutz-und Hilfsmaßnahmen, die etwa den Zugang von jungen Eltern zu und ihren Verweis auf Erwerbsarbeit prägen, über das Kindergeld Unterhaltskosten von Kindern zumindest teilweise vom Familienbudget auf öffentliche Kassen verlagern oder über Bildungs-und Beratungsangebote Familien in Armutslagen stärken. Die Verbreitung von Armut hat in der Bundesrepublik seit vielen Jahren nicht nur allgemein zugenommen, Kinder, Jugendliche, junge Erwachsene, Familien allein Erziehender, kinderreiche Familien und Familien mit Migrationsgeschichte sind von Armut und ihrer Zunahme überdurchschnittlich betroffen. Dies wirft Fragen sowohl zur Veränderung von Familienstrukturen auf, als auch solche zur Angemessenheit gesellschaftlicher Schutzund Unterstützungssysteme gegen Armut im Familienkontext.

Benjamin Benz
Zwischen selbstbestimmter sozialer Teilhabe und fürsorglicher Ausgrenzung Lebenslagen und Lebensbedingungen von Menschen, die wir behindert nennen

Es existiert kein allgemein anerkannter Begriff von Behinderung als Erscheinungsform menschlichen Daseins. Nicht einmal innerhalb einschlägiger Fachdisziplinen ist es gelungen, sich auf ein für das jeweilige Fach verbindliches Behinderungsverständnis zu einigen. Derjenigen Disziplin, die unter Bezeichnungen wie Heil-, Sonder-, oder Behindertenpädagogik neuerdings auch als Integrationsoder Rehabilitationspädagogik firmiert, ist es nicht einmal gelungen, eine einheitliche Fachbezeichnung zu finden. Deswegen wird hier darauf verzichtet, eine Übersicht über die in der einschlägigen Literatur vorfindbaren Behinderungsdefinitionen zu präsentieren, sondern den Fokus auf Entwicklungen, Kontinuitäten und Diskontinuitäten desjenigen Behinderungsverständnisses richten, welches jeweils nationalen und internationalen Behinderten-, Sozial-und Bildungspolitiken zugrunde liegt, denn dieses prägt vor allem die Praxis im Umgang mit Menschen, die wir behindert nennen und damit in entscheidendem Maße auch die Lebensbedingungen der Betroffenen. Dabei wird zu zeigen sein, dass einerseits nationale und internationale Behindertenpolitik seit mittlerweile mehreren Jahrzehnten bestimmt wird von einem zunehmend an den Menschenrechten orientierten und auf soziale Teilhabe und Selbstbestimmung gerichteten Behinderungsverständnis, diese richtungweisende Entwicklung jedoch andererseits, namentlich in Deutschland, in anderen Ländern ist es teilweise anders, konterkariert wird durch Beharrlichkeiten vor allem in der nach wie vor sozial ausgrenzenden und paternalistischfürsorglich ausgerichteten Sozial-und Bildungspolitik.

Eckhard Rohrmann

Bewältigungsstrategien bei Armut und sozialer Ausgrenzung

Frontmatter
Prekäre Lebenslagen und Krisen Strategien zur individuellen Bewältigung

In der Erforschung prekärer Lebenslagen und Krisen sind Fragen der Entwicklungs-, Sozial- und der klinischen Psychologie berührt. Der psychischen Verarbeitung von belastenden Lebensereignissen widmet sich speziell die Stress-und Copingforschung. Bei der Erklärung der Unterschiede im Erleben und Verhalten der betroffenen Personen finden sich zwei Richtungen: Ansätze, die den Focus auf Momente der individuellen Situationseinschätzung (appraisal) richten, stehen Ansätzen gegenüber, die den Einfluss der vorhandenen Ressourcen für das Verständnis der psychischen Entwicklung betonen.

Hans-Jürgen Balz
Bewegung und Körperlichkeit als Risiko und Chance

Bewegungshandeln wird als Verwirklichungsmöglichkeit der kindlichen Persönlichkeit angesehen. Handeln schließt immer die körperliche Bewegung mit ein. Im Bewegungshandeln lernt das Kind seinen Körper kennen, mit ihm umzugehen, ihn einzusetzen und auf die Umwelt einzuwirken. Die Orientierung am eigenen Körper ist die Basis jeder Orientierung in Raum und Zeit (Sozialraum, Zahlenraum, Schriftraum), zugleich ist der Körper Spiegel psychischen Erlebens; über seinen Körper erlebt das Kind seine Befindlichkeit und bringt seine Gefühle und Bedürfnisse zum Ausdruck. In diesem Prozess will das Kind wissen, wer und was es ist und wer und was es werden will. Das Selbstkonzept wird dabei zum Schlüsselbegriff, vor allem deshalb, weil das Körperkonzept ein wichtiges Teilkonzept des Selbstkonzepts darstellt.

Michael Wendler
Armut in Ästhetisch-kultureller Bildung

Der folgende Artikel verbindet Fragen der Armutsforschung mit Ästhetisch-kultureller Bildung (1) im Kontext Sozialer Arbeit. Amartya Sens und Martha Nussbaums Forschungsansatz zur Armut und ihr Konzept der Entwicklung menschlichen Fähigkeiten wird hier mit den ästhetischen Fähigkeiten als zu erschließendem Potential verknüpft. Auf diesem Hintergrund wird der Begriff Ästhetische Erfahrung’ (2) als transmodal-empathische Wahrnehmungs-und Erlebens-Schicht erläutert. Ein Beispiel ästhetischer Praxis aus der Ausbildung (3) zeigt deren Bedeutung am Thema Armut.

Renate von Schnakenburg
E-exclusion oder E-inclusion?

Der Begriff

E-exclusion

steht für die Einsicht, dass der Ausschluss (

exclusion

) von Personen oder Personengruppen aus den sozialen Zusammenhängen moderner Gesellschaften auch etwas damit zu tun hat, ob sie mit elektronischen Medien (‚E-‘) umgehen können oder nicht. Bei der Erforschung von Prozessen der E-exclusion und ihrer möglichen Überwindung geht es somit um den Zusammenhang von sozialer Ungleichheit, gesellschaftlicher Partizipation und medialer Kompetenz. Mit der Verbreitung des Internets verstärken sich die sozialen Benachteiligungen, setzt sich die alte Wissenskluft auf neuen Feldern fort (vgl. Kubicek, Bonfadelli 1994, Zillien 2006), denn der Bildungsgrad ist auch ein Indikator für Medienkompetenz (vgl. Logemann 2003). Insbesondere Kinder und Jugendliche aus sozial benachteiligten Familien sind von Prozessen der E-exclusion betroffen und damit in ihren Zukunftschancen benachteiligt. E-exclusion bezieht sich zum einen auf den Zugang zu elektronischen Medien, zum anderen auf den kompetenten, d.h. selbständigen, reflektierten, auf Partizipation und Lebenschancen abzielenden Umgang mit diesen Medien. Eine Überwindung dieses Exklusionsprozesses erscheint nur bedingt im Rahmen des schulischen Lernens möglich.

Ursula Henke, Hildegard Mogge-Grotjahn, Ernst-Ulrich Huster
Kinderarmut und familienbezogene soziale Dienstleistungen

In den 1990er Jahren wurde angesichts des deutlichen Anstiegs der Armutsbetroffenheit von Kindern der Begriff der „Infantilisierung der Armut“ (vgl. Hauser 1997: 76) geprägt. Heute, nach mehr als einer Dekade, muss von der

Verstetigung des Phänomens „Kinderarmut

gesprochen werden: Kinder sind nach wie vor die am häufigsten von Armut betroffene Altersgruppe. Parallel dazu zeigte sich in der deutschen Armutsforschung ein erhebliches Erkenntnisdefizit. Denn diese streifte die Problemlagen von Mädchen und Jungen, die in Armut aufwachsen, allenfalls am Rande: Sie wurden entweder als Armutsrisiko oder als Mitbetroffene oder gar nicht thematisiert. Dass Armut bei Kindern ein eigenes Gewicht zukommt, welches wesentlich geprägt ist von gesellschaftlichen und institutionellen Rahmenbedingungen, von den Verteilungsstrukturen innerhalb der Familien sowie den individuellen Potenzialen der Eltern, blieb ebenso unbeachtet. Gleiches gilt für die Fragen, wie Armut auf Minderjährige wirkt, welche mittel-und langfristigen Perspektiven sich armen Mädchen und Jungen eröffnen und welche Chancen der Bewältigung diese besitzen.

Gerda Holz
Soziale Sicherung und Arbeitsförderung bei Armut durch Arbeitslosigkeit

Arbeitslosigkeit ist eines der größten Armutsrisiken. Neben dem engen Zusammenhang von Arbeitslosigkeit und Armut auf der Mikroebene von Personen und Haushalten besteht ein enger Zusammenhang von Arbeitslosigkeit und Armut auf der gesellschaftlichen Ebene. In der Summe bedrohen weit verbreitete arbeitslosigkeitsbedingte Armutslagen die soziale Kohäsion, stellen das Wirtschafts- und Sozialsystem in Frage und gefährden die politische und soziale Legitimation eines Sozialstaats. Armutsvermeidung und Armutsbekämpfung sind sowohl aus ethischer Sicht, aber daher auch aus dieser polit-ökonomischen Sicht zentrale Aufgaben der Sozialpolitik und begründen die kollektiv finanzierten Systeme sozialer Sicherung bei Arbeitslosigkeit.

Gerhard Bäcker, Jennifer Neubauer
Armutspolitik der Europäischen Union

Die Kompetenzen für Beschlüsse über Art und Maß armuts- und verteilungswirksamer Sozialpolitik (etwa über Sozialhilfe- und Sozialversicherungssysteme; Kinder- und Wohngeldleistungen; soziale Sach- und Dienstleistungen, wie Notunterkünfte, Betreuungs- und Beratungsangebote) liegen in der Europäischen Union (EU) faktisch ausschließlich bei den Mitgliedstaaten bzw. deren Regionen und Kommunen. Doch auch auf europäischer Ebene gibt es Ansätze einer Politik gegen Armut und soziale Ausgrenzung, die bis in die 1970er Jahre zurück reichen, sowie wissenschaftliche und politische Kontroversen über deren Potentiale und Grenzen. Die Schaffung eines gemeinsamen Binnenmarktes für Waren, Kapital und Dienstleistungen, die Vergemeinschaftung der Währungspolitik und die damit zusammenhängende Koordinierung der Wirtschafts- und Haushaltspolitiken der beteiligten Mitgliedstaaten bei gleichzeitiger Beibehaltung der nationalen fiskal- und sozialpolitischen Kompetenzen haben in einem solchermaßen integrierten wirtschaftlichen, politischen und sozialen Raum wachsenden Einfluss auf die Verteilungsstrukturen und Armutspolitiken in den Mitgliedstaaten. Die Ausgestaltung eines gemeinsamen Raumes und einer politischen Ebene zwischen Nationalstaat und globaler internationaler Ebene führt seit Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (1958) zu Debatten darüber, diese Ebene verstärkt auch für armuts- und verteilungspolitische Probleme einerseits verantwortlich zu machen, hier andererseits aber auch Problemlösungskompetenzen zu verorten. Dabei hat die EU-Armutspolitik mit Widerständen zu kämpfen, sich an entgegenstehenden Interessen und Strukturen zu reiben, auf Bedenken und Befürchtungen einzugehen, Rückschläge hinzunehmen und auf Durchbrüche noch hinzuarbeiten.

Benjamin Benz
Wer ändert was — Was ändert wen? Verändernde Praxis als Herausforderung für Hochschulausbildung und berufliches Handeln

Der folgende Beitrag untersucht Optionen für Änderungswissen und Änderungspraktiken als theoriegeleitetes Handlungswissen sozialer Berufe zur Überwindung von Armut in Korrelationen zu Gesundheitsrisiken und Bildungsproblemen. Veränderndes soziales Handeln hat sich dabei — so die Prämisse — sowohl auf Bewältigungsstrategien derer zu beziehen, die von Armutsoder Krankheitsrisiken bzw. Bildungsdefiziten betroffen sind, als auch auf die je unterschiedlichen Praxen und Selbstverständnisse entsprechender Berufe und Institutionen: Das Spektrum der Sozialen Arbeit, der Gesundheitsberufe und des Bildungssektors in der Bundesrepublik. Der kritische, dreifach integrierende Blick auf jeweils relationale Ungleichheiten zwischen Armut und Reichtum, Gesundheit und Krankheit bzw. gelingende oder misslingende Bildungsprozesse eröffnet Einsichten in unterscheidbare Praxen und Selbstverständnisse im Kontext aktueller Veränderungen sozialer Berufe zwischen Markt und sozialer Bestimmung. Im Folgenden werden entsprechende Befunde und Erkenntnisse in Hinblick auf „Änderungswissen“ beispielhaft resümiert (1). Es folgt eine analytische Zusammenfassung unter der Fragestellung, wieweit das gegenwärtige Gefälle zwischen Armut und Reichtum als skandalisierbar gelten darf und welche mobilisierenden Faktoren für Veränderungen angelegt werden können (2). Perspektivisch werden abschließend Herausforderungen und Ansätze zur Implementierung von Änderungswissen in der Hochschulausbildung avisiert (3).

Thomas Eppenstein
Zivilgesellschaft und soziale Ausgrenzung

Zivilgesellschaft ist einer der „Orte“, an denen gesellschaftliche Teilhabe sich verwirklicht. Durch politische Partizipation, durch öffentliche Stellungnahme und Meinungsäußerung, durch konkrete und öffentlich sichtbare Mitwirkung im Bürgerschaftlichem Engagement und Ehrenamt gestalten Individuen die Gesellschaft mit. Sie tun dies in Vereinen, Verbänden, Initiativen und selbstverwalteten Zentren. Eine Form von Armut ist es, davon ausgeschlossen zu sein.

Ralf Vandamme
Armut und Öffentlichkeit

Das Verhältnis von Armut und Öffentlichkeit ist gekennzeichnet durch eine doppelte Marginalisierung. Auf der einen Seite spielt das Thema bei den meisten Medien nur eine untergeordnete Rolle — es sein denn, es gibt Meldungen mit Sensationscharakter-, auf der anderen Seite, sind sozial Benachteiligte sowohl aus finanziellen Gründen als auch teilweise aus Kompetenzgründen kaum in der Lage, die Medien produktiv für ihre Interessen zu nutzen.

Richard Stang
Armut als globale Herausforderung

Armut im Weltmaßstab ist nicht nur ein Teil globaler sozialer Ungleichheit, sondern ihr prägendes Merkmal: Nahezu die Hälfte der Weltbevölkerung lebt nach der Einkommensdefinition der Weltbank in Armut, jeder sechste Mensch sogar in extremer Armut.

Walter Eberlei
Backmatter
Metadata
Title
Handbuch Armut und Soziale Ausgrenzung
Editors
Ernst-Ulrich Huster
Jürgen Boeckh
Hildegard Mogge-Grotjahn
Copyright Year
2008
Publisher
VS Verlag für Sozialwissenschaften
Electronic ISBN
978-3-531-90906-6
Print ISBN
978-3-531-15220-2
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-531-90906-6