Wer sich sozialwissenschaftlich mit dem Zusammenhang von Migration und Kriminalität beschäftigt, begibt sich auf ein „politisches und ideologisches Minenfeld“ (Eisner
1998, S. 11). So gibt es in nahezu allen westlichen Ländern Gruppen von Menschen fremder Ethnizität, die ein im Vergleich mit der autochthonen Bevölkerung erhöhtes Risiko aufweisen, angezeigt, verurteilt oder eingesperrt zu werden. Diese Überrepräsentation im „Hellfeld“ der offiziellen Kriminalstatistiken wird einerseits immer wieder herangezogen, um xenophobe Argumentationen und Stereotype zu bekräftigen. Andererseits ist genau diese – vermeintlich oder tatsächlich – höhere Kriminalitätsbelastung einzelner ausländischer Bevölkerungsteile in den Augen kritisch-engagierter Stimmen nichts anderes als das Ergebnis rassistischer oder fremdenfeindlicher Praktiken der Strafverfolgungsorgane (vgl. Tonry
1997; Phillips und Bowling
2012). Die Heftigkeit der Vorwürfe, die im Diskurs um Kriminalität und Zuwanderung zumindest implizit immer auch mitverhandelt werden, zeigt an, dass die Materie alles andere als harmlos ist. Jenseits kulturalistischer Zuschreibungen geht es dabei stets um die durch Machtungleichgewichte strukturierten Beziehungen zwischen „Etablierten“ und „Außenseitern“, in denen erstere dazu neigen, letztere als „unbändige Übertreter von Gesetzen und Normen“ (Elias und Scotson
1990, S. 22) wahrzunehmen.
So hat sich die Kriminologie auch schon relativ früh mit Migrationsphänomenen beschäftigt. Klassische theoretische Konzepte der US-amerikanischen Kriminalsoziologie wie Anomie (vgl. Merton
1938), Kulturkonflikt (vgl. Sellin
1938), oder die sozialräumlichen Analysen der Chicago School (vgl. Shaw und McKay
1942) wurden maßgeblich durch Auseinandersetzungen zwischen Vertretern unterschiedlich privilegierter Gruppen inspiriert, die zu verschiedenen Zeitpunkten nach Nordamerika eingewandert waren. Das Hauptaugenmerk galt schon damals den jungen Männern der „zweiten Generation“ von MigrantInnen, die im Gegensatz zu ihren meist besonders disziplinierten, bescheidenen und angepassten Eltern unangenehm auffielen. Ohne die Zustände ökonomischen Elends oder politischer Unterdrückung, denen die „erste Generation“ entronnen war, selbst kennengelernt zu haben, orientierten sie sich an den gesellschaftlich dominanten Maßstäben materiellen Erfolgs, waren aber gleichzeitig sozialstrukturell bedingt mit sehr eingeschränkten Möglichkeiten konfrontiert, diese allgemein wertgeschätzten kulturellen Ziele auch zu erreichen.
2.2.1 Amtliche Daten und Wissenslücken
Ähnliche Wahrnehmungen, die allerdings nicht immer theoretisch reflektiert wurden, prägten auch die deutschsprachige kriminologische Debatte, die – wie in vielen anderen europäischen Ländern – im Gefolge der ersten Arbeitsmigrationswellen ab Ende der 1970er-Jahre einsetzte (vgl. Albrecht und Pfeiffer
1979). Die – gelegentlich als „tickende soziale Zeitbombe“ (vgl. Schwind
1983) dramatisierte Beobachtung einer erhöhten Kriminalitätsbelastung von Gastarbeiternachkommen, die sich bis in die 1990er-Jahre hinein ganz überwiegend auf amtliche Daten stützte, blieb aber nicht ohne Widerspruch: Sie sei, wie kritische BeobachterInnen schon bald anmerkten, ein bloßes „Artefakt der Kriminalstatistik“ (Geißler und Marißen
1990). Abgesehen davon, dass die polizeilichen und gerichtlichen Datensammlungen ausschließlich das – im Hinblick auf Migrations- und Kriminalitätsphänomene nur bedingt relevante – Merkmal der Staatsangehörigkeit tatverdächtiger oder verurteilter Personen erfassen, gehört es heute unzweifelhaft zum gesicherten kriminologischen Wissen, dass ein allenfalls kriminalstatistisch nachweisbarer erhöhter Fremdenanteil nichts über eine erhöhte Kriminalitätsbelastung der ausländischen Wohnbevölkerung auszusagen vermag (vgl. Pfeiffer et al.
2005, S. 17 ff.). Da die Kriminalstatistiken auch Straftaten mobiler Populationen von Menschen mit fremder Staatsangehörigkeit erfassen, die über gar keinen ordentlichen Wohnsitz im Inland verfügen (Touristen, Durchreisende, Austauschstudierende, irregulär Zugewanderte etc.), ist es grob verzerrend, die gesamte Ausländerkriminalität auf die bevölkerungsstatistisch erfasste Ausländerwohnpopulation zu beziehen. Hinzu kommt, dass bestimmte Straftaten des Fremdenrechts begreiflicherweise fast ausschließlich von Personen begangen werden, die nicht dem Staat angehören, in den sie einwandern. Schließlich ist die demographische und sozioökonomische Struktur der Ausländerpopulation nicht mit der inländischen Wohnbevölkerung vergleichbar: Zugewanderte sind in der Regel „jünger, überproportional männlich und vermehrt am unteren oder oberen Ende der sozialen Statusskala angesiedelt“ (Pilgram et al.
2012, S. 7). Die bisherigen „Periodischen Sicherheitsberichte“ der deutschen Bundesregierung (BMI/BMJ
2001,
2006) verzichten aus diesen Gründen überhaupt auf Kriminalitätsbelastungsziffern für Nicht-Deutsche. Dieser politisch korrekte „Wille zum Nichtwissen“ mag nicht die schlechteste Lösung für die skizzierten Probleme im Umgang mit administrativen Kriminalitätsdaten sein. Ob er die politisch und wissenschaftlich interessierte kritische Öffentlichkeit auf Dauer zu überzeugen vermag, sei dahingestellt.
2.2.2 Kriminologische Wissensproduktion
Es liegt auf der Hand, dass kriminologische Befunde, die sich auf administrative Strafverfolgungsdaten stützen, von begrenzter Aussagekraft sind. Abgesehen davon, dass letztere nicht für wissenschaftliche Zwecke erhoben werden, sondern vor allem der Selbststeuerung und -darstellung der einschlägigen Organisationen dienen (vgl. Kreissl
2011), spiegeln sie als Anzeigen- und Tätigkeitsstatistiken nichts anderes als „Bilder der gesellschaftlich stattfindenden Kriminalisierungen“ (Pilgram
1980, S. 37) wider.
3 Über die Verbreitung kriminalisierbarer Handlungen, die im „Dunkelfeld“ der nicht angezeigten oder entdeckten Straftaten verbleiben, können amtliche Kriminalstatistiken nichts aussagen. Jenseits der Staatsangehörigkeit enthalten sie auch keine Hinweise auf Migrationserfahrungen verdächtiger Personen (oder ihrer Eltern und Familien). Aus diesen Gründen hat die Kriminologie versucht, einen eigenen empirischen Zugang zum „kriminellen Geschehen“ und seinem sozialen Kontext zu finden: mittels aufwändiger Umfragestudien, in denen neben Viktimisierungs- und Tätererfahrungen auch sozioökonomische Merkmale und Einstellungsdimensionen erhoben werden. In Deutschland werden solche Forschungsprojekte seit den 1990er-Jahren regelmäßig als Befragungen Jugendlicher in Schulen durchgeführt. Obwohl die Ergebnisse aufgrund unterschiedlicher Zielpopulationen, Stichprobenzusammensetzungen, Erhebungsinstrumente und Auswertungsmethoden weder völlig vergleichbar noch einheitlich sind, lassen sich etwas vereinfachend doch einige bemerkenswerte Übereinstimmungen und Tendenzen benennen (vgl. Walburg
2007, S. 245 ff.; Enzmann
2010, S. 63):
-
Erstens zeigen sich im Hinblick auf die „Gesamtdelinquenzbelastung“, die stark durch jugendtypische Bagatelldelikte geprägt ist, kaum Unterschiede zwischen Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund.
-
Dasselbe trifft zweitens auf die meisten Formen von Eigentumsdelinquenz zu, bei der manche Gruppen migrantischer Jugendlicher sogar weniger Delikte berichten als die Befragten ohne Migrationshintergrund.
-
Drittens geben Jugendliche mit Migrationshintergrund dagegen öfter als ihre „einheimischen“ Altersgenossen an, Gewaltdelikte begangen zu haben. Zumindest für schwerwiegendere Verhaltensweisen verschwindet dieser Effekt aber oder wird wenigstens deutlich schwächer, wenn die – für migrantische Jugendliche in aller Regel schlechteren – sozioökonomischen Lebensbedingungen statistisch kontrolliert werden. Allenfalls zeigt sich in multivariaten Modellen eine Neigung männlicher Jugendlicher aus der „zweiten Generation“, verstärkt das Begehen (überwiegend harmloser) Gewaltdelikte zu berichten, die nicht direkt auf die soziale Lebenslage zurückgeführt werden kann. Erklärbar ist dieses Kokettieren mit Gewalt durch gemessene Einstellungsdimensionen, die eine Akzeptanz „gewaltlegitimierender Männlichkeitsnormen“ anzeigen. Solche Orientierungen können indes nicht einfach kulturalistisch gedeutet werden, sondern dürften ihrerseits eher als Anpassung an soziale Benachteiligungen und Marginalisierungen zu verstehen sein (vgl. Enzmann et al.
2004).
-
Viertens hängt schließlich bei Konflikten zwischen Jugendlichen, die als Gewalterfahrung erlebt und berichtet werden, die Anzeigebereitschaft ganz wesentlich von der ethnischen Täter-Opfer-Konstellation ab: Jugendliche ohne Migrationshintergrund weisen ein weitaus geringeres Risiko auf, von Opfern (egal welcher Herkunft) angezeigt zu werden, als solche mit Migrationshintergrund (Mansel und Albrecht
2003; Köllisch
2009; Baier et al.
2009). Migrantische Jugendliche sind also bei Konflikten mit Gleichaltrigen einem größeren Risiko selektiver Kriminalisierung ausgesetzt, was (auch vor dem Hintergrund allenfalls erhöhter Anteile an Tatverdächtigen in der polizeilichen Kriminalstatistik) ein durchaus brisanter Befund ist – ein Befund, der aber keine Auskunft darüber gibt, warum die Mehrheit der Auseinandersetzungen dennoch
ohne das Einschalten formeller Kontrollinstanzen geschlichtet werden kann und warum sich MigrantInnen bei Konflikten mit „einheimischen“ Jugendlichen seltener an die Polizei wenden.
Für Österreich muss der Stand des kriminologischen Wissens im Hinblick auf Migration im Vergleich mit anderen Ländern (z. B. Deutschland oder Großbritannien) als sehr eingeschränkt bezeichnet werden, was nicht nur mit der geringen Größe des Landes, sondern auch mit dem Fehlen einer nennenswerten Forschungstradition zu tun haben dürfte. Bis auf wenige Ausnahmen (Pilgram
2011; Pilgram et al.
2012) gibt es kaum aktuelle Studien, in denen amtliche Kriminalstatistiken systematisch, zusammenschauend und kritisch auf die Frage hin ausgewertet werden, welche validen Aussagen über die Ausländerpopulation sie überhaupt erlauben. Unmöglich sind solche Aussagen jedenfalls dann, wenn – wie etwa bei Reindl-Krauskopf und Grafl (
2009) – nur absolute Zahlen oder Anteile fremder Tatverdächtiger aus der polizeilichen Kriminalstatistik berichtet werden.
Dunkelfeldstudien fehlen in Österreich ebenfalls nahezu gänzlich. Die bislang einzige Ausnahme war die zweite Erhebungswelle der „International Self-Report Delinquency Study“ (ISRD 2), in deren Rahmen 2005/06 rund 3000 österreichische Jugendliche der 7. bis 9. Schulstufe in Wien, Graz und fünf weiteren vorab ausgewählten Mittel- und Kleinstädten befragt wurden (Stummvoll et al.
2010). Dieses „City-Sampling“ war durch das internationale Studiendesign vorgegeben. Die Daten dieser Erhebung, die auch Aussagen über den Zusammenhang von Migrationshintergrund und selbst berichteter Delinquenz erlauben (vgl. auch Fuchs und Krucsay
2011), wurden eigens für diesen Beitrag entsprechend ausgewertet. Die Ergebnisse sind in Tab.
1 dargestellt. Dort finden sich – jeweils nach Migrationshintergrund (gesamt sowie „erste“ und „zweite“ Generation) aufgeschlüsselte – Angaben für den Gruppenanteil, den Anteil der Jugendlichen, der eine höhere Schule besucht, sowie die Anteile der Befragten, die angeben, ein bestimmtes Delikt in ihrem Leben schon einmal begangen zu haben.
Tab. 1
Selbstberichtete Delinquenz und Migrationshintergrund im österreichischen Sample der ISRD 2-Studie
Anteil (%) | 63,9 | 36,1 | 20,8 | 15,3 | 100,0 (2908) |
Anteil in höherer Schule (%) | 65,2 | 38,2 | 43,6 | 30,9 | 55,5 (2908) |
„Gesamtdelinquenz“ |
Lebenszeitprävalenz (%) | 41,7 | 40,7 | 45,9 | 33,6 | 41,3 (2823) |
OR | – | 0,96 | 1,18*
| 0,71***
| – |
OR nach Kontrolle | – | 0,85**
| 1,07 | 0,60****
| – |
„Gruppenschlägerei“ |
Lebenszeitprävalenz (%) | 18,7 | 24,0 | 28,8 | 17,5 | 20,7 (2895) |
OR | – | 1,37***
| 1,75****
| 0,92 | – |
OR nach Kontrolle | – | 1,18*
| 1,55****
| 0,75**
| – |
„Körperverletzung“ |
Lebenszeitprävalenz (%) | 3,7 | 4,7 | 5,8 | 3,2 | 4,0 (2893) |
OR | – | 1,29 | 1,62**
| 0,86 | – |
OR nach Kontrolle | – | 1,12 | 1,43 | 0,71 | – |
„Sachbeschädigung“ |
Lebenszeitprävalenz (%) | 17,8 | 14,7 | 15,6 | 13,5 | 16,7 (2899) |
OR | – | 0,80**
| 0,85 | 0,72**
| – |
OR nach Kontrolle | – | 0,74***
| 0,80*
| 0,66***
| – |
„Ladendiebstahl“ |
Lebenszeitprävalenz (%) | 19,1 | 15,7 | 17,6 | 13,2 | 17,9 (2893) |
OR | – | 0,79**
| 0,90 | 0,64***
| – |
OR nach Kontrolle | – | 0,71***
| 0,82 | 0,56****
| – |
Dargestellt sind die – durch entsprechende Fragebogenitems definierten – Delikte „Gruppenschlägerei“, „Körperverletzung“, „Sachbeschädigung“ und „Ladendiebstahl“ sowie der Anteil derer, die zumindest irgendeine der im Rahmen der Studie abgefragten verbotenen Verhaltensweisen („Delinquenz gesamt“) berichten. Zusätzlich sind Odds Ratio-Werte angegeben, die den Faktor darstellen, um den sich die Chance der Jugendlichen mit Migrationshintergrund gegenüber der Referenzgruppe der Jugendlichen ohne Migrationshintergrund (beide Eltern in Österreich geboren) erhöht oder verringert, das Begehen eines bestimmtes Deliktes zu berichten. Diese Werte können mittels logistischer Regressionen für das Schulniveau kontrolliert werden, das – um die Auswertung bewusst einfach zu halten – als binäre Variable (Besuch einer höheren Schule: ja oder nein) gefasst wurde. Diese multivariate Kontrolle trägt dem Umstand Rechnung, dass Jugendliche mit Migrationshintergrund deutlich seltener höhere Schulen besuchen, was als Indikator für einen niedrigeren sozioökonomischen Status und eine geringere Ausstattung mit kulturellem Kapital (vgl. Bourdieu
1992) angesehen werden kann. Im Lichte des konventionellen theoretischen und empirischen Wissens der Kriminologie sollte dies die Wahrscheinlichkeit delinquenter Verhaltensweisen erhöhen.
Die Ergebnisse bestätigen recht eindrucksvoll die oben skizzierten Trends der deutschen Dunkelfeldforschung: Bereits ohne Kontrolle des Schulniveaus zeigen sich keine großen Unterschiede in der „Delinquenzbelastung“ zwischen Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund. In der Gesamtbetrachtung sind migrantische Befragte sogar weniger belastet, wenn ihr niedrigerer sozioökonomischer Status berücksichtigt wird. Das signifikant häufigere Berichten von Gewaltdelikten bleibt nach multivariater Überprüfung nur für das vergleichsweise harmlose Delikt der „Gruppenschlägerei“ erhalten und das auch nur bei Jugendlichen der „zweiten Generation“. Jugendliche, die selbst im Ausland geboren sind, geben hingegen signifikant seltener an, dieses Delikt begangen zu haben. Für diese Gruppe zeigt sich generell eine deutlich niedrigere Chance, delinquentes Verhalten zu berichten. Von allen Befragten mit Migrationshintergrund werden schließlich die Eigentumsdelikte „Sachbeschädigung“ und „Ladendiebstahl“ seltener berichtet.
Derartig entlastende Befunde vermögen das „Minenfeld“ der Debatte um Migration und Kriminalität zweifellos zu entschärfen. Insofern ist es zu begrüßen, wenn solche Daten unabhängig von medialen Skandalisierungskonjunkturen regelmäßig erhoben werden. Trotzdem sollten auch die Grenzen und Gefahren dieser Art von Forschung im Auge behalten werden. So ist es durchaus fraglich, ob sich Jugendliche mit und ohne Migrationshintergrund nicht unterscheiden, was Frageverständnis, Antwortverhalten und Auskunftsbereitschaft betrifft. Erkenntnistheoretisch gesehen ist es außerdem nicht „Kriminalität“, die in Self-Report-Studien gemessen wird, sondern allenfalls die Bereitschaft, im Kontext der Befragungssituation das Begehen oder Erleiden potenziell kriminalisierbarer, durch Fragebogenitems standardisiert umschriebener Verhaltensweisen zu berichten. Aus diesem Grund sind die Delikte in Tab.
1 auch in Anführungszeichen gesetzt – schließlich handelt es sich trotz der zum Teil kriminalrechtlichen Begriffe gerade nicht um polizeilich ermittelte oder gar richterlich geprüfte Sachverhalte, die tatsächlich unter Tatbestände des Strafgesetzbuches subsumiert worden wären. Dieser epistemologische Unterschied, den es bei jeglicher Interpretation von Dunkelfelddaten zu berücksichtigen gilt, ist alles andere als trivial. In den Augen mancher KritikerInnen wäre es denn auch schlicht „unwissenschaftliche Spekulation“ (Kunz
2008, S. 64), das Reportverhalten der Befragten als Hinweis auf das „wahre Kriminalitätsgeschehen“ zu deuten. Dunkelfeldbefragungen zeichnen ein ganz bestimmtes Kriminalitätsbild, das nicht „echter“ als die amtlichen Statistiken ist und daher nicht mit „der“ Wirklichkeit verwechselt werden sollte.
Solche erkenntniskritischen Einwände wiegen zwar nicht eben leicht, unterschätzen jedoch möglicherweise die Validität von Selbstauskünften der Untersuchungssubjekte (vgl. Naplava und Oberwittler
2002; Phillips und Bowling
2012). Problematischer als die methodologischen Schwächen, die Umfragestudien stets vorgehalten werden können, ist indessen – so das hier vertretene Argument – die unweigerliche Nähe der Fragestellungen der Forschung zu selbst berichteter Delinquenz und Viktimisierung zu administrativen Strafverfolgungsbedürfnissen. Wenn Dunkelfeldstudien darauf angewiesen sind, sich zum Einwerben von Forschungsgeldern als anwendungsnahe Hilfsmittel zur Prävention oder Eindämmung von Jugendkriminalität zu verkaufen, sind die damit verbundenen Kontroll- und Problematisierungsinteressen unübersehbar. Aber auch wenn das nicht der Fall ist, erscheinen die Forschungsfragen von eigentlich vorwissenschaftlichen, bürokratienahen Relevanzkriterien zumindest überlagert, insofern erwartet wird, dass ihre Ergebnisse zu einer Art objektivierenden Korrektur der amtlichen Anzeigen- und Verurteilungsstatistiken beizutragen haben. Mit der „kriminalstatistischen Funktionalisierung“ (Wetzels
1995, S. 3) der Befragten geht außerdem ein einseitiger Fokus auf Jugend- und Gewaltkriminalität einher: „Täterbefragungen“, die für die gesamte Bevölkerung repräsentativ sein sollen, sind praktisch fast nur bei schulpflichtigen Jugendlichen zu realisieren, deren abweichendes Verhalten im öffentlichen Diskurs – zumal in Verbindung mit Integrationsfragen – vor allem als „Gewalt“ in Erscheinung tritt. Der paradigmatische „kriminelle Fremde“, dessen statistisch aggregierte Existenz auf dem Prüfstand steht, ist dann meist der körperlich aggressive junge Mann südlicher oder östlicher Herkunft. Auch wenn es die aufrichtigen persönlichen Motive der Forschenden sein mögen, den durch populistische Politiker und Boulevardmedien hochgehaltenen Mythos der besonderen Kriminalität der Zugewanderten zu entlarven, so besteht hier eine gewisse Gefahr, die schrillen thematischen Rahmungen, die man eigentlich versachlichen möchte, indirekt zu unterstützen. Widerlegungen dummer Vorurteile sind anfällig dafür, sich der impliziten Logik dessen zu fügen, was sie in bester Absicht in Frage stellen wollen (es ließen sich schließlich auch ganz andere Fragen stellen). Aus dem Blick droht dabei zu geraten, welche Praktiken „lebenden Rechts“ (Ehrlich
1989) sich eigentlich
jenseits formeller oder quasi-formeller Kategorien von Kriminalität und Kriminalisierung abspielen.
Lässt man die positivistische Hoffnung, durch Self-Report-Studien das Dunkelfeld exakt zu vermessen, leichten Herzens fahren, so ist – sofern man deren Ergebnisse nicht von vornherein ideologiekritisch abwerten will – eine reflexiv-pragmatische Haltung möglich, die innerhalb der kriminologischen
scientific community mittlerweile auch weitgehend konsensfähig sein dürfte. So räumt etwa Wetzels (
1995, S. 7), einer der Proponenten der deutschen Dunkelfeldforschung, durchaus selbstkritisch ein, dass Kriminalität als interpretatives und normatives Konstrukt „nicht ohne weiteres auf der Ebene individueller Erfahrungen ‚objektiv‘ zählbar“ ist. Dennoch können, wie auch Steinert (
2001, S. 117) aus einem explizit kritisch-kriminologischen Standpunkt heraus betont hat, Self-Report-Studien insofern „verdienstvoll“ sein, als sie Hinweise auf Kriminalisierungsprozesse geben, die zwischen „Einheimischen“ und „Fremden“ selektiv unterschiedlich ablaufen. Solche Befunde sollten dann aber durch weitere Forschungsbemühungen ergänzt werden, die die Logik des Zählens von Ereignissen hinter sich lassen.