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2007 | Book

Neue Soziale Frage und Sozialpolitik

Author: Petra Dobner

Publisher: VS Verlag für Sozialwissenschaften

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About this book

Jede menschliche Gesellschaft ist gezwungen, einen Umgang mit der Tatsache zu finden, dass Vermögen und Geschick, materielle Reichtümer und Glück sich ungleich auf ihre Mitglieder verteilen. Sie ist aber frei, unter den vielen Möglichkeiten zu wählen, die sich zwischen den Extremen – dem einzelnen die ganze oder nur wenig Verantwortung für sein Leben aufzubürden – bieten. Diese Wahl ist folgenreich: Ob einer Gesellschaft Ungleichheit glei- gültig ist oder nicht, wird als Grundriss ihre gesamte Architektur beherrschen. In der Regel haben sich menschliche Verbände aller Art dafür entschieden, den Dingen nicht einfach freien Lauf zu lassen. Ur- sellschaften hatten oft komplexe Systeme, Reichtum und Armut kollektiv zu teilen, Schwächen und Stärken der einzelnen Mitgl- der zu integrieren. Alle Religionen kennen Formen der Nächst- liebe, Barmherzigkeit oder Verantwortung füreinander. Lange vor den ersten Anfängen des modernen Sozialstaates versuchten - meinden, ihre Mitglieder gegen die Wechselfälle des Lebens ab- sichern. Bis heute gilt die Familie als Solidarverband. Nachb- schaftshilfe, das Stiftungswesen, karitative Einrichtungen, freiw- lige Feuerwehren und Ehrenämter in vielen Bereichen des gese- schaftlichen Lebens zeugen von der verbreiteten Überzeugung, dass nicht jeder seines Glückes alleiniger Schmied ist.

Table of Contents

Frontmatter
Einleitung
Auszug
Jede menschliche Gesellschaft ist gezwungen, einen Umgang mit der Tatsache zu finden, dass Vermögen und Geschick, materielle Reichtümer und Glück sich ungleich auf ihre Mitglieder verteilen. Sie ist aber frei, unter den vielen Möglichkeiten zu wählen, die sich zwischen den Extremen — dem einzelnen die ganze oder nur wenig Verantwortung für sein Leben aufzubürden — bieten. Diese Wahl ist folgenreich: Ob einer Gesellschaft Ungleichheit gleichgültig ist oder nicht, wird als Grundriss ihre gesamte Architektur beherrschen.
1. Acht Gründe, sich mit dem Sozialstaat zu beschäftigen
Auszug
„Interesse“ geht in seiner Wortbedeutung auf eine Wortzusammensetzung des lateinischen „inter“ (zwischen) und „esse“ (sein) zurück. Interesse zu haben ist in diesem einfachen Sinne: teilhaben, dabei sein. Warum sollten wir — und wie können wir — als Laien, als Bürger, als Wissenschaftler an der Diskussion über den Sozialstaat „teilhaben“?
2. Gerechtigkeit und Sozialstaat
Auszug
Der Verfassungsgeber hat bezüglich der Sozialstaatlichkeit der Bundesrepublik eine definitive, gleichwohl offene Entscheidung getroffen: Art. 20 und Art. 79 GG legen fest, dass die Bundesrepublik unwiderruflich ein sozialer Bundesstaat ist. Nähere Ausführungen über den Umfang sozialstaatlicher Verpflichtungen sind dem Grundgesetz hingegen nicht zu entnehmen. Die verfassungsrechtliche Verfügung in der Sache wie die Offenheit im Detail mögen dazu beigetragen haben, dass „eine normativ-politische Debatte über die grundlegenden Gerechtigkeitsformen, die dem Sozialstaat zugrundeliegen, [...] in der Bundesrepublik noch kaum entfaltet [ist]“ (Nullmeier/Vobruba 1995: 14).
3. Armut und Soziale Frage
Auszug
Im Lichte der historischen Armutsforschung zeigt sich die Entstehung des modernen Sozialstaates als ein Ringen um die Beherrschung eines Phänomens, das dem Mittelalter als konstanter Wegbegleiter, so unvermeidlich wie eine Naturkatastrophe, erschien: das Massenphänomen extremer Armut (vgl. Ritter 1991: 30 ff.). Mehrere Jahrhunderte vergehen, bis die mittelalterlichen Solidaritätssysteme, die auf Familien, Grundherrn und Kirchen setzten, von einer zunächst kommunalen, später staatlichen Politik fast vollständig ersetzt werden.
4. Die Etablierung des deutschen Sozialstaates
Auszug
Einer die brennenden sozialen Probleme des 19. Jahrhunderts angehenden staatlichen Initiative stand lange liberaler Widerstand gegen Eingriffe in die Wirtschafts- und Arbeitsstrukturen im Wege. Erst in den achtziger Jahren gelang es, mit Bismarcks Politik des „Zuckerbrots“, die die Wirkung der „Peitsche“ des Sozialistengesetzes28 mildern sollte, Sozialgesetze in nennenswertem Umfang auf den Weg zu bringen. Über die Motive für diesen Gesinnungswandel muss nicht spekuliert werden: Am Ende siegten nicht die Vertreter von Humanismus und Gerechtigkeit, die seit der Mitte des Jahrhunderts eine staatliche Verantwortung für die soziale Frage eingeklagt hatten, sondern politisches Kalkül. „Bismarck glaubte dadurch, daß er den Arbeiter zum Staatsrentner machte, ihn vom Sozialismus abzuziehen und ihm eine politisch zuverlässige Schwimmkraft zu geben.“ (Schmittmann 1926: 624) Auch wenn Berechnung die Sozialgesetzgebung motivierte und obwohl diese zunächst nur kleine Teile der Bevölkerung weitgehend unzureichend vor den Risiken des Arbeitsalltags schützen konnte, ist die deutsche Sozialgesetzgebung jener Zeit vorbildlich für Europa und in ihrer langfristigen Folgewirkung für den ausgebauten Sozialstaat in seiner heutigen Form kaum überschätzbar. Zudem bot sie, deutlich gegen die Intentionen des Wegbereiters, in Form der Hilfskassen der ihrer eigentlichen Organisationsformen durch das Sozialistengesetz ledig gewordenen Sozialdemokratie einen Ort des Überwinterns (vgl. Ritter 1991: 86).
5. Die Gegenwart des Sozialstaates
Auszug
Sozialpolitik ist eine Dauerbaustelle — und muss eine bleiben, solange die Forderung besteht, den sozialen Wandel politisch zu gestalten. Die oftmals beklagte „Reformwut“, mit der das Feld der Sozialpolitik beständig umgepflügt wird, ist somit nicht einfach ein Übel, sondern auch Zeichen eines politischen Anpassungswillens an sich verändernde soziale und ökonomische Gegebenheiten. Zudem darf nicht vergessen werden, dass ein demokratischer politischer Entscheidungsprozess und die aus guten Gründen verfassten Machtteilungen mit entsprechenden Abstimmungs- und Kompromissnotwendigkeiten eine Sozialpolitik „aus einem Guss“ gar nicht ermöglichen. Zu komplex sind auch die zu berücksichtigenden Interessenlagen. Ein grundsätzliches Verständnis für die Reformintensität in der Sozialpolitik ist indessen kein Hindernis, sondern vielmehr die Voraussetzung konstruktiver Kritik.
6. Herausforderungen des Sozialstaates
Auszug
1976 veröffentlichte der damalige rheinland-pfälzische Minister für Soziales, Gesundheit, Jugend und Sport und spätere Bundesminister Heiner Geißler ein Buch mit dem Titel: „Die Neue Soziale Frage: Analysen und Dokumente“.36 Mit gut zehnjähriger Verspätung37 erreichte damit eine zunächst in den USA, dann auch in Großbritannien geführte Debatte die Bundesrepublik, die sich an dem Befund wachsender Armut trotz hoher Wachstumsraten entzündet hatte.
Backmatter
Metadata
Title
Neue Soziale Frage und Sozialpolitik
Author
Petra Dobner
Copyright Year
2007
Publisher
VS Verlag für Sozialwissenschaften
Electronic ISBN
978-3-531-90476-4
Print ISBN
978-3-531-15241-7
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-531-90476-4