Zur Hauptträgerin des politischen Antizionismus entwickelt sich laut zeithistorischen Analysen die in den 1970er-Jahren in Österreich entstehende außerparlamentarische Neue Linke, die im Zuge weltweiter Dekolonisierungsprozesse antiimperialistische und antikoloniale politische Positionen übernimmt (vgl. Reiter
2001, S. 151 ff/193 ff.). Ab den späten 1980er-Jahren kommt es nach Beginn der Ersten Intifada 1987 zu einem Aufschwung der Palästinasolidarität, wobei sich radikal antizionistische Positionen in das neu entstehende autonom-linksradikale Spektrum verschieben. Es werden verschiedene Solidaritätsgruppen gegründet, wie etwa die
Autonome Palästinagruppe, das
Palästina Solidaritätskomitee oder die 1994 gegründete
Kampagne Tawfik Chaovali.
3 Etwa zu diesem Zeitpunkt setzt die innerlinke Auseinandersetzung mit israelbezogenem Antisemitismus ein; der Antizionismus bleibt jedoch ein essentieller Bestandteil antiimperialistischer Politik und manifestiert sich weiterhin im marxistisch-leninistischen und trotzkistischen autonomen Spektrum. Ab den 1990er-Jahren entstehen einige Gruppen, die sich dezidiert antizionistisch positionieren – etwa die 1998 gegründete
Kommunistische Aktion Österreich (KOMAK), die sich 2002 mit der
Initiative Marxist/innen-Leninist/innen zur KOMAK-ML zusammenschließt. Im trotzkistischen Spektrum entstehen mit
Linkswende, der
Arbeitsgruppe Marxismus (AGM) und der
Antifaschistischen Linken (AL) ab Mitte der 1990er-Jahre neue Zusammenhänge. Aus den beiden letzteren geht Mitte der 2000er-Jahre die
Revolutionär Sozialistische Organisation (RSO) hervor (vgl. Scharinger
1996). Die Gruppen, die sich im Gefolge der Zweiten Intifada am stärksten antizionistisch positionieren, sind der bereits in den 1980er-Jahren gegründete trotzkistische
ArbeiterInnenstandpunkt (AsT), der später der
Liga der Sozialistischen Revolution (LSR) beitritt und sich nach einer Spaltung 2011 in
Revolutionär-Kommunistische Organisation Befreiung (RKOB) umbenennt. Als direkte Reaktion auf die Intifada gründen sich Anfang der 2000er-Jahre zudem die
Antiimperialistische Koordination (AIK) und die antikoloniale Gruppe
Sedunia, die sich 2003 in
Dar al Janub umbenennt und im Jahr 2014 die österreichische Sektion der internationalen Boykottbewegung
Boycott, Divestment and Sanctions Austria (BDS Austria) ins Leben ruft.
Die genannten Gruppierungen stecken das antizionistische Feld innerhalb der radikalen Linken ab. Die 1980er und frühen 1990er-Jahre markieren dabei eine Periode des offenen Antizionismus, in dem die Kritik an Israel mit sekundärem Antisemitismus amalgamiert.
3.1 „Imperialistischer Brückenkopf“ und NS-Bezüge: Debatten um linken Antisemitismus in den 1980er und 1990er-Jahren
Mit der Ersten Intifada im Jahr 1987 erstarkt in Wien der Antizionismus autonomer Gruppen und es wird erstmals innerlinke Kritik formuliert. Zu Beginn des Jahres 1988 druckt das linke Wochenmagazin
akin (Aktuelle Informationen) ein Flugblatt des autonomen
Palästina-Solidaritätskomitees ab, das Kritik hervorruft (vgl. Palästina-Solikomitee Flugblatt in akin 2
1988, o.S.). Der Aufruf bewirbt eine Diskussionsveranstaltung an der Universität Wien mit einem Vertreter der PLO und weitere palästinasolidarische Aktionen und steht exemplarisch für den antizionistischen Diskurs dieser Zeit. Einleitend wird zur „Solidarität mit dem palästinensischen Volksaufstand“ und zum „weltweiten Boykott und Ausschluss des israelischen Regimes aus allen internationalen Organisationen“ aufgerufen. Dabei bringen die Verfasser_innen das antizionistische Kolonialframing auf den Punkt, in welchem dem israelischen Staat eine imperialistische Symbolfunktion zukommt, die dessen „Existenzrecht“ aus linker Perspektive per se ausschließt: Israel sei ein „illegaler rassistischer Kolonialstaat“ und „vorgeschobener Stützpunkt imperialer Aggressionen gegen die arabischen Völker“. Insofern sei das „Staatsgebilde aus eigenem Interesse und aus Solidarität mit dem palästinensischen Volk ab[zu]lehnen“. Ein diskursiver Bestandteil des Kolonialnarrativs sind dabei antisemitische Machtprojektionen, die entweder direkt israelbezogen formuliert werden oder mit Bezug auf einen „weltumspannenden zionistischen Einfluss“, wie im hier zitierten Flugblatt. Neben einem Verweis auf versteckte „israelische“ bzw. „jüdische Einflussnahme“ in Österreich, eine Wahrnehmung, die oft als Einfluss der „zionistischen Lobby“ bezeichnet wird, findet sich darin die Forderung nach einem „Stopp der Zusammenarbeit der österreichischen Polizei und des ‚israelischen‘
4 Geheimdienstes Mossad“ sowie die „Ausweisung aller Agenten dieses Geheimdienstes“ aus Österreich.
Eine weitere Ebene sind sekundär antisemitische Artikulationen über implizite oder explizite NS-Vergleiche: In diesem Fall postulieren die Autor_innen, dass die „zionistischen Siedler von Österreich und anderen imperialistischen Staaten Rückendeckung“ erhielten und die „Beziehung Österreichs zu ‚Israel‘ […] der Absicherung des zionistischen Regimes in Palästina“ diene, das auf den palästinensischen Aufstand mit der Errichtung „neuer Konzentrationslager und Gefängnisse“ reagiere. Aufgrund dieses „versuchte[n] Völkermord[s] am palästinensischen Volk“ verlangen die Verfasser_innen auch „die sofortige Schließung aller
zionistischen und
faschistischen Organisationen“ (vgl. akin 2
1988, o. S., eigene Hervorhebung). Nach Abdruck des Flugblatts wird in einem Leserbrief Kritik am antizionistischen Antisemitismus geübt (vgl. akin 3
1988, o. S.); daraufhin meldet sich eine
autonome kleingruppe zu Wort und erwidert, dass der israelische Staat auf einer „krankhaften herrenrassenideologie“ fuße und insofern „gerade wer gegen faschismus, antisemitismus und diskriminierung jeglicher art auftritt […] nicht umhin [kommt], auch den zionismus zu kritisieren“ (vgl. akin 4
1988, o. S.; Kleinschreibung i. O.).
Zwei Jahre später kommt es in der Zeitschrift
TATblatt zu einer Debatte, an der die gleichen Frames illustriert werden können. Auslöser ist ein von der
Autonomen Palästinagruppe Wien veröffentlichtes Interview mit dem Hamburger Palästina-Aktivisten Karam Khella, in dem es ebenfalls um Israels imperialistische Funktion geht, hier jedoch in Bezug auf das neokoloniale Weltsystem: Nach dem Ursprung des Nahostkonfliktes gefragt antwortet Khella, dass dessen „Wurzeln“ auf die Hochzeit des europäischen Kolonialismus zurückgingen. Dieser brauchte „ein Sprungbrett im Arabischen Raum“, um „zu infiltrieren, zu beherrschen, zu unterjochen und im Falle des Widerstandes von dieser Kolonialbastion aus den Widerstand zu vernichten.“ Insofern seien Kolonialrassismus und Zionismus synonym, und die „Wurzeln der Zionistischen Bewegung“ könnten „bis an die Ursprünge des europäischen Kolonialismus“ verfolgt werden (vgl. TATblatt –74/
1990, S. 14). Die verschwörungstheoretische Dimension der Argumentation wird deutlich, als bei der Frage nach „weltweiten israelischen Counteraktionen“ ausgeführt wird, dass der israelische „Aktionsradius in alle 5 Kontinente“ reiche und „Israel“ insofern „in Süd- und Mittelamerika, in Süd-Ost-Asien, in Irland und in anderen Teilen der Erde […] angetroffen“ werden könne (vgl. TATblatt –74/
1990, S. 14).
Im zweiten Teil des Interviews wird eine Spielart des NS-Bezugs artikuliert – nämlich die Konstruktion einer Kollaboration zwischen NS und Zionismus. Danach gefragt, verweist Khella auf das „Havara-Abkommen“ als „Beispiel für die organische Interessensidentität von Nazis und Zionisten“ (vgl. TATblatt –73/
1990, S. 15 f.).
5 Noch in der gleichen Ausgabe kritisiert eine Leserin aus dem Umfeld der
Marxistisch-Leninistischen Partei Österreichs (MLPÖ) die Darstellung als antisemitisch und bezieht sich dabei auf die Brückenkopf-Theorie, auf Khellas Negieren von Antisemitismus in arabischen Gesellschaften sowie auf das Herunterspielen des Holocaust durch Interviewer_innen und Interviewten (vgl. TATblatt –73/
1990, S. 17). Dies animiert wiederum die
autonome palästinagruppe zu einer Antwort, in der mit Bezug auf das Brückenkopf-Narrativ darauf hingewiesen wird, dass nur „das zionistische ‚Gebilde‘ Israel“ diese Funktion einnehmen könne, da es im Gegensatz zu den „reaktionären arabischen Regimen“ eigens dafür geschaffen worden und insofern verlässlicher sei. Darüber hinaus hätte der „Zionismus mit dem Nazismus die Rassenlehre“ gemeinsam, und unter einseitiger Bezugnahme auf Aimé Césaires’ Kolonialismuskritik in dessen Essay
Discours sur le Colonialisme wird postuliert, dass „das dritte Reich“ für „die unterjochten Völker“ und insbesondere für Palästinenser_innen noch heute bestehe. Insofern würde, so die Autor_innen, „aus schlechtem Gewissen, daß der Holocaust auf unserem Gebiet stattgefunden hat, […] der Holocaust in Palästina toleriert“ (vgl. TATblatt –72/
1990, o. S.; TATblatt –66/–65/
1990, S. 37).
Als das Redaktionskollektiv die Debatte mit der Ankündigung beenden will, Khellas letzte Stellungnahme nicht mehr in der Zeitschrift, sondern in einer eigenen Broschüre zu publizieren, zeigt sich schließlich auch der Zusammenhang zwischen sekundär antisemitischen Tropen und verschwörungstheoretischer Kritikabwehr deutlich: Khella reagiert mit einem offenen Brief, der zunächst in der marxistisch-autonomen Zeitschrift
Infoverteiler veröffentlicht und anschließend im
TATblatt nachgedruckt wird. Darin wirft er dem
TATblatt „Verleumdung“ vor und beklagt das „Schweigen der Linken“ zu „zionistischen Verbrechen“ und der „alltäglichen Cristallnacht [sic] des palästinensischen Volkes“. Dieses Schweigen führt er einerseits auf die „imperialistische Technik des Antisemitismusvorwurfs“ zurück und andererseits auf linke „philosemitische Tendenzen“ nach dem Holocaust. Insofern bescheinigt er „der europäischen Linken“ und den „gleichgeschalteten Medien“ auch eine „Komplizenschaft“ mit „dem Zionismus“, die zu einem Schweigen des „Völkermords“ an den Palästinenser_innen führe (vgl. TATblatt –64/
1990, S. 23; –48/
1991, S. 6 ff.).
Die skizzierten Textstellen wurden ausgewählt, da sie exemplarisch für zwei konstitutive Bestandteile des antizionistischen Diskurses der 1980er und 1990er-Jahre stehen: zum einen für das anti-israelische Kolonialframing, in dem Israel entweder als Brückenkopf für die USA oder Drahtzieher hinter den Kolonialstrukturen im Nahen Osten konstruiert wird. Ein zweiter Bestandteil sind NS-Vergleiche, die, obwohl das Material keine psychologischen bzw. psychoanalytischen Schlüsse zulässt, in Anlehnung an Bernd Marin (
2000, S. 166 ff.) als diskursive Form der „Entwirklichung des Holocaust“ bezeichnet werden können. Mit dem Aufkommen innerlinker Kritik ändert sich dies insofern, als offene Faschismus- und NS-Vergleiche vermieden werden. Zudem verschieben sich die Bezugsthemen, und durch die zunehmende Auseinandersetzung mit antimuslimischem Rassismus vermischen sich Nahostdebatten mit migrationspolitischen Themen. Im Gefolge der Zweiten Intifada kommt es zu einem erneuten Aufschwung innerlinker Debatten über Antizionismus und Antisemitismus, die dies erstmals verdeutlichen.
3.2 Von der Palästinasolidarität zur „Islamophobie-Kritik“ – alte Debatten im neuen Gewand zu Beginn der 2000er-Jahre
Ab Beginn der 2000er-Jahre formieren sich an der Universität Wien rund um die
Basisgruppe Politikwissenschaft und die aus einer Spaltung des marxistisch-wertkritischen
Kritischen Kreises hervorgegangene Gruppe
Café Critique Perspektiven, die Kritik am Antizionismus und dessen antisemitischen Elementen üben und sich „israelsolidarisch“ verorten. Diese Positionen werden zunächst als „antinational“ und später vermehrt als „antideutsch“ bezeichnet. Im Verlauf der 2000er-Jahre wird die Kritik auch von anderen Studierendenvertretungen übernommen, etwa von dem aus dem
Kommunistischen StudentInnenverband (KSV) hervorgegangenen
Kommunistischen StudentInnenverband – Linke Liste (KSV-LiLi) oder von den
Grünen und alternativen Student_innen (GRAS). Abseits universitär angebundener Gruppen kritisiert die 1998 gegründete
Ökologische Linke (ÖKOLI) antizionistischen Antisemitismus. Auch das
Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes (DÖW) widmet dem Thema vermehrte Aufmerksamkeit und nimmt antisemitische Artikulationen der Wiener Linken in die Archivarbeit auf. Damit beginnen breitere innerlinke Debatten um Antisemitismus, wobei sich der Großteil der Auseinandersetzungen in linke Web-Foren oder auf die Homepages der involvierten Gruppen verlagert. Anhand der Debatten lassen sich Verschiebungen und Kontinuitäten der antizionistischen Argumentation illustrieren.
6
Eine Welle der Kritik löst im Jahr 2003 die antiimperialistische Gruppe
Sedunia aus, als sie am 9. November eine Gedenkveranstaltung zum Novemberpogrom 1938 stört, die u. a. von der linkszionistischen Jugendorganisation
HaShomer HaZair, dem
Forum gegen Antisemitismus sowie von antifaschistisch-autonomen Gruppen organisiert wird (vgl. ÖKOLI
2003; Volgger
2003). Der Störaufruf der Gruppe illustriert die sekundär antisemitische Entlastungsfunktion des Kolonialframings, hier artikuliert über die Konstruktion einer politischen Instrumentalisierung des Holocaust-Gedenkens: „Nieder mit den politisch Korrekten! Nieder mit den Israelapologeten und Schuldpriestern! Nieder mit den Selbstgeißlern! […] Es wird Zeit, die Tempel des Holocaust niederzureißen, die Legende der historischen Verantwortung zu Grabe zu legen und endlich auch Israel als einen gewöhnlichen Staat zu betrachten – und daraus die Konsequenzen zu ziehen.“ Das Gedenken würde von pro-zionistischen Kräften instrumentalisiert, so die Kritik weiter, während Israel einen „ununterbrochenen Genozid am palästinensischen Volk“ betreibe (vgl. DÖW-Online
2003). Nach dem Vorfall kritisiert die Gruppe
ÖKOLI den Angriff als antisemitisch motiviert und fordert den Ausschluss von
Sedunia aus linken Kontexten (vgl. ÖKOLI
2003).
Sedunia reagiert darauf mit zwei offenen Briefen: Einer ist an die
Israelitische Kultusgemeinde (IKG) gerichtet und einer an den antirassistischen
Kulturverein Kanafani, der als verbündete Organisation angerufen wird, sich jedoch im Rahmen der Debatten distanziert. Beide Texte verdeutlichen die diskursive Amalgamierung von Kritik an antimuslimischem Rassismus und Antizionismus. Im Schreiben an die IKG beklagen die Verfasser_innen, dass das Gedenken „durch zionistische und rassistische TeilnehmerInnen in eine proisraelische, die Regierung Sharon unterstützende Demonstration umfunktioniert, pervertiert und derart
geschändet“ worden sei und fordern die IKG dazu auf, „antirassistische Aufklärungsarbeit“ zu leisten, um zu verhindern, „daß einzelne gewaltbereite Personen durch den Anblick einer Kefije (‚Palästinensertuch‘), beim Anblick hijabtragender Muslima [sic], beim Anblick palästinensischer Fahnen und/oder bei Rufen nach einer kritischeren Haltung zur Politik der USA und Israels in
rassistische Raserei ausbrechen“. Abschließend fordern die Verfasser_innen die IKG auf, die „rassistisch-zionistischen Kräfte“ innerhalb der Kultusgemeinde nicht hegemonial werden zu lassen und sich von dem „rassistischen Apartheidstaat Israel“ zu distanzieren (vgl. Sedunia
2003a; eigene Hervorhebung).
Diese Verquickung der Kritik an antimuslimischem Rassismus innerhalb Europas mit antiimperialistischer Palästinasolidarität manifestiert sich noch deutlicher im offenen Brief an den
Kulturverein Kanafani. Dort weisen die Verfasser_innen den auf
indymedia.at erhobenen Vorwurf, palästinensische Personen für ihre antisemitische Störaktion instrumentalisiert zu haben, als „paternalistischen Blick auf die Kolonisierten“ zurück und stellen dies in den Kontext der Zweiten Intifada. Gerechtfertigte antikoloniale Gewalt im Nahen Osten und antikolonialer Protest in Wien würde mittels orientalistischer Irrationalitätszuschreibungen an „die Kolonisierten“ diffamiert, denn: „in Jerusalem sind es die ‚wahnsinnigen Selbstmordattentäter‘, und hier in Wien ‚verrückte‘ Araber, die auf einer Zionistenveranstaltung die anwesenden Zionisten klar und eindeutig als das bezeichnen, was sie sind: MÖRDER.“ Aufgrund des hegemonialen antimuslimischen Rassismus und des „propagandistischen Antisemitismusvorwurfs“ an arabische bzw. muslimische Menschen gäbe es keine Solidarität mit Palästinenser_innen und am 9. November sei im Grunde symbolisch „das palästinensische Volk“ rassistisch angegriffen worden, denn „der rassistische Zorn der in Wien ausbrach [fände] seine Entsprechung in den Bildern aus den besetzten Gebieten, wo Siedlerkinder einer Muslima den Schleier vom Kopf reißen“. Insofern sei es notwendig, aufzudecken, was sich „hinter […] unhistorischen und pseudowissenschaftlichen Tiraden vom ‚arabischen Antisemitismus‘ verbirgt: Die Legitimierung von Okkupation, Rassismus und Krieg“ (vgl. Sedunia
2003b).
In linken Debatten um neuen Antisemitismus kommt es also ab Beginn der 2000er-Jahre zu einer diskursiven Verschiebung: Anstatt den Einfluss des Mossad oder die „Antisemitismuskeule“ der „zionistischen Lobby“ zu beklagen, wird nun der „kolonialrassistische“ Habitus kritisiert, mit dem der „Antisemitismusvorwurf“ gegen Araber_innen bzw. Muslim_innen in Anschlag gebracht würde, um Kritik zu unterdrücken. Dabei werden Unterdrücker_innen und Unterdrückte ethnisiert bzw. letztere als „Muslim_innen“ kulturalisiert und „der Zionismus“ bzw. Israel auf Seiten der westlichen, „weißen“ Unterdrücker_innen verortet. Diese Verschiebung des Klassenantagonismus auf ethno-kulturelle Kategorien und deren Verquickung mit dem beginnenden „Anti-Terrordiskurs“ wird auch in einem 2003 erstmals veröffentlichten Pamphlet der Gruppe
ArbeiterInnenstandpunkt (AsT) deutlich. Darin kritisiert der Sprecher der Gruppe, Michael Pröbsting, die politische „Mentalität“ der israelsolidarischen „Antinationalen“ und bescheinigt diesen eine „sektenhafte Angst vor den ArbeiterInnen und Armen“ und insofern auch vor den „barbarischen Moslems“, welche „nach dem 11. September 2001 den neuen symbolischen Feind für die imperialistische Weltordnung“ darstellten. Israel hätte für die „kleinbürgerliche Urangst“ der „Antinationalen“ eine „wichtige Symbolfunktion“, da es für sie „Hort der zivilisierte [sic] Zivilgesellschaft in einem Meer primitiver Horden barbarischer Moslems“ darstelle. Dieses Postulat wird in einen kolonialen Kontext gestellt, indem der Autor im Anschluss erklärt: „Der barfüßige Arme aus den Großstädten und Slums der halbkolonialen Welt ist für den furchtsamen Antinationalen sozusagen der österreichische Arbeiter zum Quadrat“. Ziele der „Antinationalen“ seien daher die „Verteidigung der imperialistischen Ordnung im Allgemeinen und des Staates Israel im Besonderen“. Das antinationale Netzwerk bestehe aus „diversen Organisationen und Institutionen des [bürgerlichen] Reformismus“, zu denen etwa Einrichtungen wie das DÖW oder auch die KPÖ gehörten, welche antiimperialistische Politik denunzierten. Dabei gelinge es, derartigen Druck auf „die Linke“ aufzubauen, dass reformistische linke Kräfte vor „dem Imperialismus in die Knie […] gehen“ würden (vgl. Pröbsting
2003).
Die im Text eingeführte Differenz entlang der Kategorien „muslimisch-kolonisiert“ sowie „westlich-israelisch-kolonisierend“ endet mit dem Fazit, dass linke Politik vor „dem Imperialismus“ kapituliere, so sie nicht auf einem antizionistischen Kurs verbleibe. Damit wird die Positionierung zum Nahostkonflikt zur politischen Wasserscheide und Kritik an Israel werde, so das Narrativ weiter, zum Schweigen gebracht, da sie das neokoloniale Weltsystem destabilisiere. Deutlicher ausformuliert findet sich dieses verschobene Kolonialframing in einem ebenfalls 2003 erschienenen Artikel in der von
Sedunia herausgegebenen Zeitschrift
Perspektive Süd. Dort postuliert der Autor des Textes, Editor der NGO
Free Arab Voice, Muhammad Abu Nasr, dass Globalisierungskritik ohne Antizionismus nicht möglich sei. Unter dem Titel „‚Israel‘ akzeptieren heißt die Globalisierung akzeptieren“ schreibt er, dass der „Zionismus ein integraler und entscheidender Teil des globalisierten Angriffs [auf subalterne ‚Völker‘, Anm. JE]“ sei und es daher auch keine „Ablehnung der Globalisierung ohne eine Ablehnung des Zionismus“ geben könne (vgl. Nasr
2003, S. 32). Dies zeigt die Anschlussfähigkeit des Kolonialframings an Moishe Postones (
1982) Konzeption eines strukturellen Antisemitismus. Im Unterschied zu Postones historischer Analyse steht zwar nicht „der Kapitalismus“ als Ganzes im Fokus, sondern eine seiner Dimensionen, nämlich (Neo‑)Kolonialismus bzw. Imperialismus; die Symbolfunktion des israelischen Staates als treibende Kraft hinter dem neoliberal-neokolonialen Weltsystem ist jedoch als analog zur personalisierenden Scheinkritik des Kapitalismus zu analysieren.
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass sich ab Beginn der 2000er-Jahre zwar die diskursiven Parameter und somit auch die im antiimperialistischen Diskurs aktivierten Tropen partiell verschieben, die Logik des Ressentiments jedoch unverändert bleibt. Gleiches gilt für die aktuelle Boykottbewegung, wie abschließend gezeigt wird.
3.3 Boycott, Divestment, Sanctions – aktuelle Transformationen des israelbezogenen Antisemitismus
Die im Mai 2014 gegründete österreichische Sektion der internationalen Boykottkampagne BDS kommuniziert und mobilisiert vor allem über das Medium Facebook. Darüber hinaus organisierte die Gruppe in den Jahren 2015 und 2016 eine
Israeli Apartheid Week in Wien. Neben eigenen Protestaktivitäten informiert
BDS Austria zudem über internationale Boykottaufrufe.
7
Der israelische Staat fungiert auch hier als Symbol für neokoloniale Unterdrückung, wobei ein Bezug zu aktuellen Themen wie Abschottung der Europäischen Union, Flüchtlingskrise und vor allem das Massensterben im Mittelmeer hergestellt wird. Als am 19. April 2015 im Zuge der bis zum damaligen Zeitpunkt größten Flüchtlingskatastrophe an die 800 Menschen vor der libyschen Küste ertrinken, veröffentlicht
BDS Austria ein Posting, das Israel als Laboratorium des tödlichen EU-Grenzregimes konstruiert. Einleitend werden die Leser_innen an den „Zusammenhang zwischen rassistischer EU-Politik gegenüber Flüchtlingen […] und israelischer Modellwirkung“ erinnert. Israel sei „‚Welthauptstadt‘ [sic] der Homeland Security Industrie“ und verkaufe „Kameras, Überwachungstechnologie, Drohnen“ sowie „Schutzausrüstung zur Aufstandsbekämpfung“. „Neoliberale Regierungen“ seien auf diese Technologie angewiesen, „um ihre BürgerInnen (und ‚unerwünschte‘ Bevölkerungssegmente) zu kontrollieren“; neben dem Technologietransfer ginge es jedoch auch um „Ideologie“, da Israel demonstriere, dass „PalästinenserInnen in jedem Aspekt ihres Lebens kontrolliert werden können“ (vgl. BDS Austria
2015a, 20.04.
2015).
Hier zeigt sich die diskursive Funktion des israelischen Staates nicht zuletzt durch die
Veränderung – das Kolonialframing bleibt nicht mehr auf den Nahostkonflikt beschränkt, sondern „Israel“ wird variabel als Laboratorium oder auslösendes Moment
globalisierter Unterdrückungsverhältnisse eingesetzt. Konstant bleibt jedoch der Verweis auf die tragende Rolle Israels. Ein weiteres Beispiel hierfür ist ein Kommentar von
BDS Austria im Rahmen einer Diskussion über antiarabischen bzw. antimuslimischen Rassismus. Darin beklagen die Verfasser_innen den Anstieg von antimuslimischem Rassismus als „Israelisierung“ der europäischen Politik. Sie postulieren, dass „die Mehrheit der israelischen Gesellschaft in einer kolonialen Blase
(colonial bubble)“ lebe und „an jüdische Vorherrschaft
(Jewish supremacy) und ‚rassische‘ Überlegenheit
(racist superiority)“ gegenüber Palästinenser_innen glaube, während das „rassistische Apartheid-System“ täglich ausgeweitet würde. Dieses „rassistische Denken schwappe derzeit nach Europa“, wie an den „Diskursen über den Islam und Muslime“ zu beobachten sei. Danach wird der Schluss gezogen, dass die „
Israelisierung globaler Politik eine Tendenz beinhalte, ‚überflüssige‘ Communities und Personen (‚überflüssig‘, ‚unbrauchbar‘ für Neoliberalismus und Kapitalismus) zu
vernichten“ (vgl. BDS Austria
2016a, 13.01.
2016; eigene Übersetzung und Hervorhebung).
Hier geht es explizit um antimuslimische und tödliche Effekte der „Israelisierung“ des neoliberalen Weltsystems. Im Abgleich mit früheren Artikulationen zeigt sich somit die Variabilität des Ressentiments in Form einer biopolitischen Wende antisemitischer Tropen: Waren ältere Pamphlete noch auf den Nahostkonflikt und die Installation eines kolonialen – und genozidalen – Fremdkörpers in historisch gewachsenen arabischen Nationen fokussiert, so verschiebt sich das Narrativ nun in Richtung einer systemischen Durchlässigkeit und Regimewandlung in Zeiten neoliberaler Globalisierung. In dieser Vorstellung weichen nationalstaatliche Grenzen und Interessen einer globalen Kooperation „neokolonialer Regierungen und Kräfte“, deren gemeinsames Interesse die Unterdrückung der subalternen Bevölkerung durch lückenlose Überwachung und gegebenenfalls „Vernichtung“ ist. Bezüglich der (Schein‑)Erklärung, wer für diese Entwicklungen ursächlich verantwortlich sei, ist jedoch kein Unterschied zwischen älteren und aktuellen Postulaten auszumachen: War Israel bis Mitte der 2000er-Jahre noch „imperialistischer Brückenkopf“, ist es jetzt „Erfinder“ der neokolonialen Überwachungsmaschine.
Bezüglich der sekundär antisemitischen Ebene lässt sich festhalten, dass NS-Vergleiche weitgehend aus dem rhetorischen Repertoire antiimperialistisch-antizionistischer Gruppierungen verschwunden sind. Allerdings wird Kritik an den Boykottaktivitäten von liberaler oder linker Seite regelmäßig als neue Form der „Bündnispolitik“ mit rechten Kräften, und dabei speziell mit der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ), konstruiert (vgl. BDS Austria
2016b). Zudem lässt sich eine Verschiebung anhand wiederholter Hinweise auf den rezenten politischen Kurswechsel der europäischen Rechten in Bezug auf Israel ausmachen. Grundtenor ist, dass Israel aufgrund seiner „anti-arabischen Apartheid-Politik“ und seiner herausragenden Rolle im „Krieg gegen den Terror“ eine Vorbildfunktion hätte und für „Rechte und Rechtsextreme in Europa“ ein „Modellstaat“ sei, „der es versteht, in der permanenten Krise jegliches Aufbegehren mit speziellen Methoden zu bekämpfen“ (vgl. BDS Austria
2015b, 7. März
2015).
Ein drittes wiederkehrendes Element stellen verschwörungstheoretische Narrative dar, die zumeist bei Kritik artikuliert werden. Konstant bleibt dabei die Wahrnehmung, von einer „übermächtigen Israel-Lobby“ zum Schweigen gebracht zu werden. Ein Beispiel hierfür ist die Reaktion von
BDS Austria auf öffentliche Kritik an der
Israeli Apartheid Week 2016, die schließlich zu einer Absage der geplanten Veranstaltungen im linken
Kulturzentrum Amerlinghaus führten. In einer Stellungnahme zeigt sich die Gruppe „erschüttert über die Mittel und Methoden unserer KritikerInnen“, die „jede Diskussion über den israelisch-palästinensischen Konflikt mit allen erdenklichen Mitteln ab[…]würgen“ würden. Dabei schrecke man weder vor „Diffamierungen“ noch vor „blanken Lügen, politischem Druck auf Veranstaltungsräume und sogar körperlicher Gewalt“ zurück. Es zeige sich insofern, „mit welcher undemokratischen Gesinnung hier gegen eine berechtigte Kritik an israelischer Staatspolitik und gegen eine Menschenrechtsgruppe vorgegangen werden soll“ (vgl. BDS Austria
2016c, 08.03.
2016). Kurz darauf wird auf Facebook ein Statement veröffentlicht, das die Ereignisse in Wien als Teil einer internationalen Kampagne zur „Kriminalisierung von Israelkritik“ betrachtet. Konkret heißt es in der Aussendung, dass der israelische Staat, „seine Lobbygruppen und rechten Unterstützer_innen eine beispiellose
weltweite und
finanziell gut ausgestattete Kampagne gestartet“ hätten, die dazu diene, „das palästinensische Narrativ zum Schweigen zu bringen“ und BDS „zu kriminalisieren“. Dieses Vorgehen stelle einen Angriff auf „Meinungsfreiheit und Grundrechte“ dar und erzeuge „ein Klima der Einschüchterung, der Schikane und der Repression“, welches an die „Politik der McCarthy-Ära“ und „die dunkelsten Tage des Apartheidregimes in Südafrika“ erinnere (vgl. BDS Austria
2016d, 19.03.; eigene Hervorhebung).
Politische Kritik am Antizionismus wird zwar immer schon als Repression konstruiert, im Gegensatz zu dem noch Anfang der 2000er-Jahre kritisierten national verorteten „antinationalen Netzwerk“ nun allerdings als Teil einer „weltweiten Diffamierungs- und Kriminalisierungskampagne“, gesteuert vom israelischen Staat und umgesetzt von dessen Lobbyorganisationen. Die diskursive Verschiebung erfolgt also analog zu der oben illustrierten Wandlung des nationalstaatlich orientierten antikolonialen Diskurses hin zur personalisierenden bzw. personifizierenden Imagination von „Israel“ als treibender Kraft hinter dem neokolonialen Weltsystem. Solche Verschiebungen vom klassischen „modernen“ Antizionismus hin zu einer postmodernen Variante werden abschließend zusammengefasst.