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2022 | OriginalPaper | Chapter

Wohlfahrtsstaatliche Transformation als Prozess der Ent-/Solidarisierung

Author : Stefanie Börner

Published in: Deformation oder Transformation?

Publisher: Springer Fachmedien Wiesbaden

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Zusammenfassung

Der Beitrag analysiert, inwiefern sich innerhalb wohlfahrtsstaatlicher Transformationen Inhalt und Semantik von Solidarität als sozialstaatlicher Leitidee gewandelt haben. Nach einer theoretischen Begriffsbestimmung von Solidarität in sozialstaatlichen Arrangements wie in sozialpolitischen Diskursen wird die Frage beispielhaft in zwei zentralen Feldern untersucht: der Gesetzlichen Krankenversicherung und der Grundsicherung für Arbeitsuchende. Im Ergebnis zeigen sich frappierende Diskursverschiebungen, wie „Solidarität“ von politischen Akteuren umgedeutet und zugleich als politische Machtressource genutzt wird. Es kann damit gezeigt werden, dass sich sozialstaatliche Transformation auch in einem Wandel der Strukturen und sprachlichen Verwendung von Hochwertbegriffen wie Solidarität niederschlägt. Nach wie vor ist Solidarität als sozialstaatliche Leitidee und als Chiffre wohlfahrtstaatlicher Selbstbeschreibung unverzichtbar.

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Obgleich meistens synonym verwendet, wird hier der Begriff des Wohlfahrtsstaates dem des Sozialstaates vorgezogen, da die Rolle des Wohlfahrtsstaates nicht mit der Kompensation der „Folgen der Industrialisierung [bzw. Deindustrialisierung S.B.] mit Maßnahmen der sozialen Hilfe“ erschöpft ist (Luhmann 1981, S. 7).

Der Krise des Wohlfahrtsstaates prägte eine ganze Generation von Autor_innen (etwa Pierson 1994; Kaufmann 1997; Bonoli et al., 2000; Boll und Kruke 2007; Butterwegge 2014).

Der Vollständigkeit halber sei hier noch erwähnt, dass sich im Zuge dieses Modernisierungsprozesses der Wohlfahrtsstaat auch als Motor funktionaler Differenzierung erwies (Huf 1998). „Denn erst die Existenz eines ausdifferenzierten Systems öffentlicher sozialer Sicherung lässt ein seinerseits ausdifferenziertes System der Produktion und Distribution wirtschaftlicher Güter, das in seiner Funktionsweise von allen nicht- bzw. außerökonomischen Erwägungen absieht, praktikabel erscheinen.“ (Lessenich 2012, S. 30).

Etwa: „Die Solidarität ist in unserem System auch nach der Reform ein ganz wesentlicher Punkt; sie wird allerdings durch mehr Eigenverantwortung flankiert. Lassen Sie mich auch an dieser Stelle klarstellen: Eigenverantwortung bedeutet wesentlich mehr als nur erhöhte Zuzahlungen.“ (Wolfgang Zöller, CDU/CSU, Deutscher Bundestag 2003b: S. 5460).

Bestrebungen, die Zweiteilung der privaten und gesetzlichen Krankenversicherung in einer Einheitsversicherung aufgehen zu lassen, hatte es lediglich nach 1945 und in den Anfangsjahren der Brandt-Regierung gegeben, die dann in einer Öffnung des bestehenden Systems der GKV für neue Bevölkerungsgruppen mündeten.

vgl. https://www.krankenkassen.de/gesetzliche-krankenkassen/system-gesetzliche-krankenversicherung/Krankenkassen/; letzter Zugriff: 12.02.2020.

Aktivierungspolitik spielte auch in nahezu allen anderen sozialpolitischen Feldern eine Rolle, fand aber in der rot-grünen Arbeitsmarktpolitik seinen deutlichsten Ausdruck. In der Gesundheitspolitik wurden etwa zeitgleich die Mechanismen der Eigenbeteiligung von Patientinnen und Patienten gestärkt: Zuzahlung zu Medikamenten, Praxisgebühr, Anreize zu präventivem Gesundheitsverhalten, was einer „Privatisierung von Gesundheitskosten in einem bisher nicht gekannten Maße“ gleichkam (Aust et al., 2006, S. 190).

Die neue Regelleistung ALG II führte die bisherigen Leistungen Arbeitslosen- und Sozialhilfe zu einer Grundsicherung für erwerbsfähige Langzeitarbeitslose und bedürftige Erwerbstätige („Aufstocker“) zusammen.

Über die Verfassungswidrigkeit der Sanktionen nach dem SGB II entschied 2019 das Bundesverfassungsgericht. Soweit „die Höhe der Leistungsminderung 30 % des maßgebenden Regelbedarfs übersteigt“, sei die Kürzungspraxis mit dem Sozialstaatsprinzip unvereinbar (BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 05. November 2019–1 BvL 7/16 -, Rn. 1–225).

„Die Grundsicherung für Arbeitsuchende soll die Eigenverantwortung von erwerbsfähigen Leistungsberechtigten und Personen, die mit ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft leben, stärken und dazu beitragen, dass sie ihren Lebensunterhalt unabhängig von der Grundsicherung aus eigenen Mitteln und Kräften bestreiten können.“ (§ 1 SGB II).

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Title: Wohlfahrtsstaatliche Transformation als Prozess der Ent-/Solidarisierung
Author: Stefanie Börner
Publisher: Springer Fachmedien Wiesbaden
Book: Deformation oder Transformation?
Print ISBN: 978-3-658-35209-7

Electronic ISBN: 978-3-658-35210-3

Copyright Year: 2022
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-658-35210-3_3