1 Einführung
Forderungen nach einer nachhaltigen Entwicklung haben in der politisch-gesellschaftlichen Diskussion stark an Bedeutung gewonnen. Mit der gesteigerten Besorgnis über die mögliche Verfehlung der Ziele einer nachhaltigen Entwicklung sind Maßnahmen zur Förderung insbesondere eines nachhaltigen Finanzwesens in den Fokus gerückt (Gajewski et al.
2022, S. 547). Ein nachhaltiges Bankwesen lässt sich als eine Kombination von Strategien und Instrumenten beschreiben, die das tägliche Handeln konsequent an sozialen, ökologischen und ökonomischen Belangen ausrichten. Banken sind dahingehend mehr und mehr verpflichtet, ein konsistentes Angebot an nachhaltigen Anlageprodukten anzubieten (Jeucken und Bouma
1999, S. 28; Earhart et al.
2009, S. 4–5; Yip und Bocken
2018, S. 150). Die Europäische Kommission bezieht sich in ihrer Definition eines nachhaltigen Finanzwesens auf die Berücksichtigung umweltbezogener und sozialer Erwägungen bei Investitionsentscheidungen, da dies ihrer Ansicht nach zu mehr Investitionen in längerfristige und nachhaltige Aktivitäten führen kann (Europäische Kommission
2018). Aus Sicht der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht wird dabei das Ziel verfolgt, private Finanzströme in die Finanzierung einer nachhaltigen Transition der Wirtschaft umzuleiten (BaFin
2022). Während sich die EU-Taxonomie heute mit der ökologischen Ausrichtung von Anlageprodukten beschäftigt, ist derzeit die Ausarbeitung der Sozialtaxonomie durch die Europäische Union noch nicht abgeschlossen (Koch
2022). Im Februar 2022 wurde durch die zuständige Untergruppe 4 der durch die Europäische Kommission eingesetzten Plattform für Nachhaltiges Finanzwesen ein Bericht zur möglichen Ausgestaltung einer sozialen Taxonomie vorgestellt. Dieser bringt, in Anlehnung an die Taxonomie-Verordnung, welche grüne, nachhaltige Investitionen klassifiziert, Vorschläge zur Identifizierung von sozial nachhaltigen Investitionen bzw. benennt sozial schädlich angesehene Aktivitäten. Ziel der sozialen Taxonomie soll es sein, vermehrt private Kapitalströme in Wirtschaftsaktivitäten lenken, die als sozial wertvoll erachtet werden (Platform on Sustainable Finance
2022; BaFin
2022) um eine gezielte Lenkung in als nicht zukunftsfähig betrachtete Bereiche zu unterbinden (Hoffmann et al.
2004, S. 5) und bei der Erreichung der SDG zu unterstützen (Widyawati
2020, S. 619).
Um den Zugang zum europäischen Kapitalmarkt nicht zu verlieren bzw. von der Kreditversorgung durch das europäische Bankensystem abgeschnitten zu werden, fordern mehrere innereuropäische nationale Verbände der Verteidigungsindustrie die EU zu einem Umdenken auf, da durch fehlenden Zugang zum Kapitalmarkt die Wettbewerbsfähigkeit und finanzielle Lebensfähigkeit der europäischen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie bedroht sei (BDSV
2021).
Dieser Beitrag beschäftigt sich mit der Fragestellung, ob und unter welchen Voraussetzungen die Rüstungsindustrie einen Platz im ESG-Universum finden kann. Weder die Regulatorik noch die wissenschaftliche Literatur liefern dazu Antworten.
Im weiteren Verlauf dieser Arbeit wird die Problematik eines drohenden, bzw. bereits vorhandenen Ausschlusses des Rüstungssektors am europäischen Kapitalmarkt erörtert. Dazu erfolgt in einem ersten Schritt eine historisch-theoretische Einordnung von Krieg und Rüstung aus einem ethischen/theologischen Blickwinkel. Im zweiten Schritt wird die gängige Ausschlusspraxis anhand einiger ausgewählter Investoren beleuchtet. Zur Beantwortung der Forschungsfrage orientiert sich dieser Beitrag an den Erkenntnissen aus Experteninterviews. Dazu wurden Expertengruppen aus den Bereichen „Finanzmarkt“, „Gesellschaft“ und „Rüstungsindustrie“ zur Kategorisierung der Rüstungsindustrie im Hinblick auf Nachhaltigkeitsaspekte befragt. Die Auswertung der qualitativen Interviews erfolgt mit der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring.
2 Literaturbefunde
Die aktuelle wissenschaftliche Literatur beschäftigt sich überraschenderweise nicht mit Fragestellungen, ob und unter welchen Voraussetzungen Rüstungswerte ESG-konform sein könnten, sondern untersuchen lediglich die Auswirkungen des Ausschlusses von Sin Stocks auf das erwartete Portfolio- oder Reputationsrisiko (Sagbakken und Zhang
2022; Blitz und Fabozzi
2017) oder auf die Renditeeinflüsse (Blitz und Swinkels
2021; Hong und Kacperczyk
2009).
Weiter beschäftigt sich die Literatur mit den Auswirkungen der Performance bei Veränderung des ESG-Ratings (De Carmine
2020; Paradis und Schiehll
2021; Cayón und Gutierrez
2021).
Weder in der Wissenschaft noch in der Praxis haben sich bis heute standardisierte Attribute und Konzepte einheitlicher ESG-Kriterien durchgesetzt.
Auf supranationaler Ebene wurden, außerhalb von ESG-Bestrebungen, durch die Vereinten Nationen und der Europäischen Union bereits Regelungen und Rahmenwerke beschlossen, welche das Verbot der Finanzierung kontroverser Waffen regeln. Diese wurden durch eine wachsende Zahl von Ländern, insbesondere in Europa, durch nationale Gesetze verabschiedet und umgesetzt (Scarpat und Greer
2022). Mit einiger Verspätung zur Europäischen Union hat die amerikanische SEC nun einen ersten Vorschlag unterbreitet, wie Investmentfonds stärker hinsichtlich ESG-Kriterien reguliert werden könnten. (Kort
2022) Dieser Vorschlag für neue Vorschriften bezieht sich auf eine detailliertere Offenlegung von klimabezogenen Risiken und Treibhausemissionen. Weitere Vorschläge zu den anderen ESG-Aspekten sind bis dato ausstehend (Pérez et al.
2022). Auch für chinesische Unternehmen werden ESG-Ratings wichtiger, jedoch engagieren sich weniger Unternehmen für die ESG-Themen als westliche Unternehmen, zudem stehen die üblichen Nachhaltigkeitsregelungen und Standards im Widerspruch zu den Gegebenheiten und werden als nicht EU-konform eingestuft (White und Lewis
2023).
Aufgrund fehlender Standards in den USA und in China stellt sich die ESG-konforme Betrachtung von Rüstungsunternehmen hauptsächlich in den europäischen Mitgliedsstaaten und insbesondere in Deutschland.
Zur Beantwortung der zentralen Frage, ob Investitionen in Rüstungsgüter in einem sozial verträglichen Kontext stehen können, beschäftigt sich der nachfolgende Abschnitt zunächst mit einem historischen Abriss der Einordnung von Krieg und Rüstungsgütern aus sozialethisch-theologischer Perspektive.
2.1 Krieg und Rüstung im sozialethisch-theologischen Kontext
Mögliche Quellen zum Verzicht des Einsatzes von Waffen in Konflikten können im Alten bzw. Neuen Testament (AT, NT) vermutet werden. Dabei ist vorauszuschicken, dass pazifistische Strömungen in verschiedenen christlichen Kirchen existieren, wobei ein radikaler Pazifismus, also die Ablehnung von Gewalt unter allen Umständen, nie die herrschende Meinung im Katholizismus oder dem Luthertum war. Radikaler Pazifismus hatte nur in der Reformierten Kirche eine große Bedeutung, während die anderen Strömungen, in denen er Verbreitung fand, eher dem Spektrum der (protestantischen) Sekten zuzurechnen sind. Ferner wurde er von prominenten Vertretern der vorkonstantinischen Kirchenväter vertreten, später von Gruppierungen wie den Katharern, Mennoniten oder den Quäkern, sowie von Einzelpersonen wie Martin Luther King. Pazifistische Strömungen könnten erklären, warum Rüstungsgüter eine gesellschaftlich geächtete Stellung einnehmen. Vor diesem Hintergrund wäre eine Unvereinbarkeit mit den ESG-Kriterien begründbar und verständlich. Deshalb soll zunächst untersucht werden, ob die pazifistischen Strömungen eine hinreichende Unterstützung durch die Texte finden. Eine getrennte Betrachtung wichtiger Stellen im AT und NT liefert folgende Erkenntnisse:
Das
Alte Testament mit der Tora (den fünf Büchern Mose, Pentateuch) und den Büchern zur Geschichte des Volkes Israel ist in seinen Grundaussagen kaum als pazifistisch zu bezeichnen, auch nicht in einem „weniger radikalen“ Sinne. Vielmehr ist die Geschichte des Volkes Israels und sein Existenzkampf über die Jahrhunderte ein Beispiel für das „gewaltsame“ Eingreifen Gottes. Einige Beispiele mögen zur Verdeutlichung genügen. In Psalm 144,1 heißt es: „Gelobt sei der Herr, mein Fels, der meine Hände kämpfen lehrt, und meine Fäuste, Krieg zu führen.“ Vor der Eroberung Jerichos durch Josua erscheint der „Fürst über das Heer des Herrn“, der von Josua angebetet wird. Der Hinweis auf das Kommen des Messias in Jesaja 9,6 („Auf dass seine Herrschaft groß werde und des Friedens kein Ende auf dem Thorn Davids und in seinem Königreich“) kann nicht im Sinne eines radikalen Pazifismus angesichts von Konflikten zwischen Staaten interpretiert werden. Er bezieht sich eindeutig auf „seine Herrschaft“ in „seinem Königreich“. Vielfach, besonders durch die Friedensbewegung der 1980er Jahre, wird auch auf Jesaja 2,4 verwiesen. Hier sollen „Schwerter zu Pflugscharen“ geschmiedet werden. Keine Stelle ist in diesem Kontext wohl häufiger missbraucht worden. Der Wirtschaftsnobelpreisträger des Jahres 2005, der Spieltheoretiker und Rabbiner Robert Aumann hat gezeigt, dass sich diese Stelle nicht auf einseitige, pazifistische Vorleistungen bei Konflikten zwischen real existierenden Staaten bezieht, sondern dass die Anweisung, die Waffen umzuarbeiten erst dann erfolgt, wenn alle Nationen unter dem gemeinsamen Regiment Gottes stehen (Aumann
2006). Aumann weist darauf hin, dass einseitige Abrüstung nicht zur Verhinderung von Kriegen führt, sondern das Gegenteil bewirken kann. Völker müssen weiterhin lernen, Krieg zu führen, um nicht kämpfen zu müssen. Dementsprechend vertritt die jüdische Tradition keinen absoluten Pazifismus. Krieg soll vermieden werden, wo es möglich ist, kriegerische Gewalt als „ultima ratio“ ist aber zulässig und moralisch nicht verwerflich. Dabei soll die Wahl der Gewaltmittel „angemessen“ sein.
Im Neuen Testament werden die Schwerpunkte scheinbar etwas anders gesetzt. Zum einen wird von Jesus das Postulat der Feindesliebe (Matthäus 5,44) und der Friedfertigkeit (Matthäus 5,9) in den Mittelpunkt gestellt. Dies wird von Paulus in der Frühzeit des Christentums bekräftigt (Römer 12,18). Im Sinne einer Forderung nach einem absoluten Pazifismus könnte auch das Jesuswort (Matthäus 26,51) „Stecke dein Schwert an seinen Ort! Denn wer das Schwert nimmt, der soll durchs Schwert umkommen“ interpretiert werden. Allerdings sind die Dinge doch etwas komplizierter. Nicht der Gebrauch des Schwerts (durch Petrus) an sich wird gerügt, sondern sein sinnloser Gebrauch. Die Verteidigung Jesu durch seinen Jünger hätte einen Eingriff in den Lauf der Heilsgeschichte bedeutet. Auch wenn Jesus darauf hinweist, dass gewaltsame Auseinandersetzungen mit Todesopfern verbunden sind, geht es hier nicht um gewaltsame Konflikte zwischen Staaten. Dass Jesus nichts gegen den Gebrauch von Waffen zu Verteidigungszwecken hatte, wird bei Lukas 22,36 deutlich. Hier ergeht die Aufforderung an die Jünger, ein Schwert zu kaufen, worauf diese gleich zwei kaufen. Im damaligen Judäa unter römischer Besatzungsherrschaft war der private Besitz von Schwertern eine schwere staatsgefährdende Straftat, was Jesus sicherlich wusste. Jesus selbst war auch nicht völlig gewaltfrei, wie die in allen vier Evangelien berichtete Geschichte von der Reinigung des Tempels zeigt. Bei Johannes jagt er die Händler mit einer Geißel aus dem Tempel, was nach heutigem Rechtsverständnis den Straftatbestand einer gefährlichen Körperverletzung erfüllen würde. Auch die Interpretation von Matthäus 5,9 im Sinne eines modernen Pazifismus ist irreführend. Die „Friedfertigen“ werden im lateinischen Text „pacifici“ genannt; wörtlich übersetzt sind dies die, „die Frieden machen“. Der Zustand des Friedens ist also das Ziel, über die Mittel der Zielerreichung wird nichts gesagt. Aus heutiger Perspektive können die alliierten Truppen im II. Weltkrieg als „pacifici“ bezeichnet werden, weil sie Europa von der nationalsozialistischen Herrschaft befreiten, gänzlich unpazifistisch. In welchen Fällen Gewalt angewendet werden darf, wird zumindest in allgemeiner Form in Römer 13, 1–7 geklärt. Hier geht es um die Anerkennung weltlicher Institutionen und weltlicher Gewalt. Abgelehnt wird nicht „gute“, sondern „böse“ Gewalt. Die Motive hinter der Gewaltanwendung sind also entscheidend.
Fasst man die Befunde aus dem Alten und Neuen Testament zusammen, so lässt sich folgendes festhalten:
1.
Es besteht die Pflicht, Konflikte friedlich zu lösen. Krieg ist nach Gottes Willen nicht gewollt.
2.
Es gibt dennoch Situationen, in denen kriegerische Aktionen gegen böse Mächte notwendig werden. Gewalt ist nicht unter allen Umständen abzulehnen.
3.
Aus diesem Grund ist die Verwendung von Waffen legitim und in bestimmten Situationen angemessen. Dann sind Waffen an sich nicht moralisch verwerflich; es kommt auf den Gebrauch an.
2.2 Gerechter Krieg und gerechter Friede
Zur Herausbildung einer einheitlichen Linie der Kirche zu Fragen von Krieg und Frieden kam es in der nachkonstantinischen Epoche. Aurelius Augustinus (354–430) formulierte erstmals die Lehre vom „gerechten Krieg“, die von Thomas von Aquin (1225–1274) weiterentwickelt wurde (Angel
2005). Diese Lehre stellte bis in die Neuzeit die herrschende Lehre der Kirche dar und wurde auch vom Luthertum anerkannt. Für Martin Luther ist der Krieg als „ultima ratio“ zu sehen und darf dann geführt werden, wenn es sich um einen Verteidigungskrieg handelt, welcher nach gescheiterten Verhandlungen unabdingbar ist. Dieser bleibt aus der religiösen Perspektive für Christen ohne Schuld, wenn die Waffengewalt der Wahrnehmung des staatlichen Gewaltmonopols dient, da die Nothilfe für die Angegriffenen zum Gebot der Nächstenliebe zählt (Stümke
2017, S. 265).
Kernelemente der Lehre vom gerechten Krieg sind die „legitima auctoritas“ („Kriege dürfen nur von autorisierten Herrschern, nicht von Privatpersonen geführt werden“), der „causa justa“ („Es muss einen gerechten Grund für den Krieg geben“) sowie der „recta intentio“ („Ziel soll die Herstellung des Friedens sein“). Die Lehre besagt, dass militärische Gewalt letztlich dem Frieden dient, im Sinne einer „ultima ratio“ (Beestermöller
1990, 226f.; Huber
2004). In heutiger Perspektive kann ein „gerechter Krieg“ ein Verteidigungskrieg sein, aber auch ein legitimierter Interventionskrieg. Die Lehre vom gerechten Krieg war über Jahrhunderte die offizielle Lehre der Kirche(n), wurde im 20. Jahrhundert aber vielfach kritisiert. Zum einen wurde erklärt, dass die Gesamtheit aller Voraussetzungen wohl nur selten erfüllt sei, zum anderen könne die Lehre missbräuchlich als Kriegslegitimation verwendet werden (Huber
2004). Friedensforscher distanzieren sich von der Theorie, da die Geschichte zeige, dass Völkerrechtsverstöße, Kriegsverbrechen und Gräueltaten begleitend in jeder kriegerischen Auseinandersetzung erfolgen, auch in „gerechten“ Kriegen (Moseley
2022).
Nach dem II. Weltkrieg wurde im Zuge dieser Kritik das Konzept vom „gerechten Frieden“ entwickelt, das im Kern auf Karl Barth zurückgeht (Huber
2004). Friede ist dabei kein Zustand, sondern ein gesellschaftlicher Prozess abnehmender Gewalt, zunehmender Gerechtigkeit und der Herrschaft des Rechts. Das Ziel ist ein Zusammenleben in Gerechtigkeit und bedient sich der Grundelemente des Schutzes vor Gewalt, der Förderung der Freiheit und der Kooperation (Evangelische Kirche in Deutschland 2022). Die Gewaltfreiheit stehe dabei an erster Stelle, wird aber nicht absolut gesetzt (Werkner
2021, S. 27). Im Extremfall sind aber auch bewaffnete Auseinandersetzungen denkbar (Jäger
2017). Allerdings wird die Theorie des gerechten Friedens vielfach absolut pazifistisch interpretiert (Huber
2004). Vereinfachend lässt sich im Vergleich sagen, dass das Konzept des gerechten Friedens absolut pazifistischen Vorstellungen mehr Raum lässt als das Konzept des gerechten Krieges. Die „Blütezeit“ dieser Theorie war in den 1990er Jahren, nach dem Zusammenbruch der Diktaturen des Ostens. Recht schnell stellte sich aber heraus, dass ein gerechter Friede in der Praxis vielfach schwer herstellbar ist. Insbesondere dann, wenn Gewaltanwendung zum Schutz elementarer Menschenrechte alternativlos erscheint, oder die Aufrechterhaltung des Friedens mit zentralen Gerechtigkeitsforderungen kollidiert (Werkner
2021, S. 7). Pereversev beschreibt dies als ein Pazifismus-Paradoxon und stellt fest, dass wenn Konfliktlösung das Ziel ist, Friedensstiftung sinnvoll und nützlich sei. Besteht das Ziel der Gegenpartei jedoch aus Aggression und Annexion, wird der Versuch der Friedensstiftung gefährlich und schädlich (Pereversev
2020). Diese Problematik wurde in den 2010er Jahren drastisch deutlich (IS-Terror in Syrien und dem Irak, russische Expansion in die Ukraine). Deshalb findet gegenwärtig, insbesondere in der Evangelischen Kirche, eine kontroverse Diskussion um eine Modifikation bzw. Korrektur des Konzepts des gerechten Friedens statt (Frey
2022).
Zusammenfassend lässt sich zu den Theorien des „gerechten Krieges“ und des „gerechten Friedens“ festhalten, dass sie in der Tradition der Heiligen Schrift stehen, aber jeweils andere Schwerpunkte setzen.
1.
Kriege können unter bestimmten Voraussetzungen legitim und notwendig sein. Das Konzept des gerechten Krieges ist mit radikalem Pazifismus inkompatibel.
2.
Gerechter Friede lässt auch radikal pazifistische Interpretationen zu. Dann ist Rüstung in jeder Hinsicht abzulehnen.
3.
Folgt man dem Konzept des gerechten Krieges, ist Rüstung nicht per se abzulehnen, sondern kann ethisch auch geboten sein.
2.3 Völkerrechtliche Einordnung in der Neuzeit
In der heutigen Zeit wird die Sicherheit der eigenen Nation den Grundfunktionen demokratischer Staaten zugerechnet. Regelungen dazu sind heute in der UN-Charta zu finden und sind grundsätzlich im Einklang mit den sozialethisch-theologischen Argumenten. Zu den tragenden Säulen der internationalen Ordnung und des Völkerrechts zählt zum einen das Gewaltverbot (Art. 2, UN-Charta), welches grundsätzlich die Ausübung von Gewalt und Krieg untersagt (Schaller
2021). Jedoch regelt die UN-Charta (Art. 51) auch das Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung, was wiederum eine gewaltsame militärische Gegenwehr bzw. Angriffsabwehr erlaubt (Vereinte Nationen
2022). Auch im Völkerrecht gilt, dass Kriege lediglich als ultima ratio gerechtfertigt sind und nur dann geführt werden sollen, wenn alle friedlichen Mittel ausgeschöpft wurden und eine vernünftige Aussicht auf Erfolg besteht.
Aus der sozialethisch-politischen Perspektive bleibt festzuhalten, dass kriegerische Auseinandersetzungen grundsätzlich als ultima ratio zu sehen sind. Erst wenn alle friedlichen Bemühungen erfolglos bleiben, ist nach internationaler Ordnung der Einsatz von Waffen zu rechtfertigen. Der Einsatz von Waffen ist grundsätzlich nur dann zulässig, wenn sie Recht und Frieden sichern, bzw. diesen wieder herstellen. Staaten haben das Recht und die Pflicht, sich im Falle externer Aggressionen mittels Waffeneinsatz zu wehren, um den Schutz der eigenen Nation zu gewährleisten.
Der russische Einmarsch in die Ukraine im Februar 2022, der den ersten großflächigen Krieg in Europa nach dem II. Weltkrieg darstellt, hat zu einem Paradigmenwechsel in der europäischen und insbesondere der deutschen Rüstungs- und Sicherheitspolitik geführt. Über Sicherheitsfragen, die Bedeutung der Streitkräfte und die Rolle der Rüstungsunternehmen wird nunmehr viel ergebnisoffener diskutiert als vor der russischen Aggression. Vormalige Pazifisten, vor allem bei Vertretern der Grünen und der Sozialdemokraten haben ihre Meinung geändert und Waffenlieferungen an die Ukraine zugestimmt, mitunter eingeschränkt auf sogenannte Defensivwaffen. Huber hat bereits 2014 darauf hingewiesen, dass die Verfolgung ethisch-politischer Ziele wie Einhaltung des Völkerrechts, Selbstbestimmung der Völker, politische und wirtschaftliche Freiheit und Einhaltung der Menschenrechte einerseits und absoluter Pazifismus andererseits inkompatibel sind (Huber
2014). Hingewiesen werden muss schließlich noch auf zwei fundamentale Irrtümer des absoluten Pazifismus. Auch die Abwesenheit jeglicher „Verteidigungsgewalt“ sichert kein Ende der Gewalt des Angreifers. Diese nimmt nur andere Formen an, im Regelfall Unterdrückung und Terror im Innern.
1 Auch die vielfach vertretene These, militärischen Aktionen sei ziviler Widerstand entgegen zu setzten und dieser könne erfolgreich sein, ist empirisch widerlegt wie die jüngsten Erfahrungen in Belarus, Hongkong oder auch Russland zeigen (Frey
2022).
Unabhängig der historischen und aktuellen Einordnung von Rüstung und Auseinandersetzungen ist der europäische Kapitalmarkt spätestens seit den Empfehlungen der „Platform on Sustainable Finance“ im Februar 2022 damit beschäftigt, Ausschlusskriterien für Investments im Sinne einer „Sustainable Finance“ zu implementieren. Das folgende Kapitel untersucht daher die aktuellen Ausschlusskriterien für Rüstungsunternehmen.
2.4 Ausschluss der Rüstungsindustrie in der Praxis
Der Ausschluss von Sünden-Aktien, insbesondere der Rüstungsindustrie, aus der Liste nachhaltiger Investments beruht aktuell auf keiner direkten regulatorischen Vorgabe, sondern erfolgt eher aus der Perspektive der Bewertung der produzierten Güter im Hinblick auf einen positiven Beitrag für eine nachhaltige Welt (Triodos Bank
2022). Der Ausschluss von Rüstung wird damit begründet, dass die ESG-Vorgabe „do no harm“ nicht mit der Produktion und der Verbreitung von Waffen kompatibel ist. Ebenso wird argumentiert, dass Waffen im Kontext kriegerischer Auseinandersetzungen keinen wesentlich positiven Beitrag auf die Gesellschaft ausüben können (Koch
2022).
Bereits heute legen Vermögensverwalter und Fondsmanager unternehmensweite und unternehmensindividuelle Ausschlussmandate fest, welche Investments in sogenannte „Sin-Stocks“ ausschließen (Jones und Bedell
2021; Eurosif
2018). „Sin-Stocks“ umfassen Investments in Unternehmen, welche Umsätze aus Alkohol‑, Tabak‑, Glücksspiel‑, Pornografie- und der Waffenindustrie generieren (Sagbakken und Zhang
2022). Insbesondere im Kontext eines nachhaltigen Bankwesens werden unter den Ausschlusskriterien im Segment „Soziales“ Investments in Waffen und Rüstung aufgeführt (Forum Nachhaltige Geldanlagen
2022).
Eine Eurosif Studie aus dem Jahr 2018 bestätigt, dass Waffen als häufigster Ausschluss aus nachhaltigen und verantwortungsvollen Anlageportfolios aufgeführt werden (Eurosif
2018).
Geldhäuser in der EU sind angehalten, sowohl bei der Kreditvergabe als auch bei Investmententscheidungen ESG-Kriterien berücksichtigen, was dazu führt, dass die Rüstungsindustrie Gefahr läuft, zukünftig vom europäischen Kapitalmarkt faktisch ausgeschlossen zu werden (Hegmann
2021). Bereits heute stellen erste Landesbanken in vorauseilendem Gehorsam die Finanzierung von Waffenherstellern ein und treffen damit nicht nur die großen Unternehmen (Radwan
2022), sondern vielmehr eine Reihe von Unternehmen, die in unterschiedlichen Industriegruppen und deren Untergruppen der Produktion und des Handels von Rüstungsgütern tätig sind (Taylor
2012, S. 46).
Spricht man in diesem Zusammenhang von Rüstungsgütern, sind Waren und Produkte gemeint, die zur Verwendung durch Streitkräfte in militärischen Auseinandersetzungen vorgesehen sind. Zu ihnen gehören Waffen, die unmittelbar zur Herbeiführung massiven Schadens geeignet sind, sowie Güter, die der Unterstützung militärischen Handelns dienen, wie etwa speziell konstruierte militärische Transportfahrzeuge (Werkner und Ebeling
2017, S. 756), als auch sonstige Technologie und Software für nationale und internationale militärische Dienste (Auer und Aurast
2016, S. 321).
Die Entstehung des Begriffs nachhaltiger Geldanlagen kann auf die religiöse Tradition der Quäker Anfang des 20. Jahrhunderts zurückgeführt werden, welche damit begannen, Geldanlagen nach sittlichen Kriterien zu bewerten und dabei Aktien von Unternehmen der Rüstungs‑, Glücksspiel-, oder Suchtmittelindustrie ablehnten. Diese Praxis der Geldanlage wurde im Zuge der Protestbewegungen gegen den Vietnamkrieg in den 1970er Jahren einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich und ist unter der Bezeichnung SRI (für Socially Responsible Investment bzw. auch Sustainable and Responsible Investment) bereits etabliert (Deutsche Bischofskonferenz
2010, S. 9; Eurosif
2018, S. 22; Blitz und Swinkels
2021, S. 1).
Der gegenwärtige Ausschluss von Rüstungsgütern basiert jedoch auf keiner direkten regulatorischen Vorgabe. Weder die Offenlegungsverordnung noch die EU-Taxonomie nehmen Bezug auf den Ausschluss diverser Branchen, sondern nehmen Bezug auf ökologische Risiken und die Vermeidung von Wirtschaftstätigkeiten, die sich negativ auf die Umwelt und Soziales auswirken (Europäische Union
2019,
2020). Die Offenlegungsverordnung klassifiziert verschiedene Anforderungen zur transparenten Veröffentlichung von Merkmalen und differenziert dabei Produkte nach Artikel 8 und Artikel 9, gibt jedoch keine rechtliche bzw. EU-weite Vorgaben zu Ausschlusskriterien vor.
Folgt man der Argumentation des Vorschlages zur Sozialtaxonomie, sind bei nachhaltigen Geldanlagen sämtliche Tätigkeiten auszuschließen, die erheblichen Schaden anrichten, wie zum Beispiel bestimmte Arten von Waffen (Platform on Sustainable Finance
2022, 8, 70). Der Ausschluss kontroverser Waffen findet aufgrund mehrerer internationaler Konventionen und der jeweiligen nationalen Gesetze bei allen Banken und Fondsgesellschaften statt (Betz
2022). Unter kontroversen Waffen sind dabei Streumunition, Antipersonenminen, Atomwaffen, sowie biologische und chemische Waffen zu verstehen. Ebenfalls dazu gezählt wird abgereichertes Uran (das in Projektilen zur Panzerbekämpfung verwendet wird), Brandwaffen und Waffen, die nicht entdeckbare Splitter verwenden (Swiss Sustainable Finance
2017). Abgesehen vom Umgang mit kontroversen Waffen ist es für Investoren schwierig zu differenzieren, nach welchen Maßstäben das Engagement in bestimmte Aktien oder Sektoren forciert oder ausgeschlossen werden soll (Taylor
2012, S. 46). Produkthersteller orientieren sich in der Praxis oft an einem do-no-harm Ansatz, welcher besagt, dass Investitionen nach ihrer ESG-Leistung bewertet werden und nicht in Konflikt mit Nachhaltigkeitszielen stehen und grundsätzlich keinen Schaden anrichten (Wagner
2021). Der Nachweis, dass Investitionen keinen nennenswerten Schaden anrichten, ist ein Eckpfeiler des neuen EU-Rahmens für nachhaltige Finanzen und bezieht sich im Kern auf ökologische und soziale Auswirkungen von Geldanlagen, liefert aber keine Details im Umgang mit Rüstungsfragen (Humphreys
2022).
Produktlieferanten definieren daher im do-no-harm Kontext eigene Kriterien zum Ausschluss möglicher sozial unverträglichen Investments im ESG-Produktuniversum.
Die Investmentstrategie der Flossbach von Storch Vermögensverwaltung klassifiziert ihre Artikel 8 Produkte im Sinne der SFDR und schließt direkte und indirekte Investitionen in Bezug auf Finanzprodukte aus, deren Umsatzschwelle größer 10 % in Bezug auf die Herstellung und den Vertrieb von Rüstungsgütern beträgt (Flossbach von Storch Invest S.A
2022). Eine wissenschaftliche Grundlage hierfür gibt es nicht. Die Union Investment AG definiert Ausschlusskriterien für nachhaltige Geldanlagen, sofern Unternehmen mehr als fünf Prozent ihres Umsatzes mit Rüstung generieren (Union Investment
2021). Auch die Deka Investment definiert Ausschlusskriterien für Aktienanlagen und Unternehmensanleihen, sofern der Umsatzanteil an Rüstungsgütern mehr als fünf Prozent beträgt (DekaBank
2022). BlackRock und die UBS arbeiten primär mit einem Baseline-Screen und schließen Investments in Unternehmen, welche kontroverse Waffen und zivile Schusswaffen produzieren, aus (BlackRock
2022; UBS
2021). Nachhaltige Banken wie die Triodos Bank sehen grundsätzlich davon ab, Investitionen in Unternehmen zu tätigen, die in der Herstellung oder im Vertrieb von Waffen tätig sind, da Waffenhersteller nicht als Spekulationsobjekte an der Börse dienen sollen. Die Bank positioniert sich zwar dahingehend, dass demokratische Staaten in der Lage sein müssen, eine Verteidigungsfähigkeit in Zusammenarbeit mit privaten Rüstungsanbietern herzustellen, lehnt aber Investitionen in Rüstungsunternehmen ab (Triodos Bank
2022). Hier entsteht ein logischer Widerspruch. Wenn Rüstungsanbieter als private Unternehmen Aktiengesellschaften sind, deren Anteile prinzipiell handelbar sind und man es unterstützt, dass diese für demokratische Staaten Rüstungsgüter bereitstellen, es gleichzeitig aber ablehnt, dass diese Unternehmen Kapital akquirieren, ist diese Haltung intransitiv.
Ähnlich positioniert sich der Vermögensverwalter Candriam. Rüstung ist aus der Perspektive der Bank im Kontext der Nachhaltigkeit auszuschließen, da die Komplexität der Industrie nicht sicherstellen kann, dass produzierte Güter nicht in den Wirkungsbereich zukünftiger Aggressoren gelangen (Van Hyfte
2022).
Insbesondere aus der Rüstungsindustrie werden, ausgelöst durch die aktuellen kriegerischen Entwicklungen, weltweit Forderungen laut, Hersteller von Rüstungsgütern von der schwarzen Liste nachhaltiger Investoren zu streichen, um den Zugang zu Kapital zu ermöglichen (Sindreu
2022). In der Vergangenheit wurden die Ausgaben für Rüstung und Verteidigung als konträr zu sozialem Wohlstand und Wohlfahrt betrachtet. Aufgrund der aktuellen geopolitischen Lage scheint sich jedoch die öffentliche Meinung, auch durch die ESG-Linse betrachtet, von den potenziell schädlichen Umweltauswirkungen der Industrie auf die potenziell positiven sozialen Auswirkungen im Sinne der Schaffung von mehr Sicherheit zu verlagern (Webb
2022).
Kritiker wiederum sind der Ansicht, dass es kontraintuitiv und opportunistisch ist, Investments in die Rüstungsindustrie als ESG-Titel zu propagieren, da die Debatte über die Verteidigungsindustrie erst im Zusammenhang mit dem Ukraine-Russland-Konflikt entstanden ist (Arons und Ainger
2022).
Halten wir als Zwischenergebnis fest: Anlagen in Rüstungstitel sind gegenwärtig nicht ESG-konform, weil die Produkte dieser Firmen destruktiv sind und nicht zu einer positiven gesellschaftlichen Entwicklung beitragen. Als Investments bei gemischten Firmen sind sie nur zulässig, wenn deren Rüstungsanteil eine Geringfügigkeitsgrenze nicht überschreitet. Diese Praxis folgt aber nicht aus regulatorischen Vorgaben, sondern den Eigeneinschätzungen der Investmentfirmen, deren Argumente gegenwärtig mit pazifistischen Vorstellungen kompatibel sind.
4 Zusammenfassung, Synthese und kritische Würdigung
Fassen wir zunächst die wichtigsten Ergebnisse der Expertenbefragung zusammen. Die Inhaltsanalyse der geführten Interviews zeigt ein differenziertes Bild, wobei die Sektoren „Finanzmarkt“ und „Gesellschaft/Ethik“ ähnliche Einschätzungen teilen.
Der „Finanzmarkt“ sieht die Zurverfügungstellung, Wahrung und Verteidigung der europäischen Sicherheit als elementare und exklusive Aufgabe des Staates. Und somit auch die Gewährleistung der Verteidigungsfähigkeit der deutschen Bundeswehr. Die aktuelle geopolitische Bedrohungslage wurde bei beiden Finanzmarktunternehmen aufgrund der bestehenden Ausschlusskriterien für Rüstungsgüter einer Revision unterzogen. Im Ergebnis halten beide Institute an den bisherigen Kriterien fest. Es besteht Konsens, dass Sicherheit eine Grundvoraussetzung für weitere Nachhaltigkeitsbestrebungen ist, Rüstung aber nicht im Einklang mit einer nachhaltigen Entwicklung steht. So sei Rüstung in der gegenwärtigen Form nach der Mehrheit der Experten zwar notwendig, aber nicht nachhaltig. Eine theoretische Möglichkeit einer ESG-Konformität wurde in einer perspektivischen Aufspaltung der Rüstungsunternehmen diskutiert. Diese solle eine Trennung der Produktion zu inländischen Verteidigungszwecken und Exportgütern vorsehen, da die Lieferung von Defensivwaffen für eine deutsche oder europäische Verteidigungsarmee grundsätzlich vorstellbar wäre. Delegitimiert wurde dieser Konsens dahingehend, da eine Aufspaltung und Produktionsdifferenzierung ökonomischen Anforderungen nicht standhalten würde. Wegen der Problematik, dass Rüstungsgüter in der Zukunft einem perspektivischem Kontrollverlust unterliegen können, aber auch wegen einer schwierigen Differenzierbarkeit von Waffengattungen im Sinne von Defensiv- und Offensivwaffen
2 sehen die Finanzmarktakteure die Rüstungsindustrie nicht im ESG-Universum.
Die Expertenvertreter der gesellschaftlich-ethischen Akteure sehen das weltweite Aufrüsten aufgrund geopolitischer Spannungen mit großer Sorge. Es ist unbestritten, dass demokratische Staaten einen gewissen Bedarf an Rüstungsgütern haben und dass die europäische Sicherheit aktuell ohne Rüstungsgüter nicht gewährleistet werden kann. Auch zur innerstaatlichen Wahrung von Sicherheit sind Waffen notwendig. Perspektivisch schaffen Rüstungsgüter jedoch keinerlei Zukunftsaussichten. Aufrüstung bringt keinen Nutzen, wenn potenzielle Gegner in gleicher Art und Weise aufrüsten. Dies führt zu Rüstungsspiralen, die der Menschheit nicht dienlich sind und die unsinnigerweise Ressourcen verbrauchen. Sicherheit soll nicht durch Rüstung geschaffen werden, sondern durch Dialog, Zusammenarbeit und Handel. Nur so entstehe Vertrauen und Vertrauen fördere Frieden und mache Sicherheitsbedenken obsolet. Der wirtschaftliche Druck auf die Rüstungsindustrie zwinge die Industrie zu Exporttätigkeiten, welche durch Lobbyismus verstärkt werden. Exporttätigkeiten wiederum führen langfristig zu einem gewissen Kontrollverlust, da die Waffen, wie die Geschichte zeigt, oft in falschen Händen landen. Dies würde aus einer ethischen Perspektive heraus zu einer Art Beihilfe oder Mitwirkung führen, sofern damit illegitime Handlungen durchgeführt werden. Die Experten bestätigen, dass Rüstung ein Teilaspekt von Sicherheit darstellt und Sicherheit eine Grundbedingung für weitere Nachhaltigkeitsbestrebungen der Gesellschaft ist, Investitionen in Rüstungsgüter langfristig aber keine Zukunftsinvestition darstellen. Eine Kategorisierung der Rüstungsindustrie in das ESG-Umfeld würde das ESG-Label schwächen und Transparenz verschleiern.
Die Argumentation der Experten aus der Rüstungsindustrie betont, dass europäische Staaten durch die Beschaffung einer ausreichenden Menge von Rüstungsgütern auf die aktuellen geopolitischen Bedrohungen reagieren sollten. Eine gute Ausrüstung der europäischen Armeen zu Verteidigungszwecken stelle ein Signal dar, dass Gewaltanwendung keine Gewinnaussicht für den Gegner mit sich bringen kann. Es herrscht Einigkeit, dass es zu den Fundamentalaufgaben eines Staates gehört, die erforderlichen Anstrengungen zu unternehmen, um für die Sicherheit der Bevölkerung zu sorgen. Rüstung ist ein elementarer Baustein für Sicherheit und Sicherheit ist die Voraussetzung aller weiteren Nachhaltigkeitsbestrebungen. Weiter stelle Sicherheit ein hohes soziales Gut dar. Diese Argumente finden sich ebenfalls bei den Vertretern der Sektoren „Finanzmarkt“ und „Gesellschaft/Ethik“. Die Rüstungsindustrie sieht einen Widerspruch in der EU-Argumentation. Auf der einen Seite sei die Defence-Industrie von hoher strategischer Bedeutung, auf der anderen Seite soll sie durch die Finanzmarktregulatorik am Finanzmarkt schlechter gestellt werden als andere Unternehmen, obwohl die Bestrebungen hinsichtlich Umweltmaßnahmen und Governance-Verpflichtungen oft höher seien. Aus Sicht der Rüstungsexperten wird die Diskussion rund um Rüstungsgüter von Dogmen bestimmt. Eine Schlechterstellung oder gar Ausgrenzung führe langfristig zu einem Kontrollverlust, da Investoren aus Drittländern einsteigen könnten, sofern der Zugang zu einer europäischen Bankenfinanzierung eingeschränkt werden würde. Die Rüstungsindustrie begründet ihren Anspruch auf einen Platz im ESG-Universum sowohl aus den Umwelt- und Governanceanstrengungen als auch aus dem Sicherheitsargument heraus. Der vorherrschende Einwand der anderen Akteure hinsichtlich der Exporttätigkeiten bestätigt die Industrie in Teilen, da seitens der Bundesregierung zu wenig Transparenz in der Entscheidungsbegründung erkennbar sei. So ist die Rüstungsindustrie vollständig reguliert und Export erfolgt nur nach ausdrücklicher Genehmigung einer demokratisch gewählten Bundesregierung. Eine stärkere Konzentration der Exporttätigkeit auf EU und NATO-Staaten, eine verstärkte Transparenz bei den Exportgenehmigungen durch den Staat, und eine gemeinsam mit der Öffentlichkeit geführte Diskussion soll die Aufnahme in das ESG-Universum ermöglichen. Vor dem Hintergrund dieser (in Teilen kontroversen) Aussagen soll nun abgeleitet werden, unter welchen Bedingungen Investitionen in Rüstungsfirmen ESG-konform sein könnten. Dies soll thesenartig erfolgen.
Zunächst ist festzuhalten, dass der Ansatz des gerechten Friedens in seiner pazifistischen Variante eine ungeeignete, weil empirisch widerlegte Diskussionsbasis ist. Dieser Ansatz führt nur dann zum gewünschten Ergebnis, wenn die folgenden Annahmen zutreffend sind:
Beide Annahmen sind offenkundig gegenwärtig unzutreffend bzw. sie waren auch in der Vergangenheit nicht erfüllt. Als Beispiel seien hier nur der russische Einmarsch in die Ukraine im Frühjahr 2022, der Terror des IS ab 2014, die russischen Interventionen in der Krim und in Syrien sowie die völlige Missachtung internationalen Rechts durch China im Indopazifik und die Drohung mit einer Besetzung Taiwans angeführt. Hier wird eindeutig auf Erpressung und die Anwendung von Gewalt gesetzt. Aus diesem Grund ist die Sicherstellung eines hinreichend großen militärischen Abschreckungspotenzials gegen alte und neue Diktaturen erforderlich. Im Extremfall müssen die Streitkräfte befähigt sein, einen Verteidigungskrieg im Sinne eines „gerechten Kriegs“ zu führen und zu gewinnen, falls die Abschreckung versagt.
Voraussetzung für äußere Sicherheit sind gut ausgerüstete Streitkräfte. Dies impliziert die Forderung nach einer leistungsfähigen und innovationsstarken Rüstungsindustrie. Erst dann kann es Nachhaltigkeit in der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung geben. Sicherheit ist eine Bedingung erster Ordnung für Nachhaltigkeit (notwendige Bedingung). Rüstung kann in diesem Sinne als abgeleitete Bedingung erster Ordnung betrachtet werden. Sicherheit durch Rüstung allein bewirkt aber noch keine Nachhaltigkeit. Deshalb kann „Sicherheit durch Rüstung“ nicht als Bedingung zweiter Ordnung (hinreichende Bedingung) angesehen werden.
Allerdings ist die Sichtweise einiger Experten, Sicherheit sei zwar Voraussetzung für Nachhaltigkeit, die Mittel zu ihrer Schaffung aber nicht, logisch widersprüchlich. Akzeptiert man das eine, muss das andere auch akzeptiert werden. Erkennt man deshalb Rüstung, auch wenn die Rüstungsgüter „an sich“ nicht nachhaltig sind, als notwendig für Sicherheit und damit für Nachhaltigkeit an, stellt sich die Frage, unter welchen Bedingungen Rüstungsfirmen als ESG-konform angesehen werden können. Hierzu kann unter Rückgriff auf die Ergebnisse der Experteninterviews ein Kriterienkatalog aufgestellt werden.
Zunächst muss auf die Bedeutung der Demokratie als Regierungs- und Staatsform hingewiesen werden. In der Literatur wurde herausgearbeitet, dass Demokratien eine geringere „Kriegsneigung“ besitzen als autoritäre Regime (Saperstein
1992). Empirisch wurde dies im Kern bestätigt, da Kriege zwischen Demokratien sehr selten sind (Weede
1992,
2005; Chenoweth
2017). Dies gilt auch für Konflikte unterhalb der Schwelle eines offenen Krieges.
Die erste Bedingung sollte daher sein, dass ein solches Siegel nur an Unternehmen vergeben werden kann, die in demokratischen Ländern beheimatet sind und die unter der Letztkontrolle von demokratischen Regierungen stehen. Da der Übergang von einer demokratischen Regierungsform zu einer autoritären Regierungsform fließend ist, kann eine Abgrenzung beispielsweise anhand des „Democracy Index“ der Zeitschrift „Economist“ erfolgen.
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Die zweite Bedingung ist die Beschränkung der Produktion auf nicht-kontroverse Waffen. Hersteller, die kontroverse Waffen produzieren, sind unter keinen Umständen ESG-fähig.
Die dritte Bedingung besteht in der Belieferung ausschließlich demokratischer Staaten bzw. Staaten demokratischer Verteidigungsbündnisse. Lieferungen in Drittstaaten (beispielsweise zur Sicherung von Skalenerträgen in der Produktion) darf es nur geben, wenn es über diese Lieferungen transparente Diskussionen und demokratische Abstimmungen gegeben hat. Dies zu organisieren ist eine staatliche Aufgabe. Rüstungsunternehmen sind zu vollständiger Transparenz zu verpflichten. Viertens ist mit der Vergabe von Lizenzen restriktiv umzugehen.
Sind diese Bedingungen erfüllt, erfüllen Rüstungsunternehmen ihre „Sicherheitsfunktion“ in demokratischen Staaten und leisten damit einen Beitrag zur Nachhaltigkeit. Eine Aufnahme in die Liste ESG-konformer Investments kann dann erfolgen.
Abschließend soll noch zu einigen Thesen der Experten Stellung genommen werden, die gegen ein mögliches ESG-Siegel sprechen.
Das erste Problem betrifft die Schaffung von Rahmenbedingungen für eine wettbewerbsfähige Produktion der Rüstungsunternehmen demokratischer Staaten, ohne dass die Unternehmen exportieren müssen, um Skalenerträge zu realisieren. Die wichtigste Voraussetzung hierfür ist eine langfristig angelegte Beschaffungsstrategie der Abnehmerländer von Rüstungsgütern, wobei ein international funktionierender Wettbewerb zwischen verschiedenen Anbietern sichergestellt sein muss, ohne dass Staaten eine Beschaffungsplanwirtschaft einführen. Hier kann auf die Erfahrungen aus der Zeit des „kalten Kriegs“ zurückgegriffen werden. Sollte eine solche Strategie mit der Schrumpfung von Anbietern aufgrund verringerter Produktionsmengen verbunden sein, ist das hinzunehmen.
Ein weiterer kritischer Punkt besteht in der Weitergabe von Waffen an Gruppierungen, die sie missbräuchlich verwenden könnten. Hier sind insbesondere Staaten, aber auch paramilitärische Gruppierungen und Milizen zu nennen. Im Extremfall können Waffen auch in die Hände von Gegnern fallen (Afghanistan). Allerdings kommt letzteres relativ selten vor und ist meist eine Folge operativen Missmanagements. Alternativ kann das Problem auch bei zerfallenden Staaten entstehen (Libyen). Es betrifft aber in den weitaus meisten Fällen nichtdemokratische Staaten und lässt sich insofern durch die Unterbindung von Waffenexporten in diese Länder verhindern. Das Problem der Existenz von Waffenschwarzmärkten ist schwerwiegender und als solches wohl kaum aus der Welt zu schaffen. Besonders für autoritär regierte, aber politisch instabile Entwicklungsländer entfaltet es empirische Relevanz. Zwar sind meist nur leichtere Infanteriewaffen Gegenstand solcher Schwarzmarktgeschäfte, aber auch Sturmgewehre können beträchtliche Schäden an Menschen und Material verursachen und Konflikte perpetuieren. Inwieweit das Sekundärmarktargument ausreichend ist, generell eine Inkompatibilität mit dem ESG-Universum zu begründen, ist letztlich eine politisch-normative Entscheidung.
Das Argument, es gäbe für Rüstungsgüter bzw. -firmen einen funktionierenden konventionellen Kapitalmarkt, weswegen ESG-Gütesiegel unnötig seien, ist gegenwärtig durchaus zutreffend. Allerdings dürfte die Bedeutung des ESG-Sektors in der Zukunft stark wachsen und dann dürfte es zu massiven Reallokationen der Finanzierungsströme kommen, verbunden mit indirekt politisch gesteuerten differenzierten Finanzierungskonditionen. Es ist dann damit zu rechnen, dass ein „Crowding-out“ von Rüstungsfirmen stattfindet. Auf jeden Fall handelt es sich um eine Diskriminierung, die im Hinblick auf die positiven Externalitäten einer funktionierenden Verteidigung nicht nachvollziehbar ist. Aus diesen Gründen ist das Argument „ESG ist unnötig, weil der Finanzmarkt nur indirekt beteiligt ist“ langfristig nicht haltbar. Inkonsistent ist weiterhin die These, nur der Staat sei für die Zurverfügungstellung des öffentlichen Gutes „äußere Sicherheit“ zuständig. Solange dieser Rüstungsgüter bei privaten Kapitalgesellschaften beschafft, deren Eigentumsanteile am Kapitalmarkt gehandelt werden, müssen nicht-diskriminierende Finanzierungsmodalitäten sichergestellt sein.
Schließlich werfen einige Experten noch zwei grundsätzliche Fragen auf, nämlich die nach der Problematik von Rüstungswettläufen bzw. des Fehlens von „Fantasie, wie Kriege enden sollen“. Letzteres lässt sich mit den Erfahrungen der Geschichte beantworten. Entweder durch eindeutige Siege bzw. Niederlagen (napoleonisches Frankreich nach Waterloo; Deutschland nach Ende des II. Weltkriegs) oder durch eine Verhandlungslösung, die durch die militärischen Realitäten determiniert wird. Mit der Frage nach einem möglichen ESG-Siegel für Rüstungsunternehmen hat diese Problematik direkt nichts zu tun. Es ist auch nicht anzunehmen, dass die Aufnahme von Rüstungsfirmen in das ESG-Universum das Wettrüsten verschärft, nur weil aufgrund nicht-diskriminierender Finanzierungskonditionen mehr Rüstungsgüter hergestellt werden. Diese werden dann höchstens preisgünstiger produziert. Ein demokratischer Staat wird aber nicht nur deswegen Rüstungsgüter kaufen, die über den Bedarf für eine funktionierende Abschreckung hinausgehen, weil sie billiger sind. Die Analyse von Rüstungswettläufen selbst ist nicht Zweck dieser Abhandlung.