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2008 | Book

„Schmerzliche Erfahrungen der Vergangenheit“ und der Prozess der Konstitutionalisierung Europas

Editors: Christian Joerges, Matthias Mahlmann, Ulrich K. Preuß

Publisher: VS Verlag für Sozialwissenschaften

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Table of Contents

Frontmatter

Zur Geschichtlichkeit der Integration. Geschichtliche Rekonstruktionen und rechtliche Konstruktionen

Frontmatter
Konfligierende Erinnerungen. Nationale Prägungen, Verständigungsversuche und eruopäische Geschichtsbilder
Auszug
In der Präambel des europäischen Verfassungsentwurfs ist die Geschichte in paradoxer Weise gleichzeitig abwesend und allgegenwärtig. Der in der intergouvermentalen Konferenz abgesegnete Entwurf beginnt mit einem positiven Hinweis auf das „kulturelle, religiöse und humanistische Erbe Europas“ als Basis für die sich daraus ergebenden „unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte des Menschen“. Zur Rechtfertigung einer besseren Zukunft wird die negative Seite der Vergangenheit nur in der euphemistischen Anspielung auf ein „nach schmerzlichen Erfahrungen nunmehr geeintes Europa“ gestreift, ohne die Leiden der Weltkriege, des Holocausts oder des GULAGs explizit zu erwähnen. Die zerstörerische Wirkung des Nationalismus leuchtet knapp in der Erklärung auf, dass die auf ihre nationale Identität stolzen Völker Europas „entschlossen sind, die alten Gegensätze zu überwinden und immer enger vereint ihr Schicksal gemeinsam zu gestalten“.1 Dies rudimentäre Geschichtsbild von „Einheit in Vielfalt“ zeichnet sich durch Verschweigen vergangener Konflikte und naiven Fortschrittsglauben aus.
Konrad H. Jarausch
Kollisionsrecht als Form der Konstitutionalisierung Europas nach „schmerzlichen Erfahrungen“: Zur Kritik der Geschichtsvergessenheit der Europarechtswissenschaft
Auszug
Mein Beitrag oszilliert zwischen zwei Polen und verfolgt zwei Ziele. Zum einen möchte er die Debatte um die Konstitutionalisierung Europas weiterführen: nicht auf Advokatenart durch mehr oder weniger listenreiche Winkelzüge, die den Verfassungsvertrag an den vielen derzeit im Wege liegenden Stolpersteinen vorbeileiten sollen, sondern rechtswissenschaftlich-konzeptionell und mit demokratietheoretischer Rückendeckung. Dieser Anspruch ist im Titel als These enthalten: Es komme darauf an, eine rechtliche Gestalt zu finden, die Europas Vielheit verfasst. Diese Problemsicht wird im dritten Abschnitt mit der Formel vom „supranationalen Kollisionsrecht als verfassungsrechtlicher Form“ eines „horizontalen Konstitutionalismus“ präzisiert.
Christian Joerges
Geschichte als Argument? Republikanisches Geschichtsverständnis im Transnationalen Europa
Kommentar zu Konrad H. Jarausch und Christian Joerges
Auszug
Die Europäische Union ist eine Rechtsgemeinschaft, deren normatives Fundament die klassischen Prinzipien des aufgeklärten Republikanismus sind: Menschenrechte, Demokratie und Rechtsherrschaft. Politische und rechtliche Konflikte in einem solchen Gemeinwesen sind im wesentlichen Konflikte, die Fragen der Interpretation und Konkretisierung dieser Prinzipien betreffen. Das trifft, trotz des verschiedenen Gewichts und Abstraktionsgrades, gleichermaßen auf Diskussionen eines neuen Verfassungsentwurfs, der Artikulation eines politischen Programms, der Diskussion eines spezifischen gesetzgeberischen Lösungsvorschlags oder der Lösung eines gerichtlichen Disputs zu. Die Frage ist, welche öffentliche Rolle Geschichte in einer durch solche Prinzipien konstituierten Rechtsgemeinschaft spielen soll und welche Rolle ihr nicht zuzumuten ist. Gibt es so etwas wie eine republikanische Tugend des Vergessens? Gibt es eine spezifische narrative Struktur, die eine gemeineuropäische Geschichte zwecks Verfeinerung und Erweiterung des öffentlichen Vernunftgebrauchs aufweisen sollte? Welche Implikationen ergeben sich aus der spezifischen politischen und rechtlichen Form der Europäischen Union, insbesondere aus dem spezifisch horizontalen Charakter des Europäischen Konstitutionalismus für die Struktur europäischer Geschichtsschreibung und europäischer Erinnerungskultur?
Mattias Kumm
Aufarbeitung der Vergangenheit und Zivilisierung Europas
Kommentar zu Konrad Jarausch und Christian Joerges
Auszug
Anspruchsvolle Konferenzpapiere wie Buchkapitel zu kommentieren ist in mancher Hinsicht ein undankbarer Auftrag, weil die eigenen Gedanken und Ideen zu einem bestimmten Thema verständlicherweise nur im Bezug auf den zu kommentierenden Text artikuliert werden dürfen. Andererseits eignet sich diese Aufgabe sehr gut für selbstreflexive Beobachtungen, die heuristisch durchaus nützlich sein können. Als ich die erste Version des Papiers von Christian Jorges erhalten habe, trug sie noch einen Titel, der mich irritiert hat. Er lautete: „Working through ‘Bitter Experiences’ towards a Purified European Identity? A Critique of the Disregard for History in European Constitutional Theory and Practice“. Hier muss gestanden werden, dass ich, als guter Franzose, gleich auf der Hut bin, wenn bei deutschen Autoren von bereinigter Identität die Rede ist; und dies, obwohl ich eigentlich genau wusste, was Joerges damit meinte und im Grunde genommen mit seinen Ideen einverstanden bin. Nicht die genaue Formulierung des Titels ist dabei von Bedeutung, sondern die erste und spontane Reaktion des Kommentators, der an seiner eigenen Reaktion die Triftigkeit des zu behandelten Themas „Schmerzliche Erfahrungen der Vergangenheit und der Prozess der Konstitutionalisierung Europas“ feststellen konnte. Aufschlussreich ist insofern der Grund für diese spontane und misstrauische Reaktion.
Fabrice Larat

Aufgaben und Streitpunkte einer Konstitutionalisierung Europas

Frontmatter
Ist eine europäische Identität möglich? Oder: Warum wir lernen sollten, Zwiebeln zu lieben
Auszug
Identität als Problem interdisziplinärer Forschung und Reflexion erlebte in den Jahren um 1980 eine Hochkonjunktur und erfreut sich seitdem ungebrochener Beliebtheit. Identität oder durch diverse Adjektive gewürzte Verbindungen sind „magische Worte“1 geworden, die sich durch die Reduktion des semantischen und eine dramatische Steigerung des affektiven Gehalts auszeichnen. Solche magischen Worte scheinen in unserer durch rasche Veränderung geprägten Zeit, die von atavistischen Geistern nationalistischer und fundamentalistischer Provenienz geplagt wird, deren Gesellschaften als Risiko- oder Erlebnisgesellschaften bezeichnet werden, einen eigenartigen Zauber auszuüben. Obwohl dem Begriff nicht mehr als „connotative significance“2 zukommt, scheint es sich um einen Schlüsselbegriff zu handeln, dessen Nutzen gerade in seiner Mehredeutigkeit und seiner spezifischen Appellqualität liegt. Im Zuge neoliberaler Globalisierungsdiskussionen wird eine Spielart kollektiver Identität, die nationale, von den einen als Hindernis auf dem Weg zur wahren, meist ökonomischen, Weltgesellschaft, von den anderen als letzte Bastion der Bewahrung und Garantie individueller Rechte gesehen. Der Begriff selbst erscheint nicht als „essentially contested“3; vielmehr ist seine Verwendung durch Vertrauen auf die Erklärungskraft der Wiederholung gekennzeichnet.
Johannes Pollak
„Europäische Identität“: Eine Flucht ohne Ende
Kommentar zu Johannes Pollak
Auszug
Auch wenn die Frage, warum es einer europäischen Identität bedarf, selten explizit gestellt und beantwortet wird, dürfte deren verstärkte Thematisierung in der rechtswissenschaftlichen Diskussion mit der Entwicklung der Europäischen Union von einem ökonomischen Zweckverband hin zu einer politischen Union, mit dem fortschreitenden Konstitutionalisierungsprozess und nicht zuletzt mit der zunehmenden Ausweitung derjenigen Bereiche, in denen als Entscheidungsmodus das Mehrheitsprinzip angewandt wird, zusammenhängen.1 Das verzweifelte Bemühen europäischer Eliten, sich zur Legitimation ihres Handelns einer Grundlage zu versichern, findet sein Korrelat in den kaum mehr zu übersehenden Publikationen, die sich unter Rückgriff auf unterschiedliche und vielfältige Quellen auf die Suche nach einer europäischen Identität machen.2 Um spezifisch europäische Charakteristika, die eine kollektive Identität der EuropäerInnern ausmachen sollen, zu benennen, bemüht man die Geschichte, die Kultur oder die Religion, das Recht oder politische Werte. Gleichwohl bleibt beim Beobachter der Diskussion der Eindruck hängen, Erkenntnisfortschritte seien bisher kaum zu verzeichnen. Die gegenteilige Annahme drängt sich eher auf: je intensiver der Begriff der kollektiven Identität in der juristischen Diskussion bearbeitet wird und je mehr Vorschläge und Kriterien genannt werden, desto unklarer scheint die Terminologie zu werden und desto undeutlicher wird der Inhalt jener europäischen Identität. Begriffliche Schwierigkeiten, unzählige Bestimmungsversuche und deren Subjektivität und Widersprüchlichkeit sind nicht neu. All das wurde bezogen auf Europa in wunderbarer Weise schon von Joseph Roth dargestellt. In seinem Buch „Die Flucht ohne Ende“ findet der Leser eine abendliche Konversation, die um die verzweifelte Suche nach den Gemeinsamkeiten der europäischen Kultur kreist.
Felix Hanschmann
Zwischen transnationaler Klassenherrschaft und egalitärer Konstitutionalisierung. Europas zweite Chance
Auszug
Volksabstimmungen sind nicht nur als Legitimationsverfahren, sondern vor allem für die öffentliche Bedeutung der Demokratie unverzichtbar.2 Ihr Sinn ist es, den Willen des Elektorats ohne realpolitische Rücksichten und strategische Machtkalküle zum Ausdruck zu bringen.3 Die Referenden in Frankreich und Holland, an denen der Verfassungsvertrag gescheitert ist, sind nicht nur Ausdruck reaktionärer Ängste und nationalistischer Regression, sondern haben auch rationale Motive zur Geltung gebracht.4 Wäre die Verfassung gekommen, wäre zwar zunächst nur ein neues Wort an die Stelle einer alten Sache getreten. Aber der Name hätte als Omen verstanden, der Begriff beim Wort genommen und sein demokratischer Gehalt an dem der nationalen Verfassungen gemessen werden können. Die heute schon formell, und mehr noch informell vereinigten Exekutiven Europas wären die Geister, die sie riefen, um sich dem Volk auf den Gruppenphotos ihrer Gipfeltreffen als gutes, wohlwollendes und gnädiges Herrscherkollektiv präsentieren zu können, nicht mehr losgeworden. Die europäische Scheindemokratie, die Politikwissenschaftler und White-Paper-Manager euphemistisch auf den Namen „Mehrebenendemokratie“ getauft haben und den „Menschen draußen im Lande“ als good governance und deliberative supranationalism anzudrehen versuchen, wäre ins Wanken geraten. Die Leute hätten ihre Stimme in den Massenmedien erhoben und die Politiker gefragt, ob die hoch tönenden formeln der endlos langen Präambel, ob die schönen Sprüche der Grundrechtscharta, die nur kostenfrei verdoppeln, was wir ohnehin schon haben, sich auch in der harten Währung eines europäischen Organisationsrechts auszahlen. Die politisch-ökonomisch-mediale Klasse, die sich auf ihrem langen Marsch von Rom bis Nizza von Integrationsschritt zu Integrations-schritt immer wirksamer gegen Parlamentsentscheidungen, Wahlen und Abstimmungen immunisiert hat, wäre in Legitimationsnöte geraten.
Hauke Brunkhorst
À la recherche de l’individu. Zwischen Sozialabbau und Selbstbestimmung liegt die Zukunft Europas in seinen Bürgern
Kommentar zu Hauke Brunkhorst
Auszug
Unbezähmbar war das, und leidenschaftlich. In seinem faszinierenden Referat hat sich Hauke Brunkhorst nicht lang mit technischen Details wie der Frage nach den Möglichkeiten einer vollständigen oder teilweisen Wieder- oder Neubelebung des Verfassungsprozesses aufgehalten1, sondern ist gleich vom Katheder auf die Barrikade geklettert. Nur scheinbar, so seine emphatische Analyse, haben Franzosen und Niederländer die Uhr der europäischen Integration angehalten — in Wahrheit wurden wir, so klärte uns der Vortragende auf, Zeugen eines constitutional moment 2, eines Augenblicks der Verfassungsgebung, in dem die Weichen für die EU neu gestellt wurden und der noch immer andauert. Das Votum der Bürger ist für Hauke Brunkhorst ein energischer Ausdruck politischen Willens, ein Zwischenruf, mit dem die zwischen der kühlen Vernunft deliberativen Regierens und dem berechnenden Interesse des Marktes lavierenden eurokratischen Eliten nicht mehr gerechnet hatten.
Alexandra Kemmerer
Die politische Ambivalenz des Sozialen
Auszug
Durch den Zusammenbruch der internationalen Ordnung in den 1970er Jahren und durch das erneute Auftreten von Massenarbeitslosigkeit erstmals seit den 1930er Jahren und den daraus folgenden Erfahrungen der Orientierungslosigkeit tauchten verstärkt Grenz- und Identitätsfragen auf. Vor diesem Zeitpunkt hatte in der Geschichtsschreibung niemand ernsthaft über Identität gesprochen. Der Nationalismus also Ideologie war viel diskutiert worden, nicht aber nationale Identität als analytische Kategorie. Der Europäische Rat beschloss 1973 auf dem Gipfel von Kopenhagen in eigentümlicher Weise, eine europäische Identität einzuführen — ein Versuch, die in der Vergangenheit verlorene politische Initiative wiederzubeleben.
Bo Stråth
Und was fehlt eigentlich? Eine Anmerkung zum europäischen politischen Erfahrungsraum
Kommentar zu Bo Stråth
Auszug
Ich beginne mit zwei heuristischen Beobachtungen. Die erste Beobachtung formuliert einen Gemeinplatz. Deswegen fasse ich mich kurz. Die zweite Beobachtung bedürfte einer näheren Begründung. Ich muss sie hier schuldig bleiben.
Alexander Somek
Zur Theorie und Praxis des Föderalismus: Subsidiarität, Integration und der sanfte europäische Verfassungswandel
Auszug
Der Föderalismus beruht bekanntlich auf den Grundprinzipien der Integration und Subsidiarität. Diese Konzepte werden aber zumeist missverstanden, da die Geschichts- und Kulturbezogenheit sowie die inhärenten politischen Spannungen des Föderalismus verkannt werden. Im Folgenden möchte ich das Subsidiaritätsprinzip und seine zwei Hauptkomponenten — die instrumentelle und materiale Zentralisierung bzw. Dezentralisierung — näher betrachten und kontextualisieren. Dies wird verdeutlichen, wie eng die materiale Komponente der Subsidiarität — im Gegensatz zu der instrumentellen — mit einer ganz bestimmten Form der Integration, nämlich einer verfassungsrechtlich gestalteten Integration zusammenhängt. Die genannten Grundprinzipien verweisen zugleich auf Grundsatzfragen jedes föderalen Systems, nämlich die stetige Spannung zwischen den einander widerstreitenden Ansprüchen auf Zentralisierung und auf Dezentralisierung sowie die Problematik der damit zusammenhängenden Verfassungsintegration, die letztendlich auf der normativen Gleichstellung der Bürger verschiedener Gliedstaaten beruht.
Daniel Halberstam
Europäischer Föderalismus-Streit: Eine Unionsverfassung jenseits von Bundesstaat und Staatenbund?
Auszug
Aus deutscher Sicht ist die Europäische Union, und schon gar die Europäische Gemeinschaft, ein bündisches Gebilde, wenn auch ganz eigener Art. Die Bezeichnung als ‘Staatenverbund’, die der EU von Seiten des Bundesverfassungsgerichts verpasst wurde1, war noch klar in Kategorien eines traditionellen ‘Etatismus’ gedacht, mit dem Nationalstaat als primärer, quasi vorausliegender politischer Einheit, und der EU als Ebene neuer, nur abgeleiteter politischer Gewalt. Doch selbst dieser Begriff enthält — in seinem Kernbestandteil des ‘Verbunds’- schon semantisch die Grundelemente des ‘bündischen’ Systems. Vor dem Hintergrund der deutschen Verfassungsgeschichte fällt es Teilen des deutschen Schrifttums dementsprechend auch nicht schwer, die Europäische Union als föderales Gebilde zu begreifen, ja als ‘Bundesstaat im Werden’. Vor der Folie des ersten deutschen Bundesstaates, des von Bismarck konzipierten Reiches von 1867/71, liegt es nicht fern, auch ein Vertragsgebilde wie die EU als föderales System zu begreifen.2 Gegründet von den Mitgliedstaaten per Vertrag, mit abgeleiteter Hoheitsgewalt, aber stark verselbständigter politischer Willensbildung, führt dieses politische Gebilde ‘sui generis’ ein erkennbares politisches Eigenleben — und verfügt über eine Kompetenzausstattung, die im Rechtsvergleich nicht nennenswert zurückbleibt hinter der Kompetenzausstattung manch anderer föderaler Gebilde.
Stefan Oeter
Historische und geschichtsphilosophische Erwartungen an föderale Ordnungen
Kommentar zu Daniel Halberstam und Stefan Oeter
Auszug
Es mag für ein Projekt, das sich mit einer historischen Perspektive auf den europäischen Konstitutionalismus beschäftigt, angemessen erscheinen, die beiden vorliegenden verfassungstheoretischen Beiträge mit Blick auf die historisch gewachsenen Erwartungen zu kommentieren, die man in der Heimat der Autoren, in Deutschland und in den Vereinigten Staaten, an den Föderalismus richtet. Die folgenden Anmerkungen werden keine Geschichtsschreibung betreiben. Sie werden nur verschiedene Narrative wiedergeben und kritisch betrachten, die, wenn auch in unterschiedlicher Art und Weise, mit der Entwicklung des Föderalismus und seinen politischer Bedeutung in der Diskussion der europäischen Integration verbunden werden. Solche Narrative herauszuarbeiten bedeutet, implizit Selbstverständliches ausdrücklich zu machen — und dadurch für Kritik zu öffnen. Dies erscheint hilfreich, weil die historischen Erfahrungen mit dem Föderalismus einen maßgeblichen Teil des Erwartungshorizonts darstellen, den wir mit der europäischen Integration verbinden.
Christoph Möllers
Die Menschenrechtskonzeption Europas im Spiegel ihrer Vergangenheit
Auszug
Der rechtliche Schutz von Menschenrechten in Europa wirft eine Reihe von schwierigen Problemen auf. Ein wichtiges Gebiet bildet dabei die Auseinandersetzung um die Substanz konkreter rechtlicher Verbürgungen, vom Gehalt klassischer liberaler Freiheitsrechte bis zur Menschenwürde selbst. Diese wird etwa im Rahmen der Herausforderungen, die der Kampf gegen terroristische Bedrohungen oder das umkämpfte Gebiet der Bioethik schafft, in neuer Weise grundsätzlich reflektiert.
Matthias Mahlmann
Konstitutionalisierung durch Menschenrechte
Kommentar zu Matthias Mahlmann
Auszug
Der Menschenrechtsgedanke hat seit dem Zweiten Weltkrieg weltweit und insbesondere in Europa eine bemerkenswerte Verbreitung gefunden — und zwar nicht nur als moralische Vorstellung, sondern im geltenden Recht auf nationaler, internationaler und supranationaler Ebene. Insoweit stimme ich dem Befund M. Mahlmanns zu. Mit einer Portion Optimismus kann man darin auch in der Tat den „experimentellen Nachweis“ der praktischen Möglichkeit des Menschenrechtsuniversalismus sehen. Ich möchte allerdings in Bezug auf die Konstitutionalisierung Europas einen anderen Akzent setzen und auf die Bedeutung von ausdrücklich normierten Grund- und Menschenrechten für konkrete politische Gemeinschaften (dazu unten 2), insbesondere für die Europäische Union (dazu unten 3) hinweisen. Zunächst jedoch zu der von M. Mahlmann thematisierten Universalität des Menschenrechtsgedankens.
Tobias Herbst

Der Umgang mit Geschichte

Frontmatter
Thomas Manns Albtraum? Potential und Paradoxien europäischer Erinnerungspolitik
Auszug
Thomas Manns Albtraum (oder zumindest einer seiner politischen Albträume) war bekanntlich, dass es dereinst ein deutsches Europa anstatt eines europäischen Deutschland geben würde. Aus Sicht manch wacher Beobachter scheint diese Schreckensvision zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts wahr zu werden — nur unter ganz anderen Vorzeichen als bei Mann: Heute fürchtet man nicht ein aggressiv-nationalistisches Deutschland, sondern eines, das Europa sein Modell der Vergangenheitsbewältigung und damit letztlich einen „negativen Nationalismus“ aufdrängen will — und das dadurch ganz nebenbei, mit gutem Gewissen und besten Absichten, auch eine Art Umverteilung der Lasten der Vergangenheit durchsetzt.
Jan-Werner Müller
Geschichte und Erinnerung in deutschen und europäischen Integrationsdiskursen
Auszug
Die gegenwärtige Bedeutung von Geschichte und Erinnerung für europäische Kooperations- und Integrationsprojekte ist eine historische Neuigkeit. Der Wunsch, einen erneuten Krieg zwischen europäischen Nationen zu verhindern, ist zwar seit langem integraler Teil der Meistererzählung der europäischen Integration, aber „Europa“ im Sinne der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und der Europäischen Gemeinschaft (EG) war bis in die 80er Jahre ein ökonomisches, gesetzlich-politisches Wesen mit nur wenigen gemeinsamen Werten und noch weniger Symbolen. Es war keine Erinnerungsgemeinschaft. Wie Tony Judt zu Recht betont, waren sowohl die westliche wie auch die östliche unter sowjetischer Herrschaft vollzogene Integration durch „the erection of an unnatural and unsustainable frontier between past and present in European public memory“ (oder besser: in den europäischen öffentlichen Gedächtnissen) gekennzeichnet.2 Im Westen gingen die geteilten Erinnerungen über den Integrationsprozess selber und den kleinsten gemeinsamen Nenner von „Nie wieder Krieg“ nicht hinaus. Zukunftsorientierung charakterisierte vorwiegend auch frühere Integrationskonzepte.3
Andrew H. Beattie
Zwischen Pfadabhängigkeit und Kommensuration: Verbote politischer Parteien in Europa
Auszug
Die europäischen Demokratien sind auf das Prinzip politischer Freiheit gegründet. In der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte bekennen sie sich zur Partizipationsfreiheit, zur Meinungsfreiheit und nicht zuletzt zur Assoziationsfreiheit. Die zentrale Bedeutung der Assoziationsfreiheit verdankt sich dem Umstand, dass der Anspruch, an demokratischer Willensbildung und Entscheidungsfindung teilzunehmen, unter heutigen Bedingungen kaum in der direkten Teilhabe an der Gesetzgebung eingelöst werden kann, sondern am ehesten durch die Unterstützung politischer Parteien und die Mitgliedschaft in ihnen. Wo diese Möglichkeiten fehlen, mangelt es auch den Gesetzen an demokratischer Legitimität. Wo die Verfassung selbst solche Chancen vorenthält, ist die freie Gestaltung einer „offenen demokratischen Zukunft“ kompromittiert, denn die Verfassung legt „eine Vorstellung davon fest, wie die Zukunft auszusehen hat, und Bürger (...) werden im Gegenzug von autonomen Staatsbürgern auf bloße Untertanen reduziert.“1 Trotzdem sind Einschränkungen politischer Assoziationsfreiheit, selbst in ihrer umstrittensten Gestalt, nämlich als Parteiverbote, noch immer in vielen der konsolidierten Demokratien Europas anzutreffen. Im Rückblick ist es keineswegs so, dass das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, das bekanntlich eine solche Regel enthält, einen Sonderweg eingeschlagen hätte. Nicht nur die Transformationsstaaten der unmittelbaren Nachkriegszeit, Italien und die Bundesrepublik, sehen in ihren Verfassungen solche Instrumente vor. Auch in den Demokratisierungsprozessen der siebziger Jahre, etwa in Portugal, wurden analoge Verbote eingerichtet. Postkommunistische Demokratien wie Polen und posttheokratische Demokratien wie die Türkei haben Parteiverbote in ihren Verfassungen installiert, und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte hat in einigen spektakulären entscheidungen deren grundsätzliche Verträglichkeit mit Rechtsstaatlichkeit und Demokratie bekräftigt.
Peter Niesen
Verhinderung der Vergangenheit: wehrhafte Demokratie in postkommunistischen Demokratien
Auszug
Einige Demokratien, insbesondere die postkommunistischen Verfassungsstaaten, sind vergleichsweise wehrlos gegen gefühlsmanipulative Politik, die verfassungsrechtliche Freiräume ausnutzt. Die verfassungsrechtlichen Grundlagen dieser Staaten sind nicht nur durch emotional-radikale populistische Politik gefährdet, sondern auch durch Rassismus und Korruption. Obwohl es eher unwahrscheinlich ist, dass das demokratische System durch einen Missbrauch der demokratischen politischen Institutionen zerstört wird, besteht kein Zweifel, dass die Selbstschutzmechanismen der Demokratie vergleichsweise schwach sind.
András Sajó

Kann Europa aus der Aufarbeitung seiner Vergangenheiten eine neue Legitimität gewinnen?

Frontmatter
Völkermord und Vertreibung als Medien der Europäisierung
Auszug
Mit der Osterweiterung der Europäischen Union und dem wenn auch vorerst gescheiterten Verfassungsentwurf, mit der auch exemplarisch vollzogenen und symbolisch inszenierten Übernahme des Oberkommandos über die Sicherheitskräfte in Bosnien-Hercegovina hat die Europäische Union jüngst entscheidende Schritte vom wirtschaftlichen und politischen Zweckverband zu einem politischen Gemeinwesen unternommen. Wie mühsam diese Schritte waren und wie mühsam weitere noch sein werden, wie unvollkommen das Vereinbarte auch ist, die Europäische Union löst nun in pragmatischer Hinsicht ein, was der Vertrag von Maastricht 1992 perspektivisch fixiert hatte. Es gibt seit jenem Vertrag eine europäische Bürgerschaft und die politische Verabredung zu einer europäischen Gesellschaft. Die blaue Flagge mit den zwölf Sternen, die 1986 offiziell zum politischen EU-Signet wurde, hatte dies heraldisch vorweggenommen.
Michael Jeismann
Kann Erinnerung Legitimität stiften?
Auszug
Es gibt viele Methoden, neue politische Gemeinwesen ins Leben zu rufen: durch Krieg und Eroberung, durch Sezession, durch Revolution und, ja, zuweilen auch durch Vertrag. In Europa besteht dringlicher Anlass, über Verträge als Quelle politischer Schöpfungen nachzudenken, denn die EU ist das Geschöpf von Verträgen. Der augenblicklich — im Frühjahr 2007 — in einem vorerst unterbrochenen Ratifikationsverfahren befindliche Verfassungsvertrag sollte, wie die Inanspruchnahme des Verfassungsbegriffs bereits ankündigt, symbolisch zum politischen Gründungsvertrag der EU schlechthin werden. Was die sachliche Substanz, politische Bedeutung und juristische Bindungswirkung betrifft, so hätte man freilich bereits den am 1. November 1993 in Kraft getretenen Vertrag von Maastricht als den politischen EU-Gründungsvertrag verstehen können; doch erst mit der inzwischen abgeschlossenen Osterweiterung der EU stellte sich mit bislang ungekannter Dringlichkeit die Frage, worauf denn nun der Zusammenhalt und die Handlungsfähigkeit dieser nun noch heterogener gewordenen Union beruhen sollte: auf der Gemeinsamkeit der kollektiv erinnerten Geschichte oder auf einem gemeinsamen Projekt für die Zukunft, einer Verfassung?
Ulrich K. Preuß
Aus der Geschichte lernen: Polen und Deutsche nach der historischen Wende in Europa
Auszug
Die europäische Integration ist wie eine Giraffe: leicht zu identifizieren, aber schwer zu definieren. Heute besteht ein Element der Definition wohl auch in der Tatsache, dass die europäische Integration unentwegt über die Geschichte stolpert und an Identitätsstörungen leidet. Über 17 Jahre nach dem Fall des „Eisernen Vorhangs“ stellt sich heraus, dass bestimmte zeitgeschichtliche Probleme nicht nur einzelne Länder oder bilaterale Beziehungen betreffen.
Jerzy Kranz

Epilog

Frontmatter
Demokratische politische Kultur in nachdiktatorischen Gesellschaften
Auszug
Das Thema des vorliegenden Bandes: „’schmerzliche Erfahrungen’ der Vergangenheit und der Prozess der Konstitutionalisierung Europas“ vermutet einen engen Zusammenhang zwischen der Entstehung einer verfassten Europäischen Union und der Verarbeitung der davor liegenden Erfahrungen, auf denen sie aufbaut. Dies berührt die Jahre nach 1945, aber auch die Zeit davor. Denn zum einen sollte und soll die Europäische Union die grausamen kriegerischen Konflikte der europäischen Vergangenheit vor 1945 ein für alle Mal überwinden. In ihnen haben sich potenziell gefährliche und auch heute noch nicht überwundene Ressentiments und Vorurteile entwickelt, die durch konkrete wirtschaftliche und politische Zusammenarbeit gebändigt werden sollen, vielleicht sogar in Verständigung verwandelt werden können. Sie bilden den Interpretationsrahmen, innerhalb dessen die Europäische Union nach dem Kriege aufgebaut worden ist. Die Erfahrungen dieses Aufbaus nach 1945 haben zum anderen ihrerseits den subjektiven und in die Texte eingegangenen Sinn der Europäischen Union geprägt.
Gesine Schwan
Backmatter
Metadata
Title
„Schmerzliche Erfahrungen der Vergangenheit“ und der Prozess der Konstitutionalisierung Europas
Editors
Christian Joerges
Matthias Mahlmann
Ulrich K. Preuß
Copyright Year
2008
Publisher
VS Verlag für Sozialwissenschaften
Electronic ISBN
978-3-531-90989-9
Print ISBN
978-3-531-15414-5
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-531-90989-9