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2007 | Book

Handbuch Verkehrspolitik

Editors: Oliver Schöller, Weert Canzler, Andreas Knie

Publisher: VS Verlag für Sozialwissenschaften

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Table of Contents

Frontmatter

Rahmenbeschreibungen

Frontmatter
Verkehrspolitik: Ein problemorientierter Überblick

Es gibt wohl kaum ein Politikfeld, das sich durch eine größere Diskrepanz zwischen programmatischem Anspruch und realer Umsetzung auszeichnet. So besteht einerseits ein weitreichender gesellschaftlicher Konsens darüber, dass der Verkehr in Deutschland und den anderen entwickelten Industrieländern einen Grad erreicht hat, der den Kriterien einer nachhaltigen Entwicklung widerspricht. Einhellig problematisiert wird neben dem in jüngster Zeit rasant anwachsenden Flug- vor allem der motorisierte Individualverkehr (MIV). Seit Jahrzehnten reagiert die Politik immer wieder mit umfangreichen Programmen, um den negativen Effekten der Massenmotorisierung zu begegnen. Dabei wird sie von wissenschaftlicher Seite bei dem Entwurf eines nachhaltigen verkehrspolitischen Leitbildes („integrierte Verkehrspolitik“) durch vielfältige konzeptionelle Überlegungen und daraus abgeleitete Handlungsempfehlungen unterstützt. Kurz, es gibt sowohl überzeugende, allgemein akzeptierte Konzepte einer nachhaltigen Verkehrsentwicklung wie auch konkrete Handlungsstrategien für ihre Umsetzungen.

Oliver Schöller
Ergebnisse und Probleme sozialwissenschaftlicher Mobilitäts- und Verkehrsforschung

Im Dezember 1996 traf sich im Wissenschaftszentrum Berlin eine bunte Mischung aus deutschsprachigen Experten der Verkehrsforschung. Initiiert hatte das Zusammentreffen das Bundesforschungsministerium. Denn in der letzen Legislaturperiode der Regierung Kohl war der damaligen Bundesregierung die Verabschiedung einer „Zukunftsinitiative Mobilitätsforschungsprogramm“ gelungen, die unter dem Leitmotiv „Mobilität dauerhaft erhalten, unerwünschte Verkehrsfolgen spürbar verringern“ stand und die Verkehrsforschung in Deutschland neu beleben sollte. Mit der Veranstaltung in Berlin wollte das in diesem Zusammenhang neu gegründete und für die Abwicklung der Initiative federführende Grundsatzreferat des Forschungsministeriums das Programm vorstellen und sich Anregungen für eine erste Ausschreibungswelle holen. Im Unterschied zu den zahlreichen Vorgängerprogrammen zur Förderung der Verkehrstechnologie sollten erstmals einige Neuerungen greifen, insbesondere waren die Sozialwissenschaften explizit zur Teilnahme aufgefordert (vgl.

Hautzinger/Knie/Wermuth 1997

).

Andreas Knie

Verkehrspolitik als Gesellschaftspolitik

Frontmatter

Verkehrspolitik als Verkehrsgeschichte

Verkehrskulturen

Das Wort „Verkehr“ in der Bedeutung von Handelsverkehr und Warenaustausch ist vor allem aus dem 18. Jahrhundert bezeugt und wurde dann auf andere Gebiete übertragen; „die moderne bürgerliche Gesellschaft habe gewaltige Produktions- und Verkehrsmittel hervorgezaubert“, heißt es etwa 1848 im „Manifest der Kommunistischen Partei“ (

Paul 2002: 1089

). Doch verweist „verkehren“ im Sinn von „miteinander umgehen“ auf eine mit der menschlichen Sozialisation beziehungsweise dem Prozess der Enkulturation und Zivilisation gegebene anthropologische Konstante. Kultur, lat.

cultura

, zu

colère

(pflegen, bebauen) wiederum betont in seiner etymologischen Wurzel die mit der Sesshaftigkeit verbundenen Möglichkeiten geistiger und seelischer Verfeinerung, wobei der Garten als Topos für Domestikation eine besondere Rolle spielt. Zugleich ist Kultur ein Transzendieren immanent: ein Hinausgreifen über eingegrenzte Erfahrung; durch Aufbruch und Bewegung wird die Neugier auf das Ferne, Fremde, Andere befriedigt. „Verkehrskultur“ stellt somit ein Kompositum dar, das wichtige Aufschlüsse über die Statik wie Dynamik von Kultur wie Kulturen zu geben vermag — im Besonderen seit der Neuzeit den Drang nach der Überwindung von Raum und Zeit charakterisierend.

Hermann Glaser
Verkehrsträger

Welchen Beitrag kann die Verkehrsgeschichte als Teil einer interdisziplinären Verkehrswissenschaft leisten? Die einzelnen Teildisziplinen der Geschichtswissenschaft können alle dazu beitragen, die ökonomischen, sozialen, politischen und kulturellen Entwicklungsbedingungen des Verkehrs in der Vergangenheit zu erklären. So beschäftigen sich die Wirtschafts- und die Unternehmensgeschichte des Verkehrs mit den ökonomischen Folgen der Entwicklung von Verkehrsinfrastrukturen und mit dem Handeln von Verkehrsunternehmern auf den Verkehrsmärkten der Vergangenheit. Eine politisch-historische Herangehensweise in Form einer Politikfeldgeschichte untersucht neben der Genesis, der institutionellen Verankerung und den Mitteln der Verkehrspolitik(en) das Handeln der nichtstaatlichen Akteure (wie der Verbände und Parteien), soweit es auf die Konzipierung und die Implementierung der Verkehrspolitik Einfluss nimmt. Die sozialhistorische, mit sozialwissenschaftlichen Theorien arbeitende Forschung hilft, die Implikationen von Verkehrssystemen für die gesamte Gesellschaft — oder Teile von ihr — zu verstehen.

Christopher Kopper
Verkehrspolitiken

Die reichsbzw. bundesdeutsche Verkehrspolitik des 20. Jahrhundert bewegte sich im Spannungsfeld von Schiene und Straße, von öffentlichem Massenverkehr und motorisiertem Individualfahrzeug. Um das Miteinander der konkurrierenden Verkehrsträger zu regulieren, folgten verkehrspolitische Entscheidungen teils einer verkehrstechnischen und -wirtschaftlichen Eigenlogik, teils entsprangen sie aber anderen Politikfeldern und Interessensphären. Verkehrspolitisch relevant waren Entscheidungen immer dann, wenn sie — beabsichtigt oder unbeabsichtigt — Folgen für das Verkehrswesen hatten. Diese Grundüberlegung zwingt zu einer Öffnung des Blicks, wenn es um den Einfluss der Politik auf die Motorisierung Deutschlands im 20. Jahrhundert und um die Konkurrenzbeziehungen von Schiene und Straße bzw. von MIV und ÖV geht. Bereits der erste Augenschein legt die Vermutung nahe, dass weder das eine noch das andere allein technisch-ökonomischen Eigengesetzlichkeiten folgte, sondern beide Entwicklungsstränge auch stark politisch geprägt waren. In welcher Weise politische Weichenstellungen den Aufstieg der Motorisierung und die Rivalität der Verkehrsträger zu Lande von den Anfängen bis zum Wendejahr 1989 beeinflusst haben, ist Thema dieses Beitrags. Die Darstellung setzt den Schwerpunkt aber

nicht

auf politische Entscheidungen, die direkt auf die Gestaltung der Verkehrsordnung und deren Regelwerk zielten, sondern im Mittelpunkt stehen die allgemeinen gesellschafts-, wirtschafts- und außenpolitischen Einflüsse, die nachhaltig auf das Verkehrswesen eingewirkt haben und damit eher

indirekt

verkehrspolitischer Natur waren (zur Geschichte der Verkehrsordnung vgl. Kopper in Kap. II.1 dieses Bandes).

Dietmar Klenke

Verkehrspolitik als Verkehrspolitik

Verkehrspolitik als Feld der Staatstätigkeit — Ein Aufriss

Verkehrspolitik gehört neben Wohnungs- und Städtebausowie der Kulturpolitik zu den Bereichen, die von der Politikwissenschaft vernachlässigt worden sind. Ich selbst bekenne, gesündigt zu haben. In einem ersten Überblick über die deutschen Politikfelder, den ich mit (

1990

) herausgab, tauchte die Verkehrspolitik noch nicht auf. Manche Bindestrich-Soziologien fanden in benachbarten Sozialwissenschaften sehr ungleiche Aufmerksamkeit. Ingesamt wichen sie aber oft in andere Nischen aus, wenn sie in einen Verdrängungswettbewerb mit den Ökonomen gerieten. So haben auch die Politologen das Feld der Verkehrspolitik weitgehend den Ökonomen überlassen.

Klaus von Beyme
Akteure, Ziele und Instrumente

Die vielfach konstatierte Diskrepanz zwischen dem programmatischen Anspruch und der realen Umsetzung der Verkehrspolitik (vgl. hierzu Schöller in Kap. I dieses Bandes) erklärt sich zumindest teilweise aus der Vielzahl der Akteure, die an verkehrspolitischen Entscheidungsprozessen beteiligt sind. Sie agieren auf unterschiedlichen gebietskörperschaftlichen Ebenen und zur Verfolgung ihrer spezifischen, nicht selten konkurrierenden Ziele stehen ihnen jeweils unterschiedliche Instrumente zur Verfügung.

Frank Fichert, Hans-Helmut Grandjot
Vom Government zur Governance

Was können Regierungen erreichen? Sind moderne Gesellschaften durch sie zielgerichtet steuerbar? Können also — anders formuliert — bestimmte politische Ziele von Regierungen, wie etwa eine vernünftige bzw. ökologisch ausgerichtete Verkehrspolitik, eine wirksame Sozialpolitik zur Vermeidung von Armut und eine funktionierende Bekämpfung der Arbeitslosigkeit erfolgreich entwickelt und umgesetzt werden? Diese Fragen hat die Politikwissenschaft im Allgemeinen beschäftigt und im Besonderen die Theorien und Konzepte des Regierens bzw. der politischen Steuerung und ebenfalls die neueren Theorien von Governance. Sie berührt auch die Verkehrspolitik als traditionelles staatliches Handlungsfeld in besonderem Maße (vgl. Beyme in Kapitel 2 dieses Bandes).

Friedbert W. Rüb, Kerstin Seifer
Mehrebenenregieren in der europäischen Verkehrspolitik

Verkehrspolitik gehört nicht zu den zentralen Bereichen, die in europäisch und international interessierten Politikwissenschaften behandelt werden. Im Gegensatz zur Binnenmarkt- und Wettbewerbspolitik, der Wirtschafts- und Währungsunion, der Haushalts-, Sozial- oder Umweltpolitik wird die Verkehrspolitik entweder nicht genannt (vgl.

Wallace/Wallace 2000

) oder ihre Bedeutung schwindet: So kommt das „Jahrbuch der Europäischen Integration“ für 2005 erstmals ohne eigenes Kapitel zu diesem Politikfeld aus (vgl.

Weidenfeld/Wessels 2006

). Die geringe Beachtung erklärt sich nicht aus dem Charakter des Gegenstands. Verkehr gehört zu den materiellen Grundlagen der Europäischen Integrationsdynamik. Seit der zweiten Hälfte der 1980er Jahre sind europäische Regulierungen eingeführt worden, die sich erheblich auf eine nationalstaatliche Politikformulierung auswirkten. Dass Entscheidungsprozesse und institutionelle Dynamiken in gewachsenen politischen Systemen ohne Bezug auf Europäisierung — und Globalisierung — nicht mehr hinreichend zu erklären sind, gilt gerade auch für das raumrelevante und grenzüberschreitende Aufgabenfeld des Verkehrs. Jüngere Hinweise liefern die Rechtsprechungen des Europäischen Gerichtshofes (EuGh) zur Kerosinbesteuerung im Luftverkehr oder zu Ausschreibungsregeln im ÖPNV. Auch dass allmählich auf Nutzerfinanzierungen umgestellt wird und sich Betreibermodelle im Straßennetz zunehmend verbreiten, ist ohne den Verweis auf europäischen Politiktransfer kaum angemessen zu begreifen. Die Liberalisierung des Straßengüterverkehrs oder die Richtlinien zur Trennung von Trasse und Betrieb bei der Bahn sind dann Beispiele für wirkmächtige Regulierungen, die bereits Ende der 1980er und zu Beginn der 1990er Jahre verabschiedet wurden. Für diese beiden Dekaden ist in der europäischen Verkehrspolitik ein „substantial increase in hard law“ festzustellen (vgl.

Plehwe/Vescovi 2003: 204–207

). Ausgangspunkt meiner folgenden Argumentation ist also die Beobachtung, dass europäische Verkehrspolitik sich in relevantem Maß auf die Formulierung, Entscheidung und Durchsetzung entsprechender Regulierungen auf der Bundesebene, in den Ländern und Regionen sowie in den Städten und Gemeinden auswirkt.

Detlef Sack
Das Bundesverkehrsministerium

Die sozialwissenschaftliche Verkehrsforschung hat sich bisher kaum mit der Konkurrenz und Kooperation zwischen den Abteilungen des Bundesverkehrsministeriums befasst, sondern dieses vielmehr als monolithischen Block abgehandelt. Dies entspricht auch der offiziellen Außendarstellung einer Behörde und der landläufigen Erwartung an sie. Demgegenüber wird in dem folgenden Beitrag an einzelnen Beispielen nachzuweisen versucht, dass entscheidende verkehrspolitische Weichenstellungen plausibilisiert werden können, wenn man in den Blick nimmt, wie die Abteilungen des Ministeriums miteinander konkurrieren. Sie werden in dem Beitrag als maßgebliche Akteure in der staatlichen Verkehrspolitik auf der zentralen Ebene geschildert und auf ihre innere Struktur, ihren Politikstil und ihren Einfluss auf die Verkehrspolitik des Bundes von 1949 bis in die Gegenwart hin untersucht (Beste Untersuchungen zum Thema bisher:

Scharpf 1975

; mit Schwerpunkt Fernstraßenplanung,

Garlichs 1980

; anekdotisch und materialreich,

Heldmann 2002

; mit Schwerpunkt auf Verhältnis von Ministerium und externen Experten,

Hascher 2006

).

Hans-Liudger Dienel
Die Bundesverkehrswegeplanung

Die von Christoph Zöpel zu Beginn der 1990er Jahre kritisch beleuchtete Bundesverkehrswegeplanung wurde in der Mitte des 20. Jahrhunderts entwickelt und ist weiterhin die Grundlage für die Infrastrukturpolitik in Deutschland. Seit sie vor 50 Jahren entstand, ist ihre Anwendung von einem rasanten Wachstum des Straßenverkehrs, rasch steigenden Einnahmen aus der Mineralölsteuer sowie der Etablierung einer durchsetzungsfähigen Straßenbauverwaltung dominiert. Allerdings traten bereits seit den 1970er Jahren Schwierigkeiten auf, die mit dem Instrumentarium der Bundesverkehrswegeplanung trotz erfolgter Bemühungen bisher nicht gelöst werden konnten. Neben Finanzierungsproblemen handelt es sich dabei vor allem darum, dass unter ökologischen und ökonomischen Gesichtspunkten die Netzplanung und die Auswahl prioritärer Projekte weitaus effizienter und die Verkehrsträger besser koordiniert werden müssten, um schrittweise zu einer integrierten Planung überzugehen.

Tilmann Heuser, Werner Reh
Raum und Verkehr

Deutsche Verkehrspolitik ist auch heute — wie in Zeiten der „geschlossenen Verkehrssysteme“ (Wasserstraßen, Eisenbahn) — Infrastrukturförderung. Angesichts dessen, dass sich durch Lkw und Pkw die Erreichbarkeit von beliebigen Orten potenzierte, haben jetzt die alternativen Systeme wie Bahn, ÖPNV oder nicht motorisierte Formen der „Eigenfortbewegung“ soviel schlechtere Chancen, dass auch gezielte Förderung sie kaum noch konkurrenzfähiger macht. Wenn Verkehrspolitik wirklich darauf zielen soll, Alternativen innerhalb der neuen Verflechtungserfordernisse zu entwickeln, muss sie deshalb weit vor dem letztendlichen Verkehrsvorgang ansetzen. Im Fokus der sozialwissenschaftlichen Grundlagenforschung sollten dann nicht mehr „verkehrliche Aktivitäten“ und Mobilität stehen, sondern die raumverändernden Wirkungen der individuellen

Verkehrserreichbarkeit

, 1 die darauf beruht, dass der Einzelne schnell an nahezu jeden Ort kommen kann. Besondere Aufmerksamkeit verdienen dabei die Verflechtungsstrukturen (und ihre Entwicklung) in den regionalen Lebens- und Wirtschaftsräumen; nur hier kann das „räumliche Verhalten“ vollständig beobachtet und darauf aufbauend beeinflusst werden. Hier — in den Regionen — „passiert“ auch der überwiegende Anteil aller innerdeutschen Verflechtungsvorgänge. Und dies steht völlig im Gegensatz zu den bisherigen Prioritätensetzungen der offiziellen Verkehrspolitik.

Eckhard Kutter
Mobilität im Zwischenraum

Dieser Beitrag befasst sich mit der räumlichen Mobilität im Zwischenraum, d.h. in den Randbereichen der Städte und den Übergängen zwischen den Verdichtungsgebieten, die in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend besiedelt wurden und die ein wichtiges Element der Stadtentwicklung bilden. Diese Abwanderung von Bewohnern und Beschäftigten, Arbeitsstätten und Freizeiteinrichtungen aus den Kernstädten war eng verknüpft mit Mobilität und Verkehr: Sie wäre in dieser Form ohne die modernen Verkehrstechniken und -mittel nicht möglich gewesen. Zugleich trug und trägt die Suburbanisierung im Gesamtbild des Stadtverkehrs zum Wachstum von Entfernungen und zur Dominanz des motorisierten Verkehrs bei. Insofern wird hier, ausgehend von den aktuellen siedlungsstrukturellen Trends, ein wichtiger Teil des Verkehrsproblems europäischer Städte thematisiert. Dabei können verschiedene Phasen in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Verkehr in suburbanen Räumen nachgezeichnet werden. Konzeptuell wird zwischen raumbezogenen und sozio-ökonomischen Determinanten als Auslöser von Mobilität unterschieden. Soweit dies die Personenbeförderung betrifft, hat ein bestimmter Teil des Problems seinen Ausgangspunkt in Soziodemografie, Einkommen und Lebensstil, die nicht ursächlich, sondern abgeleitet auf einer räumlichen Oberfläche zum Vorschein kommen. Im Gütertransport sind es nicht zuletzt übergeordnete Funktionslogiken, nach denen der suburbane Raum für verkehrsintensive Nutzungen prädestiniert erscheint. Mit Blick auf Handlungsstrategien und politische Relevanz wird abschließend gefragt, welche Voraussetzungen eine Steuerung des Verkehrs im Zwischenraum mit sich bringt. Auch wird gefragt, wie die bisherige Praxis mit diesem Wirkungszusammenhang umgeht.

Markus Hesse
Feministische Verkehrs- und Raumplanung

Wenn von einer feministischen Perspektive in der Verkehrs- und Raumplanung die Rede ist, dann steht erfahrungsgemäß die Annahme im Raum, das Thema behandle die besonderen, von der Norm abweichenden Mobilitätsbedürfnisse von Frauen, also eine eingeschränkte, quasi halbierte Sicht auf die (Verkehrs-)Welt. Bis vor kurzem noch konnte diese Einschätzung, die gegenüber der feministischen Analyse formuliert wurde, als spezifische Verzerrung androzentrischer Wissenschaft gelesen werden, in der das männliche Modell als neutrale Norm unterstellt wird, der gegenüber sich weibliche Besonderheit und Abweichung ausprägt. Wissenschaftliche Überzeugungen, nach denen das Universelle und Allgemeingültige auf der einen Seite und das Erleben oder die Perspektiven von Frauen auf der anderen als Gegensätze konstruiert werden, werden als androzentrisch bezeichnet, weil sie stillschweigend davon ausgehen, Universelles und Allgemeingültiges könne aus der Perspektive der anderen, der Frauen, nicht formuliert werden.

Christine Baunhardt

Verkehrspolitik als Wirtschaftspolitik

Personen- und Personenwirtschaftsverkehr

Da die vielfältigen qualitativen Dimensionen des Personenverkehrs, die Ursachen für seine Entstehung, seine Auswirkungen sowie die Möglichkeiten politischer Einflussnahme, ausführlich in den anderen Beiträgen des vorliegenden Handbuchs behandelt werden, sollen hier eingangs nur die wesentlichen quantitativen Entwicklungstendenzen nachgezeichnet werden.

Manfred Wermuth
Güterverkehr

„Lieber mit dem Brummi leben“ waren die Worte einer Image-Kampagne, die von den Verbänden des Straßengüterverkehrs in den 1970er Jahren entwickelt wurde, um sich gegen populäre Vorschläge von dessen Verlagerung auf die Schiene zu wenden. Der Straßengüterverkehr steht indes aufgrund von Umweltbelastungen und Unfallrisiken sowie der zum Teil stark überlasteten Straßeninfrastruktur nach wie vor im Zentrum der öffentlichen Kritik. Dagegen lassen Vertreter der Wirtschaft kaum ein gutes Haar am Eisenbahngüterverkehr: Zu langsam, zu wenig flexibel, zu teuer. Gewünscht werden die Trennung vom Personenverkehr und private Konkurrenz auf möglichst europaweit dem Gütertransport vorbehaltenen Schienenwegen, um die von der Wirtschaft geforderte Effizienz zu erreichen. Die internationalisierte Beschaffungspolitik in der Produktion (

global sourcing

), zunehmend konzentrierte Einzelhandelsstrukturen und veränderte Verbrauchergewohnheiten (

e- commerce etc

.) führen zur starken Zunahme insbesondere des internationalen Güterverkehrs und des lokalen Verteilungsverkehrs. Um die wachsende Zahl von kleinen Sendungen konkurrieren viele Kurier-, Express- und Paketdienste und gleichzeitig steigt die Zahl der Endverbraucher, die mit dem privaten Pkw in den Einkaufszentren ‚auf der grünen Wiese‘ außerhalb der Zentren einkaufen. Vor allem die außerordentlich stark wachsenden Warentransporte in der Luft und auf der Straße sind dabei mit großen Belastungen der Allgemeinheit verbunden (Umweltverschmutzung, Flächenverbrauch, Lärm etc.) und stoßen insbesondere in verdichteten und ökologisch besonders sensiblen Regionen sowie bei besonders betroffenen Personengruppen immer wieder auf starke Kritik. Das grundsätzliche Problem des anhaltenden raschen und disproportionalen Wachstums des Verkehrs ist dabei in der Europäischen Union seit Anfang der 1990er Jahre im Wesentlichen das der Güterbeförderung. Noch in den 1980er Jahren wuchs der Personenverkehr im Schnitt mit drei Prozent stärker als der Güterverkehr (1,4 Prozent). In den 1990er Jahren verkehrte sich das Verhältnis: Der Gütertransport nahm mit 2,9 Prozent deutlich mehr zu als die Personenbeförderung (1,8 Prozent) und zwischen 1999 und 2002 erhöhte er sich schließlich mit vier Prozent viermal mehr als der Personenverkehr (0,8 Prozent) (vgl. KOM 2002, 3.1.1). Wird die Entwicklung im Frachtverkehr aufgeschlüsselt, so stellt sich das Problem aufgrund der Veränderung des Modal Split europaweit im Wesentlichen als relativ sehr viel stärkeres Wachstum des Straßengüterverkehrs dar.

Dieter Plehwe
Infrastruktur

Im Zentrum der gegenwärtigen infrastrukturpolitischen Debatte steht zweifellos die Neudefinition der Arbeitsteilung zwischen Markt und Staat. Die vor allem in Deutschland zu beobachtende Verschlechterung der bestehenden Verkehrsinfrastruktur, die in ganz Europa zu erwartenden Verkehrszuwächse als Folge der EU-Erweiterung und der erhebliche infrastrukturelle Nachholbedarf in den neuen EU-Mitgliedsländern haben die Frage nach neuen Angebots- und Finanzierungsformen von Verkehrsinfrastruktur entstehen lassen. Im Vordergrund steht dabei die stärkere Einbindung privater Unternehmen in Planung, Produktion und Betrieb von Verkehrsinfrastruktureinrichtungen und die Erschließung privaten Kapitals.

Bernhard Wieland
Strukturen der Verkehrsindustrie — Wirtschaftsinteressen und Verkehrspolitik

Der Studienleiter der evangelischen Akademie Tutzing, Jochen Wagner, berichtete im Januar 2006 über eine Tagung, die dort unter dem Titel „Transfiguration Mensch Technik Natur“ stattgefunden hatte. Sie sei vom Vizedirektor des Reifenherstellers Michelin, Patrick Oliva, mit dem folgenden „analytischen Weckruf“ eröffnet worden: „Derzeit 800 Millionen, in zehn Jahren sogar 1,6 Milliarden Fahrzeuge, eine Erhöhung der CCh-Emissionen von sechs auf 15 Gigatonnen pro Jahr, eine Erderwärmung um fünf Grad — das alles sei für den fragilen Planeten zu viel (...). Unsere instrumentellen Interventionen haben uns längst zum Feind der Natur werden lassen. Allein der Materialhunger von Chinas dynamischer Modernisierung überfordere die globalen endlichen Ressourcen. Er rechne fest mit künftig zunehmenden Ressourcen-Kriegen“(

Wagner 2006

). Besucht man die französische Homepage des weltweit führenden Reifenproduzenten, für den Monsieur Oliva tätig ist und zu sprechen vorgibt, dann findet man dort — sieht man von dem Verweis auf Bemühungen um das Recycling der Pneus ab — keine Aussagen, die auch nur annähernd mit einem Engagement für die Umwelt oder für den Erhalt des „fragilen Planeten“ für die späteren Generationen in Verbindung gebracht werden könnten. Ein gewisses Aufhorchen mag es noch bei der Anpreisung des neuen Michelin-Produkt PAX geben. Doch es handelt sich dabei nicht um die erwartete Friedenserklärung an die Natur, die Patrick Oliva in Tutzing noch anklingen ließ. Das Produkt, ein „Sicherheits-Reifen“, soll vielmehr „auch ohne Luft noch 200 km mit 80 km/h rollen“ können, was das Reserverad überflüssig mache (

http://www.michelin.de

; Zugriff am 12. Mai 2006).

Winfried Wolf
Die externen Kosten des Verkehrs

Mobilität von Personen und Gütern gilt als hohes Gut, als wichtiger Produktionsfaktor und als Wachstumsvoraussetzung für die Wirtschaft. Sie wird daher vom Staat vielfältig gefördert, insbesondere durch umfangreiche und kostenintensive Investitionen und Unterhaltungsausgaben für Infrastrukturen. Andererseits wirkt sich der Verkehr aber auch negativ auf Gesundheit, Gesellschaft und Natur aus. Seit längerem stehen Luftverschmutzung, CO

2

-Emissionen und Lärmbelästigung durch den Verkehr, Belastung der Innenstädte durch parkende und fahrende Autos sowie Versiegelung, Bodenschäden und Flächenzerschneidung der Landschaft durch Straßen in der Kritik von Öffentlichkeit und Politik. Hinzu kommen sektorinterne Probleme, wie die Überlastung vorhandener Wegekapazitäten durch Staus und die volkswirtschaftlichen Kosten von Verkehrsunfällen.

Andreas Brenck, Kay Mituschi, Martin Winter

Verkehrspolitik als Politik des Sozialen

Verkehr und Daseinsvorsorge

Verkehr und Daseinsvorsorge werden in der politischen Diskussion Deutschlands seit 1938 in Zusammenhang gebracht. In diesem Jahr veröffentlichte der Staatsrechtler Ernst Forsthoff eine Schrift mit dem Titel „Die Verwaltung als Leistungsträger“, in der er den Begriff Daseinsvorsorge begründete, als Konzept ausformulierte und das Personenbeförderungsgesetz (PBefG) als dessen Ausdruck interpretierte. Bevor im Folgenden die verschiedenen Aspekte des Verhältnisses beider Phänomene erörtert werden, muss zunächst einmal geklärt werden, worum es sich beim eigentümlichen Begriff der Daseinsvorsorge handelt.

Martin Gegner
Öffentlicher Verkehr und Gemeinwirtschaftlichkeit

Als öffentlichen Verkehr (ÖV) bezeichnet man Verkehrsdienstleistungen, die für jedermann zugänglich sind, insbesondere die des öffentlichen Gütertransports und der öffentlichen Personenbeförderung. Die Merkmale des ÖV sind neben dieser allgemeinen Zugänglichkeit (Beförderungsbzw. Transportpflicht) die Ausführung durch spezielle, eventuell konzessionierte Verkehrsunternehmen sowie die Fixierung von Beförderungsbedingungen und -preisen in publizierter Form (Fahrplan- und Tarifpflicht). Öffentliche Verkehrsunternehmen sind Teil des ÖV. Davon zu unterscheiden sind die öffentlichen Verkehrsverwaltungen, die entweder als Ordnungsverwaltungen (Verkehrsaufsichtsbehörden) wie die Verkehrspolizei oder als Leistungsverwaltungen (Verkehrsinfrastrukturbetriebe) wie die Straßen- und Wasserbauverwaltungen auftreten (vgl.

Eiermann/Oettle 1986

). Die verkehrliche Infrastruktur wird sowohl von Verwaltungen (Straßen- und Binnenwasserstraßen) als auch von Unternehmen (Binnen-, See- und Lufthäfen) bereitgestellt. Öffentliche Transportbetriebe oder kombinierte Beförderungs- und Infrastrukturbetriebe sind demgegenüber fast ausschließlich als Unternehmen tätig (Eisenbahnverkehr, ÖPNV, Linienluftverkehr, Hafenwirtschaft). Private Verkehrsunternehmen sind ebenfalls Teil des ÖV. Sie werden unmittelbar beteiligt, indem sie Konzessionen für öffentliche Liniendienste übernehmen. Sie werden mittelbar integriert, indem sie Auftragnehmer von öffentlichen Verkehrsunternehmen sind, etwa im ÖPNV oder bei der Sammlung und Verteilung von Stückgutfracht der Eisenbahn.

Gerold Ambrosius
Die sozialen Kosten des Verkehrs

Ziele der vor zehn Jahren ins Leben gerufenen Mobilitätsforschungsinitiative waren, die individuelle Mobilität dauerhaft zu erhalten und zugleich die unerwünschten Folgen des Verkehrs spürbar zu reduzieren (vgl.

Hautzinger/Knie/Wermuth 1997

; vgl. auch Knie in Kap. I dieses Bandes). Dabei wurde an drei Punkten angesetzt: der Vermeidung von unnötigem Verkehr, der Effizienzsteigerung bei der Verkehrsabwicklung und der Reduzierung unerwünschter Verkehrsfolgen. Ersichtlich ist, dass sich die Ansätze überschneiden, denn wenn es gelungen wäre, die nicht gewünschten Effekte auf ein akzeptables Maß zu senken, bräuchte man kaum noch darüber nachzudenken, was eigentlich „unnötiger“ Verkehr ist, zumal als explizites Ziel formuliert worden war, die individuelle Mobilität zu erhalten, also nicht vorzuschreiben, welche Wege nötig sind und welche nicht. Da indessen ein spürbarer Wechsel weg vom Pkw hin zum öffentlichen Verkehrsmittel und zur unmotorisierten Fortbewegung nicht stattgefunden hat, sind auch die unerwünschten Folgen nicht verschwunden.

Antje Flade
Verkehrsinfrastrukturpolitik in der schrumpfenden Gesellschaft

Moderne kapitalistische Gesellschaften sind Wachstumsgesellschaften. Gerät die wirtschaftliche Konjunktur ins Stocken, werden regelmäßig Krisenszenarien entwickelt. Die nächste Eskalationsstufe sind Schrumpfungsprozesse. Droht eine Rezession oder tritt sie gar ein, breitet sich schnell eine Untergangsrhetorik aus, die ihrerseits auf dem Wege einer Selffullfilling Prophecy reale Stimmungen und Entscheidungen beeinflussen kann. Dabei ist

Schrumpfen

auch in Deutschland keineswegs ein neues Phänomen; unter dem Etikett des Strukturwandels waren seit Ende der 1960er Jahre der Verlust von Arbeitsplätzen in altindustriellen Sektoren wie Kohle und Stahl und der Aufbau neuer Wirtschaftsstrukturen in den so genannten High-Tech-Branchen und in den Dienstleistungen zu beobachten (vgl.

Hamm/Wienert 1990

). Auch in der Stadtsoziologie sind die Probleme „schrumpfender Städte“ schon in den 1970er und 1980er Jahren aufgeworfen worden (vgl.

Göb 1977

;

Häußermann/Siebel 1988

). Was ist so beunruhigend an den Schrumpfungs- und Wachstumsperspektiven in Deutschland zu Beginn des 21. Jahrhunderts und welche Auswirkungen auf den Verkehr und auf die Verkehrsinfrastruktur sind insbesondere vom demografischen Wandel zu erwarten?

Weert Canzler
Raumzeitpolitik

Wir befinden uns in Zeiten weit reichender räumlicher Veränderungen, die im Wesentlichen durch den wirtschaftlichen Strukturwandel und die ihm zugrunde liegenden technischen Entwicklungen ausgelöst sind. Diese ökonomische Umgestaltung geht damit einher, dass sich wirtschaftliche Aktivitäten im Raum anders verteilen, was wiederum auf die spezifische Streuung der ökonomischen Akteure rückwirkt. Mit den Folgen dieses komplexen Prozesses auf die Funktionsweise der Wirtschaft beschäftigt sich traditionell die Raumforschung in ihren unterschiedlichen Facetten.

Dietrich Henckel
Mobilität im Alltag — Alltagsmobilität

Im Vordergrund eines Handbuchs zur Verkehrspolitik stehen die politischen Akteure, ihre Motive und Ziele, ihre Instrumente und Handlungen bei der Gestaltung des Verkehrsgeschehens. Der folgende Beitrag wechselt die Perspektive: Er betrachtet das „Objekt“ dieser Politik als eigenwilliges Subjekt gesellschaftlicher Praxis, in die die politischen Akteure gezielt eingreifen (wollen). Vermutlich sind in der Verkehrspolitik „Steuerungsillusionen“ verbreiteter als in anderen Politikfeldern, weil in der Vergangenheit — in der Eisenbahnzeit — der Staat weitgehend über die Verkehrsmittel und -wege verfügte, d.h. die gesellschaftlichen Gegebenheiten in von ihm bestimmte Bahnen lenken konnte. Mit dem Übergang zum „motorisierten Individualverkehr“ hat sich das jedoch grundlegend geändert. Jetzt ergeben sich als Resultanten aus dem massenhaften Verkehrshandeln Realitäten, mit denen sich staatliche Politik „herumschlagen“ muss. Der folgende Beitrag beschäftigt sich mit der Eigendynamik sozialer Praxis, mit Mobilitätsbedürfnissen und Verkehrshandeln unterschiedlicher Akteure in verschiedenen Konstellationen des Alltags.

Wolf Rosenbaum

Verkehrspolitik als Technologiepolitik

Verkehrstechnik und Gesellschaft

Um das Verhältnis von Technik und Verkehr zu begreifen, ist es aus sozialwissenschaftlicher Perspektive entscheidend, die wechselseitige Bedingtheit dieser beiden Bereiche in den Blick zu nehmen. Die sozialwissenschaftliche Technikforschung leistet hier zweierlei. Zum einen zeigt sie, wie tiefgreifend gesellschaftliche Realität gerade in der Moderne durch die technische Entwicklung und insbesondere durch die rasante Entwicklung der Verkehrstechnik geprägt wurde. Zum anderen verdeutlicht sie umgekehrt, dass (Verkehrs-)Technik in sozialen Aushandlungsprozessen erzeugt wird, und bis in die Details der Konstruktion durch soziale Faktoren geformt ist. Technik erscheint damit nicht als gesellschaftsexternes Element, das nach eigenständigen Fortschrittsgesetzmäßigkeiten evoluiert und die Gesellschaft mit neuen Möglichkeiten und Problemen konfrontiert. Statt dessen konzipiert die sozialwissenschaftliche Perspektive Technik als sozialen Prozess (vgl.

Weingart 1989

) bzw. als soziale Institution, die in einem Kraftfeld gesellschaftlicher Interessen „gemacht“ bzw. ge-formt wird.

Ulrich Kirchner, Lisa Ruhrort
Forschungsförderung, Verkehrspolitik und Legitimität

Verkehrspolitik wird oft als ein Politikfeld beschrieben, in dem die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit besonders groß ist (vgl.

Schöller 2006

). Ob sie wirklich größer ist als in anderen Politikbereichen oder nur aufgrund der Allgegenwart der Verkehrsproblematik im Alltag stärker zu Tage tritt, sei dahingestellt. Dass eine Differenz besteht, kann jedoch kaum bestritten werden. Ziel dieses Artikels ist es, am Beispiel der Förderung von Verkehrs- und Mobilitätsforschung aufzuzeigen, dass einer der Gründe für diese Abweichung darin zu suchen ist, dass die daran beteiligten Organisationen je nach Typus nach unterschiedlichen Logiken agieren. Diese (Teil-)Rationalitäten, so die These, sind ein Grund dafür, dass es nur selten gelingt, Forschungsprojekte von der Formulierung verkehrspolitischer Ziele, ihrer Umsetzung in Förderprogramme bis hin zu den entsprechenden Forschungsergebnissen linear zu steuern. An Forschungsprojekten beteiligte Organisationen sind bestrebt, die dort geltenden (Spiel-)Regeln ihren Interessen entsprechend auszulegen. Die daraus resultierenden Anwendungen der Regeln sind nicht zwingend konform mit den Ideen, aufgrund derer sie formuliert wurden.

Uli Meyer
Ingenieurswissenschaft und Verkehrstechnologie

Aus dem Dunkel der Geschichte tauchen einige Verkehrstechnologien auf, die aus heutiger Sicht den Ingenieurleistungen zuzurechnen wären: Rad, Boote, Informationstechnologien und -techniken gehören dazu. In der Natur findet man zwar die kreisrunde Form schon bei den Einzellern, wie den Rädertierchen, nirgends aber als Rad im Sinne technischer Verkehrsmittel. Keinem Lebewesen sind in der Entwicklungsgeschichte Räder „angewachsen“. Der Grund mag wohl darin liegen, dass die Evolution das Rad milliardenfach erfunden, aber immer wieder verworfen hat, weil es zu ineffizient ist und zur Erfüllung sinnvoller Funktionen eine Reihe von Zusatzelementen wie Lenkung und Bremsen braucht und eine viel zu große Oberfläche für nur eine einzige Funktion benötigt, die sich natürliche Systeme nicht leisten können. Zur Technologie des Rades braucht man auch die der Fahrbahn. Dieser Aufwand hat dazu geführt, dass in bestimmten Gebieten, wie in Ägypten und Mesopotamien nach Anfängen einer „Radkultur“ diese aufgegeben und von der der Lasttiere wieder abgelöst wurde. Bei diesen entfällt der Ballast des Rades und des Wagens, ebenso wie die Notwendigkeit geeigneter befestigter Fahrbahnen in einem Gelände, das sich nicht besonders für das Rad eignet, weil der Boden zu weich, zu uneben oder zu steil ist. Diese „solarbetriebene“ Transporttechnik hat sich bis heute nicht nur im Himalaja, sondern auch in manchen Gebieten Afrikas und des arabischen Raumes, aber auch in Indien erfolgreich gehalten. Beim Lasttier erkennt man die Kunst des Handwerks noch leichter als beim zweioder vierrädrigen Wagen, der von Pferden, Rindern oder Kamelen gezogen wurde und immer noch wird. Der Steigbügel, von Reitervölkern der asiatischen Steppe entwickelt, tauchte in China einige Jahrhunderte nach Beginn unserer Zeitrechnung auf und viel später erst in Europa, eine technische Innovation, die insbesondere bei den damaligen kriegerischen Auseinandersetzungen erhebliche „verkehrliche Vorteile“ besaß.

Hermann Knoflacher
Verkehrstelematik

Verkehrsabläufe werden als Systeme beschrieben, die von nicht vorhersehbaren Zufallsereignissen geprägt sind und nur in begrenztem Umfang gelenkt werden können. Steuerungs- und Flexibilitätsansprüche stehen im Zielkonflikt zwischen Sicherheit und Risiko sowie optimierter Massenbewältigung und individueller Schnelligkeit. Je nach Sicherheitssollwert und verfügbarer Technik werden die Betriebssysteme solcher Verkehrsvorgänge bisher zentral gesteuert (Bahn- und Luftverkehr) oder in einer Mischung aus zentraler Steuerung und dezentraler Selbstregelung betrieben (Schiffs- und Straßenverkehr).

Fritjof Mietsch
Technology Forcing — Verkehrspolitik und Umweltinnovation

Im November 2005 postulierte der deutsche EU-Industriekommissar Günther Verheugen in einem Interview seinen Anspruch an die Automobilindustrie, aber auch an die europäische Verkehrs- und Industriepolitik, wie folgt: „(Europäische) Autos bleiben (...) nur wettbewerbsfähig, wenn sie auch ökologisch an der Spitze sind“ (zitiert in:

Haschek 2005: 179f.

). Wenige Monate vorher kam der von der deutschen Bundesregierung eingesetzte Sachverständigenrat für Umweltfragen (

SRU 2005a

) im Rahmen seines Sondergutachtens „Umwelt und Straßenverkehr“ ebenfalls zur Erkenntnis, dass eine umweltpolitische Innovationsstrategie in Zukunft für die Konkurrenzfähigkeit der deutschen Automobilindustrie von strategischer Bedeutung sein werde. Angesichts drängender Umwelt- und zunehmender Energieversorgungsprobleme sowie der Relevanz, die das Thema Umwelt im Innovationswettbewerb der weltweiten Automobilindustrie inzwischen gewonnen hat, muss unter Verkehrspolitik heute mehr verstanden werden als die Regulierung von Verkehrsströmen und der Ausbau der Verkehrsinfrastruktur. Neben die originären Aufgaben treten heute notwendigerweise umweit- und energiepolitische aber eben auch technologie- und innovationspolitische Ziele, die es zu integrieren gilt.

Marc Weider

Verkehrspolitik als Mobilitätsforschung

Verkehrsgeneseforschung

Die Personenverkehrsentwicklung der vergangenen Jahrzehnte in Deutschland lässt sich sehr grob zusammengefasst — durch fünf Merkmale charakterisieren (vgl. für einen Überblick

Schmitz 2001

): erstens ein relativ konstantes Verkehrsaufkommen pro Person und Zeiteinheit, zweitens ein relativ konstantes Reisezeitbudget pro Person und Zeiteinheit, drittens eine Verlagerung der Verkehrsmittelnutzung zum motorisierten Individualverkehr (MIV) auf Kosten der Fußwege, viertens eine Ausdehnung der Aktionsräume und ein Wachstum der Distanzen sowie fünftens zunehmende Reisegeschwindigkeiten. In der Prognose für den geltenden Bundesverkehrswegeplan 2003 wird bis 2015 im Wesentlichen mit einer Fortsetzung der bisherigen Verkehrsentwicklung gerechnet (vgl.

Gresser et al. 2001

). Drei Szenarien für verschiedene verkehrspolitische Rahmenbedingungen ergeben zwar deutliche Unterschiede in der Modal-Split-Verteilung, der größte Teil des Zuwachses im Verkehrsaufkommen und -aufwand entfällt jedoch in allen Szenarien auf den MIV. Zudem wird für die Luftfahrt eine Verdoppelung bis 2015 prognostiziert, so dass insgesamt mit einer Verschärfung der Situation zu rechnen ist.

Joachim Scheiner
Verkehrspolitik und Mobilitätsforschung — die angebotsorientierte Perspektive

Verkehrspolitik und Mobilitätsforschung stehen in einem engen Wechselverhältnis. So setzt einerseits eine zielgenaue und effiziente Verkehrspolitik belastbare Ergebnisse der Mobilitätsforschung zu Verursachungen, Abläufen und Auswirkungen von Verkehr wie auch zur Wirksamkeit von verkehrspolitischen Maßnahmen voraus. Andererseits ermöglicht Verkehrspolitik neue Erkenntnisse der Mobilitätsforschung, wenn innovative Handlungskonzepte auf Wirkungen untersucht werden.

Klaus J. Beckmann
Mobilitätsforschung in nachfrageorientierter Perspektive

In ihren Anfängen befasste sich die Verkehrsforschung im Wesentlichen mit der Abschätzung der zukünftigen Verkehrsnachfrage und der Bereitstellung der dafür notwendigen Infrastruktur (vgl. Scheiner in Kap. II.6 dieses Bandes). Spätestens mit dem Beginn der 1970er Jahre traten jedoch neue Probleme in den Blickpunkt von Verkehrspolitik und — planung. Die Kosten für die Erweiterungen der Straßeninfrastruktur, die der rapide Anstieg der Automotorisierung der 1950 und 1960er Jahre erforderte, und die durch den Ölpreisschock der 1970er Jahre gewonnene Einsicht, dass die Energie-Ressourcen endlich sind, führten zu einer neuen Problemwahrnehmung. Erste Grenzen des Wachstums für den Automobilverkehr wurden erkannt. Hierdurch gewann die Frage nach einer größeren Effizienz verkehrlicher Maßnahmen stärkeres Gewicht. Aus planerischen Gründen wollte man nun genauer wissen, welche Personen zu welchem Zweck mit welchem Verkehrsmittel unterwegs sind. Somit trat eine stärkere Nachfrageorientierung in den Blickpunkt.

Sylvia Harms, Martin Lanzendorf, Jan Prillwitz
Mobilitätsstile

Der Beitrag zeichnet im ersten Teil nach, welche Schritte der Komplexitätssteigerung die Forschung über die Verkehrserzeugung gegangen war, bevor sie mit deterministischen Modellen an ihre Grenzen stieß. Danach wird — als Kehrseite der Medaille — dargestellt, zu welchen Ergebnissen jene Disziplinen kamen, die die Gründe und Motive des Verkehrsverhaltens untersuchen. Dabei geht es zum einen um die auf der Mikroebene liegenden Ergebnisse der Psychologie, aber auch um Makromodelle der Gesellschaftstheorie. Das Konzept der Mobilitätsstile wird als eines vorgestellt, das die Lücke zwischen Mikro- und Makromodellen sowie subjektloser und subjektivistischer Mobilitätsforschung schließt. Im Schlussteil wird auf noch unbeantwortete Fragestellungen sowie auf die praktische Verwendung der Mobilitätsstilforschung eingegangen.

Konrad Götz

Verkehrspolitik als Zukunftspolitik

Frontmatter
Verkehrtes Wachstum

Wirtschaftliches Wachstum ist bislang in aller Regel mit einem überproportional steigenden Verkehrsaufkommen von Personen und Gütern verbunden. Mit Blick zurück auf dessen Entwicklung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts schreibt das Unweitbundesamt (UBA), dass „der Verkehr (...) deutlich schneller gewachsen (ist) als die Wirtschaftsleistung. Allein der Personenverkehrsaufwand (ist) in Deutschland, gemessen in Personenkilometern (Pkm), seit 1960 um mehr als das 3,5-fache gestiegen. Der Autoverkehr trug überdurchschnittlich zu dieser Entwicklung bei. Heute werden fast 80 Prozent aller Wege mit dem Auto zurückgelegt. Den größten Anteil am gesamten Personenverkehrsaufwand hat mit fast 50 Prozent der Freizeit- und Urlaubsverkehr, ein knappes Drittel entfällt auf den Berufs- und Einkaufsverkehr und immerhin knapp 18 Prozent auf den Geschäfts- und Dienstreiseverkehr. (...) Ähnlich dynamisch sah die Entwicklung des Güterverkehrs aus. Zwischen 1960 und 2001 erhöhte sich der gesamte Güterverkehrsaufwand um knapp 360 Prozent, der Straßengüterverkehr nahm sogar um ca. 770 Prozent zu. So stieg der Anteil des Straßengüterverkehrs am gesamten Güterverkehrsaufwand von knapp einem Drittel auf fast 70 Prozent“ (

UBA 2005: 7

).

Elmar Altvater
Beschleunigung — Entschleunigung

Bis vor wenigen Generationen war die

Geschwindigkeit des Transports von Nachrichten, Gütern und Menschen

durch die natürliche Physiologie von Tier und Mensch begrenzt. Heute sind wir bei der Übertragung von Informationen bereits bei der

Geschwindigkeit des Lichts

angelangt, bei der Beförderung von Materie gibt es noch Nachholbedarf, aber die

Geschwindigkeit des Schalls

ist längst um ein Vielfaches überschritten. Raketen der neuesten Generation bewegen sich mit über 10.000 Kilometer in der Stunde, seriengefertigte Automobile haben die 400 Stundenkilometergrenze erreicht. Und der

Kampf gegen die Zeit

geht weiter: Das Massachusetts Institut of Technology entwirft einen Transrapid, der mit Tempo 7.400 Stundenkilometer in einer Vakuum-Röhre unter dem Atlantik New York mit London verbindet. Und die amerikanische Luftwaffe plant den Bau von Flugzeugen, die innerhalb von zwei Stunden eine Ladung von sechs Tonnen Bomben an jeden Ort der Erde transportieren können. Erstes Fazit: Vergangenheit und Zukunft des Verkehrs können offenbar mit Fug und Recht als gigantische Beschleunigungsgeschichte erzählt werden.

Fritz Reheis
Globaler Verkehr — Flugverkehr

Flughäfen sind faszinierende doch für die sozialwissenschaftliche Mobilitätsforschung fast unergründete Gegenstände. Dies ist umso erstaunlicher, als die Drehkreuze des internationalen Luftverkehrs eine fundamentale Rolle bei der Globalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft spielen. Der französische Raumtheoretiker Henri Lefebvre erkannte diese Tatsache bereits in den 1970er Jahren. In seinem grundlegenden Werk „La Production de l’Espace“ (englisch: The Production of Space) spricht er von der „Geopolitik des Luftverkehrs“ (

Lefebvre 2000: 365

) und verweist damit auf die strukturbildende Kraft globaler räumlicher Mobilitäten. Denn tatsächlich beschäftigte diese Idee von Beginn an Flugzeugbauer und die Airline-Industrie; die Topografie ihrer Netze und Knoten spiegelt eine weltumfassende Raumkonzeption wider: „Die Marketingexperten von Lockheed mögen bei der Benennung(des Flugzeuges Super Constellation) (...) an ein Netz von Fluglinien gedacht haben, das, ähnlich wie ein Sternenbild den Himmel, die Erde überspannt und so einen eigenen Raum definiert. Es ist also ein Flugzeugname, der zugleich die Funktion der Luftfahrt bezeichnet, neue Konstellationen herzustellen“ (

Asendorf 1997: V

).

Sven Kesselring
Nachhaltige Mobilität

Nachhaltige Mobilität (bzw. nachhaltiger Verkehr) ist ein junges Konzept. Der Begriff tauchte erstmalig zu Beginn der 1990er Jahre auf. Nach der Verabschiedung der „Agenda 21“ auf der UN-Weltkonferenz „Umwelt und Entwicklung“ in Rio wurde der Begriff sehr rasch rezipierunfand in kurzer Zeit breite Verwendung. Einen Anhaltspunkt bieten dafür die Nennungen in Google: Dort fanden sich Mitte Januar 2006 für „nachhaltige Mobilität“ ca. 450.000 Einträge (englisch ca. 4,4 Millionen) und für „nachhaltiger Verkehr“ ca. 215.000 (englisch ca. 20,3 Millionen). Sowohl im Deutschen wie im Englischen haben sich diese Zahlen bis Ende Juli 2006 in etwa verdoppelt. Selbst wenn man den hohen Anteil von Mehrfachnennungen abzieht, belegt dies eine für die Kürze der Zeit rasante und anhaltende Verbreitung.

Martin Held
Backmatter
Metadata
Title
Handbuch Verkehrspolitik
Editors
Oliver Schöller
Weert Canzler
Andreas Knie
Copyright Year
2007
Publisher
VS Verlag für Sozialwissenschaften
Electronic ISBN
978-3-531-90337-8
Print ISBN
978-3-531-14548-8
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-531-90337-8